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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Chira Brecht

 

Endlich angekommen

 

Roman

 

 

 

K+S digital

KAPITEL 1

 

Der Anflug auf Boston vom Meer her war phantastisch. Die Maschine zog eine Schleife nach Norden und schwenkte dann hoch über einer Villengegend und einer Bucht mit vielen kleinen Inseln und eng bebauten Landzungen in Richtung Logan Airport ein. Wie immer nahm Verena sich vor, später auf Google Earth die genauen Landschaftsnamen nachzusehen, und sie wusste schon jetzt, dass sie wahrscheinlich erst wieder daran denken würde, wenn sie sich nicht mehr genau erinnern konnte.

Nachdem sie die langwierigen Einreiseformalitäten hinter sich gebracht hatte, machte sie sich auf die Suche nach dem Shuttle-Service zum Hotel.

Alles klappte wunderbar. Nach einer knappen halben Stunde kam sie im Sheraton Hotel an. Sie hatte Glück und ergatterte ein Zimmer, das einen herrlichen Ausblick über den Charles River bot. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es zu spät war, zu Hause anzurufen. Warum war sie darüber erleichtert?

Seit sie die neue Stelle als Bereichsleiterin der Unfallchirurgie an der Münchner Uniklinik innehatte, war das Zusammenleben mit ihrem Mann Stefan zunehmend schwieriger geworden. Obwohl er ihre Bewerbung zu Anfang voll unterstützt hatte, hatten sie in den letzten Wochen und Monaten häufig Streit wegen der vielen Überstunden, die Verena im Krankenhaus und manchmal noch zu Hause leistete. Verena versuchte Stefan zugutezuhalten, dass er sich Sorgen um sie machte, aber im Grunde fühlte sie sich bevormundet. Ob er nicht glaube, dass sie das selbst einschätzen könnte, hatte sie ihn mehr als einmal genervt gefragt.

Sie hatte das Angebot des Klinikdirektors, zu dem Ärztekongress nach Boston zu fliegen und anschließend für ein paar Tage das renommierte Massachusetts General Hospital zu besuchen, um dort bei der Neueinführung eines zukunftsweisenden Laserskalpells dabei zu sein, begeistert angenommen. Stefan hingegen hatte sich hauptsächlich dafür interessiert, dass sie für die Zeit ihrer Abwesenheit die Tagesmutter für ihren zehnjährigen Sohn Tim arrangierte. Verena seufzte. Sie konnte sich nicht erklären, wieso ihr Mann in letzter Zeit ständig neue Gründe fand, um an ihr herumzunörgeln. Allerdings war sie gerade meilenweit von zu Hause weg, für Tim war gesorgt, und an Stefans Einstellung konnte sie im Moment ohnehin nichts ändern. Sie ließ sich auf das große, flauschige Queensize-Bett sinken und erlaubte es sich, mitten am Tag die Augen zu schließen.

 

»Verena? Verena …?!«

Verena drehte sich überrascht um.

»Monika?«

»Mona«, verbesserte die Angesprochene mit einem strahlenden Lächeln.

Stimmt! Verena musste ebenfalls lächeln. Damals hatte sich die ganze Studienclique ein wenig lustig gemacht, als Monika Grafenbach mit einem Mal beschlossen hatte, sich Mona zu nennen. Aber mit der Namensänderung war damals eine echte Persönlichkeitsänderung mit der eher schüchternen und zurückhaltenden Monika, jetzt Mona vorgegangen.

Heute stand eine attraktive Mittvierzigerin vor ihr, der man ihr Alter kaum ansah.

Verena konnte nicht umhin, ihr ein ehrlich gemeintes Kompliment zu machen. »Donnerwetter, Mona. Du siehst wirklich gut aus! Was führt dich denn hierher?«

Mona grinste. »Vermutlich das Gleiche wie dich, Frau Doktor. Die Arbeit. Oder bist du zu deinem Privatvergnügen auf diesem beeindruckenden Kongress?«

Mona hatte recht. Ihre Frage war dumm, schließlich hatten sie sich gemeinsam bis zum Examen geschlagen, auch wenn sie sich während der Assistenzzeit bald aus den Augen verloren.

