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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

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Manuela Kuck

Freispruch

Roman

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Für meine Mutter

Jemandem seinen Willen aufzuzwingen ist eine Demonstration gewöhnlicher Stärke – ihn sich selbst aufzuzwingen ist ein Beweis wahrer Macht.
 
Laotse, Tao te king

Shiho Nage

Verbeugung und Aufbruch

1

Lena schloss die Akte und ließ die Hände einen Moment auf dem roten Deckel liegen. Dann stieß sie abrupt den Stuhl zurück und begann ihren Schreibtisch aufzuräumen. Es war noch nicht mal halb sechs, aber die Zeiten, in denen sie bis in die Nacht mit brisanten Fällen beschäftigt gewesen und zu Arbeitsessen in angesagten Lokalen eingeladen worden war, gehörten längst der Vergangenheit an.

Sie stellte ihr Geschirr auf ein Tablett und schlüpfte in ihre dunkelblaue Leinenjacke. Die Dielen knarrten, als sie auf den Flur trat. Aus Reiner Lindhofs Büro drang kein Ton, aber sie wusste, dass der Kanzleichef in einer Besprechung saß, und in drei, vier anderen Büros wurde auch noch gearbeitet. Lena hängte sich ihre Ledertasche über die Schulter und brachte das Tablett in die Küche. Selbst dieser Raum war elegant und geschmackvoll eingerichtet. Natürlich gab es kein Allerweltsgeschirr, sondern nur feines Porzellan von Villeroy & Boch.

Höchste Zeit, der noblen Anwaltskanzlei in Berlin-Mitte endgültig adieu zu sagen, um nach einem neuen Job in einer bescheideneren Gegend Ausschau zu halten, dachte Lena, während sie ihren Blick schweifen ließ und darauf wartete, dass sich Melancholie einstellte. Oder Bitterkeit. Oder beides. Zur Abwechslung könnte sie mal kleine Gauner vertreten, sich mit Betrügereien auf schnell durchschaubarem Niveau oder mit Schlägereien beschäftigen. Beispielsweise. Bislang hatte sie jedoch noch nicht den Mut gefunden, die Konsequenzen zu ziehen.

Der Fall, den ihr Reiner Lindhof kürzlich übertragen hatte, war eine glasklare Angelegenheit. Für die Mandantin war nichts anderes als eine lange Gefängnisstrafe herauszuholen. Vielleicht war das der eigentliche Grund, weshalb Lindhof sie damit betraut hatte. Es konnte nichts schiefgehen. Plötzlich stellte es sich ein – das Gefühl von Bitterkeit.

Lena verließ die Kanzlei durch den hinteren Ausgang und zog die Tür leise hinter sich zu. Sie stieg in ihren schwarzen Mini, den sie in einem Parkhaus in einer Seitenstraße abgestellt hatte, und kurbelte das Fenster herunter. Es war ungewöhnlich warm für einen Tag mitten im März, fast herrschten frühsommerliche Temperaturen. Die Bluse klebte ihr am Rücken, und ihre kurzen dunklen Haare waren verschwitzt und völlig aus der Form. Einen Moment lang überlegte sie, irgendwo einen Cappuccino zu trinken und Touristinnen und Touristen zu beobachten.

Lieber doch eine Dusche und dann einen Kaffee am See, in der Stille, dachte Lena, als eine Gruppe junger Leute mit Rucksäcken und Fotoapparaten lautstark an ihrem Wagen vorbeischlenderte. Sie fuhr sich kurz mit der Zungenspitze über die Oberlippe und startete den Motor.

Seit sie ihre Stadtwohnung aufgegeben hatte und in ihr Wochenendhaus direkt am Göttinsee gezogen war, der knapp fünfzig Kilometer südwestlich von Berlin lag, benötigte sie für den Heimweg fast eine Dreiviertelstunde – aber nur wenn es keinen Stau auf der Autobahn gab. Die letzten zwei Kilometer führten über eine schmale Landstraße durch ein Wäldchen und schließlich an einem großen landwirtschaftlichen Betrieb vorbei auf einem von Äckern, Gewächshäusern, Koppeln und Wiesen gesäumten Feldweg bis hinunter zum See.

Das alte Bootshaus hatte ursprünglich dem Landwirt gehört und sollte abgerissen werden, weil es baufällig war und niemand sich darum kümmern mochte. Lena war darauf gestoßen, als sie einige Jahre zuvor den Sohn der Familie in einer juristischen Angelegenheit vertreten und es bei einem Spaziergang über das weitläufige Gelände hinunter zum See entdeckt und sich sofort darin verliebt hatte. Später – nach dem glimpflichen Ausgang des Prozesses – war es ihr gelungen, den Landwirt vom Erhalt des Gebäudes zu überzeugen. Sie hatte es mitsamt eines sechshundert Quadratmeter großen Grundstückes gekauft und zu einer kleinen Ferienhaus-Idylle ausbauen lassen. Unter der Woche und insbesondere während laufender Prozesse war Lena meist in der Stadt geblieben, ansonsten hatte sie jede freie Minute im Bootshaus verbracht – allein oder mit Maika, ihrer damaligen Geliebten, und hin und wieder hatte sie Johanna, ihre Großmutter, zu sich geholt. Damals war Lena gut im Geschäft gewesen, und nichts hatte darauf hingedeutet, dass es einmal anders werden könnte. Bis vor drei Jahren.

Als sie endlich begriffen hatte, dass der Alptraum Wirklichkeit war und sie nicht aufwachen und sich in ihrer heilen Welt wiederfinden würde, hatte sie sich entschlossen, ihre Penthousewohnung in bevorzugter Innenstadtlage zu verkaufen, den restlichen Kredit abzulösen, um wenigstens diese Schuld loszusein, und ganz ins Bootshaus zu ziehen. Das war vor anderthalb Jahren gewesen, und sie hatte diese Entscheidung noch nicht eine Minute bereut. Es war ein einfaches Leben hier draußen und doch der pure Luxus, wenn man die Abgeschiedenheit und Naturverbundenheit liebte.

Lena fuhr langsam den schmalen Kiesweg hinunter. Das holzverschalte Bootshaus war von einer Eibenhecke und einer niedrigen Mauer aus Feldsteinen umgeben. Auf beiden Seiten war es begrenzt von zwei Weiden; auf der rückwärtigen Seite befand sich der Garten mit direktem Zugang zum See, dessen Ufer durch dichtes Schilf geschützt war. Weit abgelegen von Straßen und Parkmöglichkeiten und umgeben von Feldern und Koppeln hatte sie ihn meist für sich allein.

Lena saß oft auf dem kleinen Bootssteg und spähte aufs Wasser hinaus oder paddelte im Kanu zum anderen Ufer hinüber, wo fette Kühe weideten und Pferde grasten. An heißen Sommertagen ging sie jeden Morgen schwimmen. Bei strengem Frost und Schneefall war es so still, dass ein unter der Schneelast brechender Ast ein fürchterliches Getöse erzeugte.