»Mensch, das ist ja toll, dich nach so vielen Jahren wiederzutreffen! Und dann ausgerechnet hier.« Mona strahlte sie herzlich an.

Verena hatte sich noch nicht wieder gefangen. Sie war irritiert, dass Mona plötzlich vor ihr stand. Die beiden hatten viel Zeit auf der Uni und während des Praktikums zusammen in einer Clique verbracht, ehe Verena Kathrin Sanders kennengelernt hatte.

Sie riss sich zusammen und setzte ein freundlicheres Lächeln auf. »Ja«, sagte sie. »Komm, lass uns einen Kaffee trinken.«

Mehr als eine Stunde war vergangen, als Verena das erste Mal auf die Uhr sah. Unglaublich, was sie sich alles zu erzählen hatten.

Es war Mona, die sagte, sie müsse weiter, weil sie einen Vortrag von Professor Vance keinesfalls verpassen wolle. »Was hast du denn heute Abend vor?«

 

Das Abendessen verlief ebenso kurzweilig wie das Kaffeetrinken am Nachmittag. Sie waren bei der zweiten Flasche Rotwein angelangt, als Verena fragte: »Bist du eigentlich verheiratet?«

Mona lachte laut auf. »Du meinst mit einem Mann – mit weißem Kleid und Trauschein und so?«

»Was ist daran so abwegig?«, fragte Verena begriffsstutzig. Monas Blick war mit einem Mal unergründlich, und Verena wurde unsicher.

»Willst du tatsächlich sagen, dass du nie etwas bemerkt hättest?«

Verena starrte sie nur verständnislos an.

Mona schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich stehe nicht auf Männer. Noch nie.« Wieder der undurchdringliche Blick. »Und ich war mir eigentlich hundertprozentig sicher, dass du damals mit Kathrin …«

»Was?«, sagte Verena atemlos. Ihr schlug das Herz bis zum Hals.

Mona grinste verlegen. »Na ja, ich war mir sicher, dass da was lief zwischen euch beiden.«

Verena spürte, dass sie rot wurde bis in die Haarwurzeln. »Ich …«

»Wusste ich’s doch«, lachte Mona zufrieden.

Verena war tatsächlich sprachlos.

»Mensch, Verena. Du schämst dich doch nicht etwa, oder?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Ich – ich hatte nur irgendwie nicht damit gerechnet, dass du das gemerkt hast, und ich hatte keine Ahnung, dass du …« Sie lachte plötzlich auf und hob dann ihr Glas. »Ich war damals wirklich etwas naiv, Mona.«

Auch Mona hob ihr Glas. Sie lächelte zweideutig. »Das warst du, Verena!«

Verena blinzelte überrascht. »Was meinst du?«

Mona senkte den Blick. »Nichts, wirklich, vergiss es.«

Verena insistierte nicht. Ehe das Schweigen unbehaglich wurde, sagte Mona leise: »Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten, es geht mich ja nichts an. Ich freue mich wirklich, dich mal wieder zu sehen. Welche Vorträge willst du denn morgen noch besuchen?«

Sie sprachen noch über die Meetings des nächsten Tages, Verenas geplanten Besuch am Mass General im Anschluss an den Kongress und tauschten ihre Handynummern aus. Doch sie verabredeten sich nicht noch einmal.

 

An diesem Abend lag Verena lange wach. Sie grübelte über Monas Worte nach. »Das warst du!« in Anspielung auf ihre Naivität. All das war mehr als fünfzehn Jahre her. Sie war nicht böse über Monas Bemerkung. Kathrin hatte ihr das Gleiche schon hundertmal gesagt. Aber es tat irgendwie weh, es nach so langer Zeit von einer ehemaligen Freundin gesagt zu bekommen. War Mona überhaupt je eine Freundin gewesen? Ja, während des Studiums auf jeden Fall. Vielleicht nicht ihre engste Freundin, aber sie war Teil der Clique gewesen, und Verena hatte sie gemocht.

Wie hatte sie dann übersehen können, dass Mona lesbisch war? Und wenn sie die Andeutung vom Nachmittag richtig deutete, sogar irgendwann einmal ein Auge auf sie geworfen hatte? Nein, Verena hatte es nicht kapiert. Sie hatte ja auch fast ein Jahr gebraucht, bis sie damals begriffen hatte, was sie zu jener Zeit für Kathrin empfand.

 

Verena schlief nicht besonders gut in dieser Nacht. Am nächsten Morgen war sie unkonzentriert, aber die Vorträge waren zum Glück nicht wirklich bahnbrechend. Sie merkte, wie sie sich mehrmals dabei ertappte, dass sie nach Mona Ausschau hielt, aber die war nirgends zu sehen.

Die beiden Tage am Mass Gen Hospital lenkten sie schließlich ab. Sie hatte die Gelegenheit, bei zwei größeren OPs mit dem neuen Laserskalpell zuzusehen, und so kam sie mit einigen neuen Ideen zurück. Auf dem Heimflug machte sie auf dem Laptop bereits Pläne für die Anschaffung eines neuen Lasers, wie sie ihn in der Klinik im Einsatz gesehen hatte, und kalkulierte die Kosten. Sie wollte sich unbedingt für die Investition einsetzen. Die Gedanken an das Treffen mit Mona rückten in den Hintergrund.

Stefan holte sie zusammen mit Tim am Flughafen ab. Ihr Mann küsste sie liebevoll auf den Mund. »Papa«, sagte der Zehnjährige verschämt. Verena zwinkerte ihm zu und nahm Stefans Hand. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Schatz.« Der Streit, den sie vor dem Abflug gehabt hatten, war vergessen.

»Was ist mit Dani?«, fragte Verena, weil die Große nicht mitgekommen war.

»Sie muss lernen – hat morgen eine Matheklausur.« Dani war Stefans jüngere Tochter aus erster Ehe. Seine damalige Frau Melanie war früh gestorben. Als er Verena kennengelernt hatte, war sie für die damals fünfjährige Dani sofort zur Ersatzmutter avanciert, und Verena betrachtete sie längst als ihre eigene Tochter. Die ältere – mittlerweile fünfundzwanzigjährige – Tatjana jedoch hatte sich mit ihr einen jahrelangen Kampf um die Gunst des Vaters geliefert. Ihr Verhältnis hatte sich erst entspannt, nachdem Verena ihr geholfen hatte, ihre Drogensucht zu überwinden.

Ihr Flugzeug war am späten Nachmittag angekommen, aber Verena zwang sich, wach zu bleiben, damit sie den Jetlag besser überstand. Sie berichtete Stefan begeistert von den neuen Methoden in der Laserchirurgie, welche die amerikanischen Kolleginnen und Kollegen am Mass Gen einsetzten. Auch wenn es nicht sein Fachgebiet war – Stefan war Gynäkologe in eigener Praxis –, konnte er Verenas Eifer verstehen. Er lächelte sie liebevoll an. »Ich muss dir etwas sagen, Verena.«

Sie hob überrascht den Kopf.