Lena parkte direkt vor dem Haus neben einer alten offenen Kutsche, einem schwarzen Einspänner, der beinahe auf dem Müll gelandet wäre. Maika hatte das verhindert und das historische Gefährt eigenhändig aufgearbeitet. Das war ihr Geschenk zur Fertigstellung des Hauses gewesen – vor einer halben Ewigkeit in glücklicheren Tagen. Am selben Abend hatten sie auf dem Bootssteg Tai sabaki geübt – die Grundbewegung im Aikido, bei der man einen Schritt nach vorn macht, sich um die eigene Achse dreht und dabei mit dem anderen Fuß einen Schritt nach hinten setzt, um sich dann erneut mit leichtem Schwung aus der Hüfte nach vorn zu drehen. Die Arme werden locker mitgeführt, wobei jeweils eine Hand im Wechsel zu Beginn und am Schluss der Bewegung ausgestreckt nach vorn zeigt, um einem imaginären Partner ein deutliches Halt zu signalisieren; die Atmung fließt gleichmäßig durch den Körper, und das Zentrum ist hellwach. Wie hatte der Meister immer so schön gesagt: Einen Schritt vor, Drehung, einen Schritt zurück, das kann man lernen, wenn man sich konzentriert, atmet und zulässt, dass der Körper sich natürlich bewegt. Das klang so einfach, so banal, und doch konnten Jahre vergehen, bis die Bewegung flüssig und harmonisch war.

Lena schüttelte die Erinnerung ab. So eindringlich die Bilder auch waren, sie ließen sich nicht wiederbeleben. Manchmal, wenn sie nicht schlafen konnte und es warm genug war, schlich sie im Aikidoanzug zum Bootssteg hinunter, um im Licht des Mondes oder einer kleinen Petroleumlampe ihre Übungen zu machen. Die Einsamkeit war anregend und schmerzhaft zugleich. Sie trug keinen Hakama, seit der Meister ihr den ersten Dan aberkannt und sie aus dem Dojo ausgeschlossen hatte, sondern nur ihren weißen Anzug und einen weißen Gürtel. Sie würde es nicht wagen, seine Entscheidung zu umgehen, indem sie sich einen anderen Lehrer, ein anderes Dojo suchte. Für sie gab es nur einen Meister: Simon. Von ihm hatte sie alles gelernt, und das umfasste weit mehr als die körperlichen Fähigkeiten, die beim Erlernen einer Kampfkunstform vermittelt werden.

Bevor sie seine Schülerin geworden war, hatte sie ein unbeständiges Leben geführt, das von Angst, Einsamkeit und wirren Träumen geprägt gewesen war. Ihre erstaunliche Fähigkeit, Menschen innerhalb kürzester Zeit einschätzen und hinter ihren Worten die Wahrheit erkennen zu können, hatte sie schon als Kind und Jugendliche zur Außenseiterin gemacht, und je älter sie wurde, umso mehr ängstigte sie sich davor. Simon schließlich hatte ihr einen Weg gezeigt, sich von ihren Selbstzweifeln zu befreien und ihre besondere Begabung nicht nur anzunehmen, sondern sinnvoll einzusetzen. Und Lena, die junge Anwältin mit der ausgeprägten Intuition, hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als nach jahrelangem Erfolg bei einem schwierigen Fall alle Regeln zu verletzen, die zu befolgen sie sich verpflichtet hatte. Damit hatte sie Simon gar keine andere Wahl gelassen, als ihr die Tür zu weisen. Danach war nichts mehr gewesen wie zuvor.

Immerhin – auf sich allein gestellt konnte sie Atem- und Dehnübungen absolvieren und Tai sabaki, Schwertkatas oder auch Blindübungen der Grundtechniken durchführen. Das war verschwindend wenig im Vergleich zum gemeinsamen Lernen mit anderen Schülerinnen und Schülern, während Simon mit unbewegter Miene zusah und alles registrierte, aber es war besser als gar nichts. Am Schluss setzte sie sich meist an den Rand des Stegs und sah hinaus auf den See. Frieden fand sie nicht. Nicht mehr. Vielleicht nie wieder. Also musste sie lernen, den Frieden nicht mehr zu suchen.

Lena schloss die massive Buchentür auf und atmete tief durch. Im Erdgeschoss führte ein schmaler Flur direkt in den Wohnraum, von dem Küche und Hauswirtschaftsraum sowie ein Bad abgingen; unter dem ausgebauten Dach befanden sich zwei weitere Zimmer und eine Kleiderkammer. Die Wohnräume waren mit goldbraun glänzenden Dielen ausgelegt, die sie eigenhändig abgeschliffen und geölt hatte; die Wände waren rau verputzt und weiß gestrichen. Oben heizte sie mit einem Allesbrenner, unten sorgte ein Kamin für Wärme.

Lena streifte ihre Schuhe ab und ging ins Bad. Sie hörte das Telefon im Wohnzimmer klingeln, als sie gerade aus der Dusche trat. Mit fahrigen Händen schlang sie sich ein Handtuch um die Hüften und stieß die Badtür auf. In dem Moment verstummte das Klingeln. Achselzuckend ging sie an dem schweren Esstisch vorbei in die Küche, die vom restlichen Raum nur durch ein deckenhohes Regal und einen offenen Rundbogen abgeteilt war. Sie setzte Wasser auf und öffnete die Tür zum Garten, bevor sie nach oben ging und sich anzog. Als sie in die Küche zurückkam, schlüpfte Pepe gerade ins Haus. Mit leisem vorwurfsvollem Maunzen sprang er auf die Arbeitsfläche neben der Spüle und rieb seinen großen rotbraunen Kopf mit den schwarzen Ohrspitzen an ihrem Arm.

Der Kater war ihr vor einigen Jahren zugelaufen, und obwohl Lena ihm keinerlei Hoffnungen auf ein beständiges Zuhause gemacht hatte, war er nicht davon abzubringen gewesen, das Bootshaus fortan mit ihr zu teilen – wenn er nicht gerade auf der Pirsch war. Er hatte verwildert und hungrig ausgesehen und doch völlig unerschütterlich gewirkt in seinem Begehren, nicht nur hin und wieder einen vollen Futternapf von ihr zu bekommen und ein Dach über dem Kopf, sondern Lena nahe zu sein. Sie hatte versucht, ihm klarzumachen, dass er es besser haben könnte – bei jemandem, der häufiger zu Hause war, der weniger Vergangenheit mit sich herumschleppte und keine Geschichten, deren Echo lautstark nachhallte. Es hatte ihn nicht interessiert. Mit seinen grünen Augen hatte er sie kurz angeblickt, leicht amüsiert, wie ihr schien, dann war er aufs Sofa gesprungen und hatte sich auf dem blauen Kissen zusammengerollt.

»Hunger?«, fragte sie nun und füllte einen Napf mit Thunfisch und etwas Reis, den er genüsslich und mit lautem Schmatzen leerte, während sie ihren Kaffee aufgoss.

Pepe fraß grundsätzlich kein Katzenfutter, sondern schlicht das, was bei Lena auf den Tisch kam – einschließlich Gemüse, Brot, Keksen und Joghurt. Vanillejoghurt liebte er besonders. Dass Lena nun häufiger Fisch und mageres Geflügel kaufte und nur zurückhaltend würzte, war natürlich ebensowenig ein Zufall wie ihr Bemühen, regelmäßig zu kochen und auf ihre Ernährung zu achten.

Das Telefon klingelte erneut, als sie den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte, und diesmal war sie schnell genug.

»Ach, schön, dass ich dich erreiche«, vernahm sie die sonore Stimme ihres Chefs, nachdem sie sich gemeldet hatte.

»Ich bin eben erst nach Hause gekommen«, sagte Lena.

Das klang fast ein wenig entschuldigend. Dabei war sie erstaunt. Reiner Lindhof rief nur äußerst selten bei ihr an. Sie ging mit dem Telefon am Ohr in die Küche zurück, gab Pepe zum Nachtisch zwei Löffel Quark und sah zu, wie er hingebungsvoll den Napf blankleckte.

»Stör ich dich?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich füttere den Kater und habe mir gerade einen Kaffee gekocht.«

»Also störe ich doch!« Reiner lachte. Er hatte ein angenehmes Lachen. Herzlich. Vertrauenerweckend. Wahrscheinlich strich er gerade mit einer Hand durch sein dünnes graubraunes Haar und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück.

Lena goss sich noch etwas heiße Milch in den Kaffee und ging ins Wohnzimmer. Vielleicht ist es jetzt soweit, dachte sie. Er wird mich zum Gespräch bitten, um das Ende einzuläuten. Stilvoll natürlich. Oder doch nicht? Früher hätte ich mir diese Frage gar nicht stellen müssen, denn ich hätte gespürt, was auf mich zukommt – erschreckend klar. Das war lange her.

»Wir haben uns vorhin nicht mehr gesehen«, fuhr Reiner einen Moment später fort. »Ich wollte dich noch fragen, was dein neuer Fall macht. Hast du die Mandantin schon gesprochen? Karin Weber heißt sie, oder?«

Lena setzte sich aufs Sofa und stellte ihre Tasse auf dem niedrigen Couchtisch ab, der mit Zeitschriften und der Post der ganzen Woche übersät war. »Ja, richtig. Ich war heute Vormittag kurz bei ihr.«

»Und?«

Sie lehnte sich zurück. Warum wollte Reiner nicht bis Montag warten, um Einzelheiten zu erfahren? Traute er ihr inzwischen so wenig zu? Pepe kam aus der Küche stolziert, blieb plötzlich mitten im Raum stehen, als wäre er zur Salzsäule erstarrt, und beäugte Lena mit gespitzten Ohren und erhobenem Schwanz. Seine Barthaare zitterten. Dann sprang er mit einem Satz auf den Tisch und von dort in die Sofaecke, wo er sich ausgiebig zu putzen begann.

»Tja, es scheint eine ziemlich eindeutige Sache zu sein«, erklärte Lena zögernd. »Jedenfalls auf den ersten Blick.«

»Das ist auch mein Eindruck«, bestätigte Reiner. »Meinst du, es sind mildernde Umstände drin?«

»Worauf sollte man die aufbauen?«, gab Lena zurück. »Nach Aktenlage scheint Karin Weber das Ganze ja wirklich geplant zu haben, obwohl sie nicht wie eine hinterhältige Mörderin auf mich wirkt, aber was sagt das schon? Backt Nusskuchen für ihre Tante, obwohl die alte Dame hochallergisch ist, sich mit ihrem Gipsbein kaum bewegen kann und zudem leicht dement ist. Klingt doch nach Absicht, oder? Die Nichte hat Schulden und schien überfordert zu sein mit den täglichen Besuchen bei ihrer anstrengenden und wohl auch streitlustigen Tante. Andererseits …«

»Ja?«

»Ach, ich weiß nicht. Sie ist völlig fertig, wirkt nahezu apathisch …«

»Vielleicht wird ihr jetzt erst klar, was sie getan hat«, mutmaßte Reiner. »Oder hat sie es bestritten?«

Lena wechselte den Hörer ans andere Ohr. »Sie hat nur gesagt, dass sie nie Nusskuchen backt und sich überhaupt nicht erklären kann, wie das passiert ist. Na, mal sehen. Ich bin ja gerade erst dabei, mich einzuarbeiten …« Sie räusperte sich kurz. »Bist du eigentlich wirklich sicher, dass ich …?«

»Aber ja. Du machst das schon«, unterbrach er sie eilig. »Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Ich könnte mir vorstellen, dass die Angelegenheit recht flott über die Bühne geht.«

Lena rief sich das Bild der unscheinbaren Frau vor Augen, wie sie mit hängenden Schultern und verschränkten Händen vor ihr gesessen hatte. Mitte vierzig, blass in jeder Hinsicht, tiefe Augenränder, dunkelblondes, strähniges halblanges Haar, eine Brille, die ihr längliches Gesicht unvorteilhaft betonte, kraftlose Stimme. Es schien ihr ziemlich egal zu sein, was mit ihr geschah. Plötzlich fiel Lena ein, worauf sie Reiner unbedingt hatte ansprechen wollen. Auf ihre Frage, wie sie denn auf die Kanzlei Lindhof und Partner gekommen sei, hatte Karin Weber seltsamerweise erstaunt reagiert und dann erklärt, dass man ihr geraten hatte, zumindest eine Pflichtverteidigung in Anspruch zu nehmen. Die Kanzlei übernahm in der Regel gar keine Pflichtfälle, es sei denn, es handelte sich um prestigeträchtige Prozesse. Und das war bei dieser Geschichte, so hässlich sie auch sein mochte, wohl kaum der Fall.

»Seit wann übernehmen wir eigentlich Pflichtfälle?«, fragte Lena, bevor Reiner das Gespräch beenden konnte.

»Habe ich das nicht gesagt? Ein Kollege aus einer anderen Kanzlei hat mich gebeten einzuspringen. Er musste kurzfristig wegen Krankheit einige Fälle abgeben. Und da dachte ich …«

»Schon verstanden.«

Einen Moment herrschte Stille. Pepe hielt mitten im Putzen inne und fixierte Lena. Ein Bein hatte er weit abgespreizt, um besser an sein Hinterteil heranzukommen.

»Du bist zu jung, um aufzugeben«, sagte Reiner schließlich.

»Das hat nichts mit dem Alter zu tun.«

»Ich finde schon. Es muss weitergehen. Und es wird Zeit, dass du wieder Tritt fasst.«

»Das hatten wir schon mal. Und wenn du dich erinnerst – dabei ist eine Menge schiefgegangen.«

»Du blockierst dich selber. Lass die alten Geschichten endlich ruhen und kümmere dich um deinen Job. Alles Weitere wird sich finden.«

Lena schwieg wieder. Gab er ihr tatsächlich noch eine Chance? Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie war damals nach dem Mick-Panter-Fall zunächst in der Versenkung verschwunden, hatte sich jedoch nach einigen Monaten entschlossen, auch auf Anraten ihrer Kanzleikollegen, wieder in den Beruf zurückzukehren. Doch alle auch nur im Ansatz heiklen Fälle, die sie übernommen hatte, waren schiefgegangen – bis Reiner gar nichts anderes übriggeblieben war, als ihr nur noch Routinevorgänge zu übertragen, bei denen nicht viel hatte passieren können. Ein anderer Chef hätte sie längst entlassen. Pepe zog das Bein ein und kümmerte sich nun um die Reinigung der Krallenzwischenräume.

»Noch Fragen?«, schob Reiner hinterher.