»Ich weiß, dass ich es dir in letzter Zeit nicht gerade leicht gemacht habe. Du hast früher schon viel gearbeitet, aber seit du die Stelle an der Uniklinik hast, bist du kaum noch zu Hause, und es ist für mich einfach noch etwas ungewohnt.«

Verena merkte, wie ihre gute Stimmung verflog, und sie wollte schon zu der üblichen Verteidigungsrede ansetzen, wie sehr sie der neue Job ausfüllte und dass sie die letzten Jahre für die Familie zurückgesteckt hatte, als Stefan ihr sanft den Finger auf die Lippen legte. »Schsch, lass mich doch erst mal ausreden, ehe du gleich wieder in Kampfstellung gehst. Ich wollte dir schon lange sagen, dass ich sehr stolz auf dich bin.«

Verena sah ihn misstrauisch an. »Ehrlich?«

»Ehrlich.«

»Warum fühlt es sich dann nie so an?« Sie merkte, wie ihr fast die Tränen kamen.

»Weil ich mich vielleicht noch nicht daran gewöhnt habe, dass meine Frau karrieremäßig gerade voll durchstartet.« Er lachte etwas verlegen.

 

Für den nächsten Tag hatte Verena sich mit Kathrin zum Mittagessen verabredet. Kathrin, von der Mona angenommen hatte, dass Verena mit ihr nach der Studienzeit ein Verhältnis hatte, war seit vielen Jahren ihre beste Freundin. Allerdings war der Begriff Verhältnis eine mehr als unzureichende Umschreibung für die damals so verworrene Beziehung zwischen den beiden.

Verena dachte einen Augenblick daran, wie sie sich kennengelernt hatten. Kathrin Sanders war ihre Patientin gewesen. Sie, Verena, hatte als Einzige erkannt, dass deren Autounfall ein verschleierter Selbstmordversuch war. Damals hatte sie sich das Bedürfnis, der in der Tat psychisch kranken Kathrin um jeden Preis ins Leben zurückzuhelfen, nicht erklären können. Die Faszination, die diese Frau auf sie ausgeübt hatte, war so weit gegangen, dass sie sich entgegen des Rates von Freundinnen und Freunden und ihres Professors über alle ärztlichen Grenzen hinweg um sie gekümmert und es nach einer monatelangen Auseinandersetzung geschafft hatte, Kathrin zu einer Therapie zu überreden. Irgendwie entwickelte sich daraus eine chaotische und leidenschaftliche Liebesbeziehung, die beiden in ihrer Intensität den Atem raubte. Allerdings dauerte sie nur kurz, denn Verena konnte nicht damit umgehen, eine Frau zu lieben. Ihr war längst klar, wie sehr sie Kathrin damals verletzt hatte. Dennoch waren sie noch immer eng befreundet, und es gab wenig bis nichts, das die beiden nicht voneinander wussten. Die Intimität der ersten Monate, in denen Verena um Kathrins Lebenswillen gekämpft hatte, schien sie auf ewig miteinander verschworen zu haben.

Das Essen war bisher ereignislos verlaufen. Kathrin, eine inzwischen weit über die Szene hinaus bekannte Schriftstellerin, erzählte von ihrer jüngsten Lesereise, Verena erzählte von Boston. Plötzlich hielt sie mitten im Satz inne.

Kathrin sah sie irritiert an. »Was ist denn?«

»Erinnerst du dich eigentlich noch an Mona?«

Kathrin runzelte die Stirn. »Eine etwas kurvige Rothaarige?«

»Hm-hm.«

»Wie kommst du plötzlich auf sie? Du hast sie nie erwähnt. Ich kann mich nicht erinnern, je mehr als ein paar belanglose Worte mit ihr gewechselt zu haben.« Sie grinste in sich hinein. »Nicht dass ich damals überhaupt viel geredet hätte, wenn du mich irgendwohin mitgenommen hast.«

Das stimmte. Kathrin war damals meist das stumme und etwas schräge Anhängsel von Verena gewesen. Von der verschüchterten, schreckhaften Maus war heute nichts mehr übrig.

Verena fuhr wie in Gedanken fort. »Ich habe sie zufällig in Boston wiedergetroffen. Sie arbeitet als Anästhesistin am Berliner Marie-Curie-Krankenhaus.«

»Mhm«, meinte Kathrin uninteressiert. »Was treibt sie denn so?«, schob sie nach, als sie Verenas Gesichtsausdruck sah.