»Im Moment nicht.«

»Dann bin ich ja beruhigt.«

Sie wünschten sich gegenseitig noch einen schönen Abend und beendeten das Gespräch.

Später zog Lena einen Kapuzenpullover und Sportschuhe an und ging am Seeufer spazieren. Es war deutlich kühler geworden. Eine Entenfamilie zog ihre Kreise. Es roch leicht modrig. Osterfeuer, dachte Lena, nächste Woche ist Ostern. Als Kind hatte sie dieses Fest besonders geliebt. Sie waren meist alle zusammen von Nikolassee nach Gatow gefahren, wo Großmutter Johanna zurückgezogen auf einem kleinen Bauernhof lebte. Die verrückte Johanna, wie selbst ihr eigener Sohn, Lenas Vater, oftmals vor sich hingebrummt hatte. Alle – das waren ihre Eltern gewesen, der vier Jahre ältere Bruder Moritz und die zwei Jahre jüngere Schwester Julia. Auf einem der umliegenden Felder war ein Feuer entzündet worden, und die ganze Nachbarschaft war auf den Beinen gewesen. Rauchgeschwängerte Luft, der Duft von gegrillten Bratwürsten, dichtes Gedränge. Kinder waren johlend ums Feuer gesprungen, während die Erwachsenen Bier und Wein getrunken hatten. Im Hintergrund leerstehende Schuppen und halbverfallene Gewächshäuser. Verbotenes Gelände. Lena hatte dort jeden Winkel gekannt, jede verborgene Ecke. Geheime Plätze. Verstecke. Herzklopfen. Geschichten ohne Ende.

Als sie ins Bootshaus zurückkehrte, ging sie nach oben in das größere der beiden Dachzimmer. Der Raum war mit Matten ausgelegt, auf denen mehrere Kissen verstreut lagen, an einer Wand hing ein Schwarzweißporträt von Morihei Ueshiba, dem Begründer des Aikido; neben der Tür standen eine Palme und eine Buddhafigur – ein Geschenk von Simon. Er war damals persönlich gekommen, um es zu überreichen und hatte mit ihr und Maika zusammen in dem kleinen Dojo auf dem Kissen gesessen und seine beiden Schülerinnen anschließend Irimi nage üben lassen – ein Bewegungsablauf, bei dem die angreifende Partnerin in einer schwungvollen Tai-sabaki-Drehung seitlich an den Körper der Angegriffenen gezogen, gleichzeitig ihr Kopf mit einer Hand an die Schulter gedrückt und schließlich mit einer weit ausholenden kreisförmigen Bewegung des anderen Arms zu Boden geführt wird. Lena hatte das Gefühl gehabt, dass der Raum erst durch Simons Besuch seiner eigentlichen Bestimmung übergeben worden war.

Sie zog ihre Schuhe aus, verbeugte sich in Richtung des Bildes und betrat die Matten. Mit geradem Rücken und geschlossenen Augen kniete sie sich auf den Boden und legte die Hände auf die Oberschenkel. Nichts habe ich hier mehr verloren, sagte eine Stimme in ihr, es sei denn, ich bin bereit, das Echo dessen zu hören, was ich angerichtet habe. Sie lauschte der Stille. Vier, fünf, sechs Minuten hielt sie es aus, dann verbeugte sie sich, stand zitternd auf und verließ eilig den Raum.

2

Karin Weber war genauso blass wie einige Tage zuvor. Der Eindruck wurde durch das trübe Licht verstärkt, das sich nur mühsam einen Weg durch das kleine Fenster des Vernehmungsraums in der Justizvollzugsanstalt bahnen konnte. Sie setzte sich zu Lena an den Tisch, nachdem sie ihr einen verstörten Blick zugeworfen hatte.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Lena und legte ihre Hände vor sich auf den Tisch. Sie spürte ein Vibrieren in den Fingerspitzen, und sie konnte nicht sagen, ob sie es als angenehm oder störend empfand.

Karin Weber zuckte die Achseln. Sie sah kurz zu dem vergitterten Fenster hinüber, bevor sie Lena den Kopf zuwandte. »Na, was glauben Sie wohl?« Und kurz darauf: »Warum sind Sie gekommen?«

»Damit Sie mir noch einmal erzählen, was passiert ist.«

»Warum? Das habe ich doch schon«, erwiderte Karin Weber. »Und da steht alles ganz ausführlich drin.«

Sie wies mit dem Kopf in Richtung der Akte, die auf dem Tisch lag. Ihre Stimme klang weder provokant noch wütend, sondern lediglich müde, abweisend.

»Ja, ich weiß. Da steht alles Mögliche drin. Es geht um Nusskuchen und eine anstrengende Tante, um Schulden, die Sie haben, um Streit und so weiter.«

»Sehen Sie.« Karin Weber hob mit einer winzigen Bewegung das Kinn und erwiderte Lenas Blick.

»Nun, wir können das Ganze natürlich auch abkürzen, wenn Sie möchten«, meinte Lena kühl. »Waren Sie es oder waren Sie es nicht?«

Wieder dieses Achselzucken. »Nein. Oder um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht, weil ich mich nicht an jeden einzelnen Handgriff an diesem Tag erinnern kann, aber es ist unwahrscheinlich, dass ich Nüsse in den Teig getan habe.«

»Unwahrscheinlich?«, wiederholte Lena verblüfft. »Das ist eine sehr merkwürdige Formulierung. Wie meinen Sie das?«

»Ganz einfach: Ich habe noch nie Nüsse in den Kuchen für meine Tante getan, logischerweise nicht, denn sie ist, seit ich denken kann, allergisch dagegen.«

Eben drum, dachte Lena, behielt den Kommentar jedoch für sich. »Und wenn Sie für sich selbst gebacken haben?«

Karin Weber schüttelte langsam den Kopf. »Für mich habe ich seit ewigen Zeiten nicht mehr gebacken. Ich bin kein großer Kuchenfan.«

»Wann haben Sie das letzte Mal Backzutaten eingekauft?«

»Am Tag, bevor ich den Kuchen gebacken habe«, antwortete Lenas Mandantin prompt. »Im Laden bei mir um die Ecke. Ich brauchte noch Butter, Backpulver und Eier.«

»Und Sie haben keine Nüsse gekauft?«

Erneutes Kopfschütteln. Für einen Moment wirkte sie etwas lebhafter. »Das wäre ja auch ziemlich blöd, oder? Wenn ich vorgehabt hätte, meine Tante mit einem Nusskuchen umzubringen, würde ich doch wohl kaum am Tag vorher die Zutaten einschließlich der Nüsse ausgerechnet in dem Laden besorgen, wo man mich gut kennt und sich sofort daran erinnern würde.«

»Nun, Nüsse kann man überall kaufen.«

Karin Webers Mimik erstarrte wieder. »Stimmt«, sagte sie leise. »Wenn es geplant gewesen wäre.«

»Davon geht die Staatsanwaltschaft aus«, erklärte Lena. »Und es passt wirklich alles sehr gut zusammen: Motiv, Gelegenheit, Zeugenaussagen.« Lena zog die Akte zu sich heran und öffnete sie. »Frau Krause, Ihre Nachbarin, hat am frühen Morgen gesehen, wie Sie die Wohnung Ihrer Tante betraten. Sie haben ihr den Kuchen vorbeigebracht, von dem sie einige Stunden später gegessen hat, wie die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab. Das Telefon, das sich normalerweise direkt an ihrem Bett befindet, lag im Flur auf der Ladestation. Das hat die Krankenschwester vom Pflegedienst, die mittags bei Ihrer Tante eintraf, erklärt – Ihre Tante konnte also den Notruf nicht auslösen. Bei der Durchsuchung Ihrer Wohnung hat man eine Tüte mit Nüssen gefunden. Haselnüsse, um genau zu sein.«

Karin Weber legte die Hände in den Schoß. »Es ist so offensichtlich, oder? Aber warum sollte ich so dumm sein? Wenn ich das geplant hätte, wäre ich doch wohl geschickter vorgegangen.«

»Der Einwand ist berechtigt, doch allein die Tatsache, dass Sie sich als Schuldige anbieten beziehungsweise förmlich aufdrängen, macht Sie nicht automatisch weniger verdächtig. Es gibt Täter, die genau das beabsichtigen. Die Staatsanwaltschaft geht von heimtückischem Mord aus. Sie wirken ja noch nicht mal besonders betroffen, um ehrlich zu sein, oder kooperativ. Wenn Sie es nicht getan haben und Ihrer Ansicht nach schlicht ein tragisches Versehen vorliegen muss, warum reden, warum kämpfen Sie dann nicht, sondern reagieren so … ja – gedämpft?«

»Was wissen Sie denn schon?«

»Zu wenig. Noch einmal: Sind Sie unschuldig?«

»Niemand ist unschuldig.«

Karin Weber sah ihr direkt in die Augen. Lena fröstelte plötzlich. Das sanfte Vibrieren schien von den Fingerspitzen zwischen die Schulterblätter gewandert zu sein. Körperliche Signale, die sie zu ignorieren versuchte.

»Sie werden mich verurteilen und einsperren. Letztlich interessiert es ohnehin niemanden – höchstens die Bank, bei der ich Schulden habe – mich selbst auch nicht«, erklärte Karin Weber mit leiser Stimme.

»Was sind das für Schulden?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Vielleicht doch.«

Ihre Mandantin stand plötzlich auf. »Nein, ganz bestimmt nicht. Und jetzt möchte ich das Gespräch beenden.«

Lena erhob sich ebenfalls. Sie blieb an ihrem Platz stehen. Keinen Schritt näher gehen, dachte sie, die kritische Distanz nicht überschreiten. Plötzlich kam ihr ein Gedanke.

»Gibt es jemanden, mit dem ich über Sie sprechen kann?«, fragte sie. »Verwandte, Freundinnen, Menschen, die Sie näher kennen?«

Karin Weber sah sie kurz an, schob dann den Stuhl an den Tisch und ließ die Hände auf der Lehne liegen. »Ich lebe sehr zurückgezogen. Hildrun war meine einzige Verwandte. Meine Eltern leben schon lange nicht mehr, und ich habe keine Geschwister. Warum?«

»Ich möchte mir ein Bild machen.«

»Das wird Ihnen kein anderer vermitteln können.«

Lena stemmte eine Hand in die Hüfte. »Das würde ich gern selbst feststellen«, sagte sie eine Spur energischer. »Gibt es vielleicht eine Arbeitskollegin oder eine Nachbarin, die mir etwas sagen könnte?«

Karin Weber blickte auf Lenas aufgestützte Hand und überlegte eine Weile. »Maren Sommer«, sagte sie dann leise. »Sie ist eine Freundin von Hildrun gewesen. Man könnte sagen, dass sie mich ein bisschen kennt.«

»Sie lebt in Berlin?«

»Ja, in Steglitz. Sie hat Hildrun regelmäßig besucht, beinahe jede Woche. Manchmal war ich dann auch da. Die Telefonnummer müssen Sie sich selbst besorgen – die weiß ich nicht aus dem Kopf.«

Lena griff nach der Akte und steckte sie in ihre Tasche. »Schreiben Sie alles auf, was Ihnen zu der Geschichte einfällt – jede Kleinigkeit. Vielleicht gibt es etwas, wo wir ansetzen und nachhaken können.«

»Glauben Sie wirklich, dass das irgendeinen Sinn hat?«

»Haben Sie einen besseren Vorschlag?« Lena zog eine Augenbraue hoch. »Vielleicht möchten Sie ja doch ein Geständnis ablegen.«

Karin Weber blickte auf ihre Füße. »Das würde ich ja, aber es geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Es gibt nichts zu gestehen, außer dass ich nicht hundertprozentig ausschließen kann, die Nüsse versehentlich in den Teig getan zu haben. Weil ich abwesend war, weil es mir nicht gutging, weil ich … Aber …« Sie hob den Kopf und sah Lena an. »Nein. Die Nüsse, die bei mir zu Hause gefunden wurden, sind für mein Müsli: ganze Haselnüsse. Ich kaufe sie immer im Bioladen oder auf dem Markt. Für den Kuchen hätte ich sie mahlen müssen, schließlich gibt man keine ganzen Haselnüsse in einen Kuchenteig. Und daran würde ich mich garantiert erinnern. Nein, ich weiß nicht, wie die Nüsse in den Kuchen gekommen sind.«

Klingt banal und vielleicht darum überzeugend, dachte Lena. Sie streckte die Hand aus. »Gut, ich werde mich um die Sache kümmern.«

Lena verabschiedete sich und eilte aus dem Gebäude. Im Auto machte sie sich rasch einige Notizen. Ihre Hände zitterten, als wäre sie auf Entzug, und sie atmete viel zu schnell.

Ich darf nichts falsch machen, dachte sie, nichts überbewerten oder missinterpretieren, aber auch keine Details übersehen: eine Lüge, ein Ausweichen oder ein flüchtiges Flackern im Blick. Irritation oder Erstaunen? Heimtücke, Entsetzen oder Angst? Schuld oder Unschuld? Mord oder Totschlag? Tragisches Versehen oder perfides Verbrechen?

Bis zum Mick-Panter-Fall hatte sie innerhalb kürzester Zeit gewusst, wo sie nachhaken musste, ob jemand mit offenen Karten spielte oder die Wahrheit zu seinen Gunsten verdrehte, ob ein Beschuldigter hereingelegt worden war oder sich schlichtweg dumm stellte, ob Zeugen vertrauenswürdig waren oder eine Show abzogen, die Ermittlungen mit objektivem Blick geführt worden waren oder der leitende Ermittler nur das sah, was er ohnehin zu finden vermutete. Es hatte körperliche Signale gegeben, die sie für untrüglich gehalten hatte, plötzliche Einsichten und intuitives Wissen, das tief aus ihrem Inneren kam und auf das sie sich hundertprozentig verließ. Ihr persönlicher Wahrheitsmesser, der gleichsam wie ein Schwert die Trennlinie zog zwischen Lüge und Wahrheit, der nicht irren konnte, weil er noch nie geirrt hatte und niemals irren würde. Und genau diese Einschätzung war ihr Fehler gewesen. Ein folgenschwerer.