Verena lächelte schief. »Wie wir alle hat sie beruflich ihren Weg gemacht. Sie ist stellvertretende Leiterin der Intensivstation. Und sie hat mir gesagt, dass sie lesbisch ist – und auch damals schon war. Hast du das je mitbekommen?«

Kathrin schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich war zu sehr mit mir beschäftigt. Wir beide waren zu sehr mit uns beschäftigt.«

»Sie hat nach uns beiden gefragt.«

»Wirklich? Was hast du gesagt?«

Verena lächelte peinlich berührt. »Ich habe es zumindest nicht abgestritten«, antwortete sie verlegen.

Kathrin konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es gab eine Zeit, da hätte Verena um keinen Preis zugegeben, dass sie einmal mit ihr zusammengewesen war. »Werdet ihr euch wiedersehen?«

»Nein, es war ja nur eine zufällige Begegnung. Was machen Carmen und du eigentlich am Wochenende?« Verena wechselte das Thema. Selbst mit ihrer besten Freundin wollte sie Monas doppeldeutige letzte Worte nicht erörtern. Und überhaupt, vielleicht hatte sie ja etwas hineininterpretiert, was gar nicht da war?

Aber da kannte sie Kathrin schlecht, die Verena nach all den Jahren einzuschätzen gelernt hatte. »Du hast wieder diesen Blick, Verena.«

»Welchen Blick?«

»Den du immer hast, wenn dir eine Frau gefällt und du es nicht zugeben kannst.«

Verena reagierte gereizt. »Red doch keinen Unsinn!«

»Wenn du meinst …« Kathrin ließ den Rest ihrer Worte unausgesprochen in der Luft hängen.

Doch Verena wusste ganz genau, worauf die Freundin anspielte. Nämlich dass sie – Verena – sich vor einigen Jahren von Kathrins jetziger Lebensgefährtin Carmen nach allen Regeln der Kunst hatte verführen lassen. Und zwar pikanterweise während sich die Sache zwischen Kathrin und Carmen bereits angebahnt hatte, auch wenn die beiden zu dem Zeitpunkt noch nicht offiziell zusammengewesen waren. Ein unbedachtes Wort würde nur alte Wunden aufreißen. Verena warf einen hastigen Blick auf ihre Uhr. »Mein Dienst beginnt in einer halben Stunde. Ich muss los.«

Bussi links und rechts auf die Wange, weg war sie.

Der Verkehr quälte sich durch die Münchner Innenstadt. Auf der Leopoldstraße schnitt Verena versehentlich einen Porsche, der prompt ein wildes Hupkonzert startete. Sie verkniff es sich gerade noch, ihm den Mittelfinger zu zeigen. Kathrins letzte Bemerkung hatte ihr gründlich die Laune verdorben.

Eine Schwester sah sie erstaunt an, als Verena sie wegen einer Lappalie barsch anfuhr. Die leitende Chefärztin war nicht dafür bekannt, ihren privaten Ärger am Pflegepersonal auszulassen.

Bei der erstbesten Gelegenheit zog Verena sich in ihr Büro zurück. Kathrins Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn. Sie war fahrig und unkonzentriert, und wenn sie nicht bald besser aufpasste, konnte ihr ein Fehler unterlaufen, was absolut inakzeptabel war. Sie rieb sich die Stirn, nahm zwei Kopfschmerztabletten und machte sich an ihre Reisekostenabrechnung. Vielleicht beruhigte sie sich etwas, wenn sie sich hinter Zahlenkolumnen verschanzen konnte.

 

In den nächsten Tagen rückten die Erinnerung an das Treffen mit Mona und das Gespräch mit Kathrin in den Hintergrund. Verena bekam in der Tat die Genehmigung der Klinikverwaltung, ein modernes Laserskalpell für die Unfallchirurgie zu erwerben, wie sie es in Boston gesehen hatte, und war eingespannt in Budgetplanung und Einkaufsverhandlungen. Danach arbeitete sie mit an der Inbetriebnahme und den Testphasen. Nach mehreren Monaten war das Gerät voll einsatzbereit. Da Verena das Projekt maßgeblich geleitet hatte, war sie auch diejenige, deren Gesicht und Namen in mehreren Münchner Zeitungen und ärztlichen Fachzeitschriften auftauchte. Plötzlich sah sie sich mit einer Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit konfrontiert, die ihr bis dahin vollkommen fremd gewesen war.

Es dauerte nicht lange, bis Stefan ihr unter die Nase rieb, ob der neue Ruhm ihr zu Kopf gestiegen sei. Er beschwerte sich wieder einmal, dass sie keine Zeit mehr für die Familie habe, dafür aber umso mehr Zeit bei irgendwelchen Veranstaltungen und Vorträgen verbringe. Sie hatten mehr Streit als je zuvor. In einer der seltenen Nächte, in der sie endlich wieder einmal miteinander schliefen, fragte Verena sich, wann das kribbelnde Gefühl im Bauch verschwunden war, das sie früher mit Stefan verband. Ihr Liebesspiel schien ihr plötzlich einstudiert und leidenschaftslos. Was sie früher angetörnt hatte, schien wie eine vage Erinnerung an ein anderes Leben. Und wieso hatte sie plötzlich das Gefühl, als würde ihr Mann eine Pflicht an ihr absolvieren? Abrupt setzte sie sich auf. »Es geht so nicht«, murmelte sie vorwurfsvoll.

Stefan versuchte, sie mit Zärtlichkeiten über die Enttäuschung hinwegzutrösten, aber schließlich drehte sie ihm müde und mit einem bitteren Gefühl in der Kehle den Rücken zu.

Und wann hatte sie den Kumpel und Freund verloren, mit dem sie über Probleme reden und sie anschließend weglachen konnte? Ob es darum ging, dass sie Dani mit elf beim heimlichen Rauchen erwischt hatten oder dass Timmi versehentlich die Windschutzscheibe des nagelneuen Golf Tuareg der gerade eingezogenen Nachbarn mit einem Ziegelstein zertrümmert hatte – immer hatten sie gemeinsam mit den Kindern gesprochen und dann nach einer Lösung gesucht. Aber neulich war Stefan sich nicht zu schade gewesen, ihr die Schuld daran zu geben, dass Tim in der Schule mit einem anderen Jungen in eine Rangelei geraten war.

Früher hatte Stefan ihr außerdem zugehört, wenn sie über die Arbeit sprach, über Probleme mit Kolleginnen oder Kollegen oder über Vorschriften, die sie für nicht tragbar hielt. Oft hatte er ihr einen guten Rat gegeben, doch heute ließ er nur noch besserwisserische Kommentare ab, die ihr nicht weiterhalfen.

Obwohl es sie bedrückte, sprach Verena mit niemandem darüber, was in ihr vorging. Sie traf sich auch mit Kathrin nur noch selten. Die Arbeit war immer ein guter Grund, um eine Verabredung abzusagen. Ihre kurzen Telefonate blieben oberflächlich, und Verena wich Kathrins bohrenden Fragen beharrlich aus.

Schließlich gelang es Kathrin, Verena zu überrumpeln. An einem Sonntagmorgen stand sie mit angeblich schweren Kopfschmerzen und krampfartiger Übelkeit in der Notaufnahme und verlangte hysterisch nach Dr. Verena Gessner und niemandem sonst. Sie war so überzeugend, dass Verena innerhalb von fünf Minuten persönlich vor ihr stand.