Seitdem konnte sie sich auf gar nichts mehr verlassen – am allerwenigsten auf sich selbst und das, was sie zu spüren oder zu wissen meinte. Aus lauter Angst, etwas zu übersehen oder aber Zusammenhänge zu entdecken, wo gar keine existierten, war sie bei ihren letzten Fällen kaum in der Lage gewesen, eine Situation sachlich zu bewerten und selbstbewusst Rückschlüsse zu ziehen, die den Fall voranbrachten. Lena erinnerte sich schaudernd an die mitleidigen Blicke ihrer Kollegen und so mancher Richterin, die sie kaum wiedererkannte. Sie wusste, dass sie im Fall Karin Weber nur eine Chance hatte, das Richtige für ihre Mandantin zu tun, wenn es ihr gelang, einen Ausweg aus ihrem persönlichen Dilemma zu finden.

Fangen wir doch zunächst einfach mal bei dem an, was auf der Hand liegt, sprach Lena sich selbst Mut zu. Alle hielten Karin Weber für schuldig – weil alles so wunderbar zusammenpasste. War es so, wie es schien? Und hüllte sie sich allein deshalb in diesen Kokon aus Kummer, Hilflosigkeit und Deprimiertheit, weil sie auf mildernde Umstände hoffte und nach einigen Jahren hinter Gittern einem schönen Lebensabend entgegenblickte? Weil sie eine angeschlagene Anwältin verunsichern wollte? Baute sie darauf, dass man ihr die Tat nicht hundertprozentig nachweisen konnte und das Urteil infolgedessen milde ausfallen würde? Und ging sie dabei vielleicht davon aus, dass es genügte, zum Todeszeitpunkt nicht am Tatort gewesen zu sein? Oder war doch alles ganz anders gewesen?

Lena stöhnte leise auf, als sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen, und ließ die Stirn auf das Lenkrad sinken. Ich schaffe es nicht, dachte sie. Ich ertrinke in meiner Verwirrung, in meiner Angst. In meinem Selbstmitleid. Was passierte, wenn sie kniff? Reiner würde jemand anderen beauftragen – das konnte für Karin Weber gut sein. Oder auch nicht. Für sie selbst wäre es dann jedoch endgültig aus. Noch bevor sie auch nur ein einziges Mal mit dem ermittelnden Beamten und der Nachbarin sowie der Freundin der Tante gesprochen hatte.

Sie hob langsam den Kopf. Ich mache jetzt meine Arbeit, und Ende der Woche entscheide ich mich, den Fall entweder zu übernehmen oder aber abzugeben und die Kanzlei zu verlassen. Der Gedanke stand auf einmal glasklar vor ihr. Das Zittern hörte trotzdem nicht auf.

Maren Sommer war telefonisch nicht zu erreichen. Lena hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und bat um Rückruf, auch unter ihrer Handynummer, bevor sie ins Polizeipräsidium aufbrach, um mit Kommissar Bernd Langner zu sprechen.

Langner war gerade auf dem Weg zu einer Einsatzbesprechung. Der Kommissar – ein großer, kraftstrotzender Typ in Jeans und sportlichem Hemd – musterte Lena kurz, aber gründlich. Die Anwältin stellte sich rasch vor und bat ihn ohne Umschweife um seine Meinung zum Fall Weber. Langner überlegte einen Moment, bevor er den Flur hinunterwies.

»Kommen Sie – Sie können mich zum Konferenzraum begleiten. Ich bin spät dran«, sagte er mit tiefer Stimme.

Lena schätzte den Beamten auf vierzig. Er war in Eile, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass ihm die Dinge entgleiten könnten. Er hatte einen Bartschatten, dichtes dunkelblondes Haar und eine Narbe am Kinn. Lena musste ihren Schritt beschleunigen.

»Schildern Sie mir bitte Ihren Eindruck«, bat sie Langner.

»Simple Geschichte«, gab er zurück und öffnete eine Glastür, die in den nächsten Flur führte, wo es aufdringlich nach Putzmittel roch. »Der Pflegedienst fand sie mittags gegen vierzehn Uhr und informierte Arzt und Polizei. Ein Rest des Kuchenstücks lag noch auf dem Teller – Nusskuchen, wie Sie ja wissen.«

»Besteht die Möglichkeit, dass jemand anders als Karin Weber den Kuchen hingestellt hat?«

Langner schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Außer einer Freundin hatte noch die Nachbarin einen Schlüssel, um die Katze von Frau Baum zu versorgen und im Notfall zur Stelle zu sein. Sie war um die Zeit auf der Arbeit – wie ihr Mann auch. Dann gibt es noch die zwölfjährige Tochter, die sich in der Schule befand.« Er sah Lena kurz von der Seite an. »Und es gibt keinerlei Einbruchsspuren.«

»Todeszeitpunkt?«

»Gegen elf, zwölf Uhr mittags, glaube ich. Aber sprechen Sie ruhig mal mit unserer Gerichtsmedizinerin, Frau Dr. Heise.«

»Ja, das mache ich.«

Langner verlangsamte seine Schritte und blieb vor einer breiten Doppeltür stehen.

»Was halten Sie von Karin Weber?«, fragte Lena rasch, als der Kommissar auf die Uhr blickte.

»Sie wirkte ziemlich perplex, als wir sie von ihrer Arbeitsstelle abholten«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Verwirrung und Entsetzen schienen mir echt. Kann man aus Versehen Nüsse in einen Kuchenteig geben? Ich bin kein besonders guter Hausmann und ein Bäcker schon gar nicht, aber die Frage sollte man vielleicht mal stellen.« Er lächelte plötzlich, und die winzigen Fältchen um seine Augen vertieften sich.

Lena lächelte zurück. »Die Variante halten Sie für möglich?«

»Tja, so was soll vorkommen.«

»Man hat Nüsse bei ihr zu Hause gefunden«, erwiderte Lena.

»Ist mir bekannt – ich war dabei.«

Lena nickte. »Ganze Haselnüsse«, fügte sie hinzu.

»Und?«

»Die gibt man nicht in einen Kuchenteig. Man muss sie mahlen, und Karin Weber meinte, sie würde sich erinnern, wenn sie Nüsse gemahlen hätte. Aber sie entsinnt sich nicht.«

Bernd Langner runzelte die Stirn. »So? Na ja. Hört sich irgendwie verdammt naiv an. Andererseits fragt man sich natürlich, warum sie nicht geschickter argumentiert – ob sie nun die Täterin war oder nicht. Warum beharrt sie nicht darauf, dass ein tragisches Versehen vorliegt und sie sich bei den Backzutaten geirrt hat? Das würde mich glatt überzeugen – so fertig, wie die wirkt.«

»Händeringend oder gar kämpferisch vorgetragene Argumente sind ihre Sache wohl nicht, das habe ich auch schon festgestellt. Aber sie hat ein ziemlich starkes Motiv«, gab Lena zu bedenken. »Die Tante hat viel zu vererben, richtig viel. Und Karin Weber hat eine Menge Schulden, die sie auf einen Schlag los wäre. Außerdem haben die beiden sich regelmäßig in der Wolle gehabt.«

Langner nickte. »Exakt. Vielleicht ist sie ja eine von den Superschlauen, die die Ahnungslose spielt und uns mit der Masche in die Irre führen will. Dazu wiederum passt aber die Aussage der Freundin des Opfers nicht …«

»Maren Sommer?«

»Genau.«

»Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen, aber vielleicht kommt sie als Entlastungszeugin in Frage«, überlegte Lena.

Bernd Langner nickte. »Kann ich mir vorstellen, dass Karin Weber das gut fände.«

»Wieso?«

»Maren Sommer war erst gestern bei mir und schwört Stein und Bein, dass die Weber unmöglich etwas mit dem Tod ihrer Tante zu tun hat – weder aus Absicht noch versehentlich.«

»Hätte Maren Sommer eigentlich ein Motiv?«

»Das wissen wir noch nicht mit letzter Sicherheit – sie hat angegeben, in der Sauna gewesen zu sein, und das müssen wir noch überprüfen. Aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch nicht – da müsste ich mich schon sehr täuschen. Frau Sommer ist eine gutsituierte, intelligente, warmherzige Frau.« Langner warf einen Blick auf seine Uhr und seufzte leise. »Wie auch immer – ich muss jetzt, so leid es mir tut, in die Besprechung. Vielleicht können wir ein andermal weiter über den Fall sprechen? Rufen Sie mich ruhig an.«

»Das mache ich gerne. Vielen Dank fürs Erste.«

Lena ergriff seine ausgestreckte Hand und erwiderte sein Lächeln. Ein sympathischer Typ, den sie auf Anhieb mochte. Aber eines hatte sie nicht gewonnen: mehr Klarheit über Karin Weber.

3

Die Polizei hatte alle Schlüssel eingesammelt, die Katze ins Tierheim gebracht, und niemand durfte in die Wohnung. An der Tür war ein Aufkleber, ein amtliches Siegel, wie Ronja erfahren hatte. Aber es war trotzdem kein Problem, in die Wohnung zu kommen. Es gab einen Geheimgang, der vom Keller über eine wacklige Holzstiege in die Speisekammer führte. Wer davon nicht wusste, dem würde die Bodenklappe unter dem Teppich überhaupt nicht auffallen.

Aber Ronja wollte den Geheimgang nicht benutzen. Sie gruselte sich, die Wohnung einer Toten zu betreten. Vielleicht war ja Hildruns Geist noch dort. So was gab es, das hatte Kim, ihre beste Freundin, auch gesagt. Und die musste es wissen, denn die war schon einmal bei einer Toten im Haus gewesen. Bei ihrer Großmutter. Kim hatte geschworen, dass es danach dort gespukt hatte, und zwar nicht nur nachts. Ronja hielt das eigentlich für ausgemachten Quatsch, aber wer wusste schon, was Tote alles konnten? Hildrun war bestimmt eine starke Tote. Sie war schon eine starke Lebende gewesen. Die stärkste, die Ronja kannte. Sie hatte sich sogar mit ihrem Vater angelegt, und das tat sonst niemand. Aber da war sie noch gesund gewesen. Ohne Gipsbein und immer klar im Kopf. Ohne diese komische Vergesslichkeit.

Ronja hatte nicht den Eindruck, dass ihr Vater traurig war über den plötzlichen Tod von Hildrun. Er hatte sie immer nur »die alte Schachtel, die ihm ja nicht über den Weg laufen sollte« genannt, und es war ihm auch nicht recht gewesen, dass ihre Mutter und sie sich um die Katze gekümmert hatten, seit Hildrun mit eingegipstem Bein im Bett lag. Schließlich hatten sie beide abgemacht, dass das reine Frauensache war. Über die musste man nicht groß reden, schon gar nicht mit einem Mann, der dauernd rumbrüllte und immer alles besser wusste. Am besten, man sagte gar nichts. Aber Ronja hatte das Gefühl, dass ihr Vater sehr genau über ihre Besuche bei Hildrun Bescheid wusste. Einmal hatte er sogar den Schlüssel versteckt und Ronja und ihre Mutter zwei Stunden danach suchen lassen. Erst als Ronjas Mutter gesagt hatte, dass das Kind sich nun ihr Taschengeld nicht mehr selbst verdienen könnte, war der Schlüssel ganz plötzlich wieder aufgetaucht. Ihr Vater hatte sie mit düsterem Blick ewig lange angesehen und irgendwann endlich genickt. Wer weiß – vielleicht war die Sache für ihn in Ordnung, wenn Hildrun dafür bezahlte. Trotzdem hatte Ronjas Mutter den Schlüssel seitdem immer in ihrer Handtasche.

Hildrun hatte ziemlich viel Geld, das wusste Ronja, weil die alte Dame ihr davon erzählt hatte und immer großzügig gewesen war. Vielleicht hatten das andere auch gewusst und sie war überfallen worden. Ronja hatte mitbekommen, dass die Polizei Fragen stellte, weil es bei Hildruns Tod wohl nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Der Polizist, der mit ihrer Mutter gesprochen hatte, wollte aber nichts dazu sagen. Er hatte nur ein paar Fragen gestellt und sich Notizen gemacht. Vielleicht war Hildrun ja ermordet worden, und der Täter hatte den geheimen Zugang gekannt. Ronja bekam eine Gänsehaut und schüttelte sich. Morgens war mit Hildrun doch noch alles in bester Ordnung gewesen. Das hätte sie gerne allen erzählt, aber dann würde sie fürchterlichen Ärger bekommen.

4

Maren Sommer sah vollkommen anders aus, als Lena erwartet hatte. Sie waren in einem Café in der Steglitzer Schloßstraße verabredet, und Lena hätte auf die attraktive, gutgekleidete Frau mit den kastanienbraunen schulterlangen Haaren und dem eleganten weinroten Hosenanzug gar nicht weiter geachtet, wenn diese nicht mit suchendem Blick durch die Tischreihen gegangen wäre. Oder sie hätte sehr wohl auf sie geachtet – aber aus anderen Beweggründen. Als sie zum zweiten Mal an ihr vorbeikam und sie mit großen dunkelbraunen Augen aufmerksam betrachtete, erwiderte Lena den Blick und sah sie fragend an. »Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht Frau Sommer?«

»Ja, die bin ich. Und Sie sind die Anwältin – Lena Bokken.« Das war eine Feststellung, keine Frage.

Lena stand auf und gab ihr die Hand. »Um ehrlich zu sein – ich hatte Sie mir ein wenig anders vorgestellt. Bitte setzen Sie sich doch.«

»Tatsächlich? Und wie?« Maren Sommer lächelte verhalten, während sie ihr gegenüber Platz nahm.

Lena vermutete, dass ihr Lächeln wegen der Trauer über den Tod der Freundin so bescheiden ausfiel.

»Nun, ich habe mir eine Freundin von Frau Baum wesentlich älter vorgestellt«, erklärte sie. Und nicht so attraktiv und elegant, warum auch immer, fügte sie im Stillen hinzu.

»Hildrun wäre in diesem Jahr fünfundsiebzig geworden. Ich feiere demnächst meinen Fünfundfünfzigsten«, erwiderte Maren Sommer und winkte dem Kellner. »Der Altersunterschied hat unserer Freundschaft nie im Weg gestanden.«

»Oh«, meinte Lena erstaunt. »Das hätte ich nun wirklich nicht gedacht. Ich hätte Sie wesentlich jünger geschätzt. Gibt es dafür ein Geheimrezept?«, schob sie charmant nach.

»Eine sinnvolle Beschäftigung, ausreichend Schlaf, viel frische Luft, hin und wieder ausgiebig feiern, jeden Tag lachen, sofern das irgendwie möglich ist, und Niveacreme.«

»Das ist alles?«

»Nun, bei den Haaren helfe ich regelmäßig nach. Ich mag es nicht, wenn sie grau werden, weil mir die Farbe Grau einfach nicht gefällt. Und manchmal lege ich zwei Obsttage ein, um meinen ausufernden Hüften Einhalt zu gebieten. Aber das sollte man nicht übertreiben – macht nur schlechte Laune.«

Lena lächelte amüsiert. Maren Sommers unverblümte Art gefiel ihr. Der Kellner trat an den Tisch – ein schlaksiger junger Mann, der sich sichtlich unwohl in seinem gestärkten weißen Hemd fühlte und übermüdet aussah. Maren Sommer entschied sich für Cappuccino, Mineralwasser und italienisches Gebäck, und Lena schloss sich an. Einen Moment lang musterten sie einander stumm über den Tisch hinweg. Sie hat Ähnlichkeit mit Senta Berger, dachte Lena, während sie ihrem Blick ruhig standhielt. Eine schöne, reife und selbstbewusste Frau, die wusste, was sie tat und was sie wollte.

»Sie wissen, dass Sie nicht mit mir reden müssen«, brach Lena schließlich das Schweigen.

»Wenn ich nicht mit Ihnen reden wollte, wäre ich wohl kaum gekommen.«

»Stimmt.«

Eine Gruppe junger Leute betrat das Café. Ein rothaariger Lockenkopf mit weiten Jeans, die ihm tief auf den Hüften saßen, hatte einen Hund dabei. Ein junges mittelgroßes, sehr mageres Tier mit dunkelbraunem Fell und schwarz-weißen Tupfern auf der Schnauze. Ein Schäferhund-Retriever-Mischling, schätzte Lena. Der Hund blieb an ihrem Tisch stehen und sah sie an.

»Hallo, Schöner«, sagte Lena leise.

Sie blickte ihm nicht direkt in die Augen und bot ihm eine Hand zum Schnuppern an. Er winselte leise, als der Lockenkopf ihn weiterzog.

»Sie mögen Tiere?«, fragte Maren Sommer.

»Ja, sehr. Ich hatte mal einen wunderbaren Hund. Einen Wolfsmischling. Das ist schon eine Weile her. Nun wohnt ein Kater bei mir.«

Der Kellner brachte die Bestellung. Maren Sommer schenkte zwei Gläser Wasser ein und probierte ein Stück Gebäck. Sie blickte Lena an, die ihren Cappuccino umrührte und einen Schluck trank.

»Was ist aus dem Hund geworden?«

»Ein Jäger hat ihn erschossen. Behauptete, er hätte gejagt und sähe außerdem aus wie ein Wolf. Und das seien ja so wieso Bestien. Boran hat nie gejagt.«

Lena hörte selbst, dass ihre Stimme leise bebte. Was erzähle ich hier bloß?

»Das ist Ihnen wohl ziemlich nahegegangen«, stellte Maren Sommer fest.

»Ja, der Hund war etwas ganz Besonderes für mich. Außerdem werde ich immer fuchtig, wenn Menschen Tiere als Bestien bezeichnen, aber lassen wir das. Wir sollten allmählich …«

»Warum haben Sie sich keinen neuen zugelegt?«

Wer stellt hier eigentlich die Fragen?, dachte Lena.

»Zugelegt? Ich lege mir keine Tiere zu«, erklärte sie dann.

»Sondern?«

»Der Kater ist mir zugelaufen und geblieben. Boran war ein Geschenk und zugleich eine Aufgabe. Aber das lässt sich schwer erklären.«

Maren Sommer lächelte plötzlich. »Ja? Nun, vielleicht ein andermal.«

Lena nickte. »Ja, vielleicht.« Sie war selbst erstaunt über die Antwort. »Wollen wir anfangen?«

»Ja, fragen Sie einfach.«

»Gut.« Lena schob ihre Tasse ein Stück zur Seite und verschränkte die Unterarme auf dem Tisch. »Wie haben Sie vom Tod Hildrun Baums erfahren?«

»Ich habe versucht, sie telefonisch zu erreichen. Als niemand an den Apparat ging, rief ich bei Karin an, die ich auch nicht antraf, und schließlich bei den Nachbarn, die ja wussten, was passiert war.« Maren Sommer blickte einen Moment zum Fenster hinaus und stützte ihr Kinn auf.

»Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit Frau Krause – sie war ganz aufgelöst.«

»Haben Sie auch mit ihrem Mann gesprochen?«

»Nein.«

»Sie haben bei der Polizei ausgesagt, dass Karin Weber …«

Maren Sommer beugte sich abrupt vor. »Glauben Sie mir, Hildruns Tod geht mir verdammt nahe!«, fiel sie Lena ins Wort. »Sie ist nicht einfach nur gestorben, sofern das überhaupt einfach sein kann – irgendetwas Schreckliches ist passiert. Ich weiß nicht, was geschehen ist – das weiß ja wohl bislang noch niemand –, aber eines weiß ich ganz genau: Es ist ein Unding, dass man Karin eingesperrt hat. Fällt denen nichts Besseres ein?« Ihre Stimme war in die Höhe geklettert.

»Ich vermute nein«, sagte Lena. »Nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen …«

»Erkenntnisse? Was für Erkenntnisse? Das ist doch alles Quatsch! Karin hatte nur noch ihre Tante, und ausgerechnet die soll sie umgebracht haben? So ein Blödsinn.«

»Es winkt eine Menge Geld, Frau Sommer. Karin Weber ist hochverschuldet, und die Liebe zwischen den beiden war ja wohl auch nicht die allergrößte«, hielt Lena dagegen. Das plötzlich aufflammende heftige Temperament ihrer Gesprächspartnerin verblüffte sie.

Maren Sommer starrte sie mit gerunzelter Stirn an. »Sie haben keine Ahnung und die Polizei auch nicht. Ich kenne Hildrun und Karin seit über zehn Jahren – wir sind uns mal auf einer Urlaubsreise über den Weg gelaufen. Karin ist ein Pechvogel, wie er im Buche steht, insbesondere was Männer angeht – Hildrun hat ihr Mundwerk immer ein bisschen zu weit aufgerissen, und darum hat es ab und an auch mal gekracht zwischen den beiden. In den letzten Monaten ging es Hildrun zunehmend schlechter. Sie war eindeutig dement und wurde nach dem Beinbruch auch immer ungnädiger. Es war manchmal nicht leicht mit ihr, das stimmt, aber Karin ist so gut wie jeden Tag bei ihr gewesen und …«

»Kann sie nicht vielleicht überfordert gewesen sein?«

»Hildrun war ihr einziger Halt – auch wenn sie anstrengend war –, aber das hat natürlich niemand registriert. Wie denn auch? Karin geht ja kaum unter Leute. Und man bringt jemanden doch nicht gleich um, nur weil es auf einmal anstrengend und belastend mit ihm ist. Dann gäbe es erheblich mehr Morde, das können Sie mir glauben«, schloss sie sarkastisch.