»Was machst du hier für einen Aufstand?«, fragte Verena leicht unwirsch, aber nicht minder erstaunt. Und zumindest für den Bruchteil einer Sekunde musterte sie die Freundin auf Anzeichen hin, ob etwas an ihrer Geschichte womöglich stimmte.

Kathrin hielt sich stöhnend den Kopf. »Ein schwerwiegendes Kommunikationstrauma, das nur durch das persönliche Eingreifen von Dr. Gessner selbst aus der Welt zu schaffen ist.« Eine Schwester, die das Schauspiel mittlerweile durchschaut hatte, sah amüsiert zu ihnen herüber.

»Kathrin, ich bin mitten bei der Arbeit.«

»Ich brauche eine halbe Stunde deiner wertvollen Zeit.« Sie sah sich um. »Momentan liegt hier keiner im Sterben, oder? Die Alkoholleichen von gestern Nacht sind durch, und sonst sieht es mir eher ruhig aus, soweit ich als Laie das beurteilen kann.« Ihre Stimme wurde leiser. »Verena, ich werde hier nicht weggehen, ehe du endlich vernünftig mit mir redest. Ich kann es vor allen Leuten tun, oder wir gehen in dein Büro.«

Verena wandte sich zum Gehen. »Komm mit!«, fauchte sie.

In ihrem Büro angekommen, fragte sie schließlich doch: »Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

Kathrin nickte und setzte sich in einen der Sessel einer kleinen Sitzgruppe. Sie ließ ihren Blick durch das hell eingerichtete Büro schweifen. »Schön hast du es hier!«

»Danke«, antwortete Verena knapp. Sie brachte zwei Tassen Kaffee, stellte eine vor Kathrin und setzte sich ihr dann gegenüber. Eine Spur freundlicher fragte sie: »Ist etwas passiert, das du mir nicht am Telefon hättest sagen können?«

Kathrin musterte die Freundin aufmerksam. »Das war eigentlich meine Frage, Verena. Was um alles in der Welt ist mit dir los, dass du dich so abschottest? Du vergräbst dich in deine Arbeit, wimmelst mich bei jeder Gelegenheit innerhalb von fünf Minuten am Telefon ab. Habe ich etwas getan, das dich in irgendeiner Weise verletzt oder beleidigt hat?«

Verena sah sie erschrocken an. »Nein, o Gott, bitte entschuldige, Kathrin. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass du das so verstehen könntest.«

»Das habe ich eigentlich auch nicht – meine Frage war eher eine Rückversicherung. Ich habe mir schon gedacht, dass es nichts mit mir zu tun hat, sondern dass du ein Problem hast, in das du dich wieder einmal ganz alleine verbeißt. Und so gut wie es momentan beruflich bei dir läuft, nehme ich an, dass es privater Natur ist.«

Verena zuckte zusammen. Dass Kathrin dieses Gespräch ausgerechnet in ihrem Büro mit ihr anfing, brachte sie aus der Fassung. Sie trennte ihre privaten Angelegenheiten strikt von ihrem Berufsleben. Kathrin hatte ein ungeschriebenes Gesetz zwischen ihnen beiden gebrochen und das mit voller Absicht.

Sie wollte Kathrin gerade wütend eine weitere Abfuhr erteilen, als diese überraschend über den Tisch langte und ihr die Hand auf den Arm legte. »Du kannst dich immer weiter hinter deiner Arbeit verschanzen, Verena, oder du kannst dir endlich von der Seele reden, vor was auch immer du seit Wochen davonläufst. Ich habe es satt, einen Zombie zur Freundin zu haben, die nur noch unverbindliche Höflichkeitsfloskeln von sich gibt, mir ansonsten nicht zuhört und noch viel weniger spricht.«

Verena schluckte. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Aber sie wusste eines – wenn sie jetzt mit Kathrin redete, würde sie früher oder später in Tränen ausbrechen. Eher früher, dachte sie panisch, als sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Sie schluckte noch einmal hart. »Ich kann jetzt nicht, Kathrin. Nicht hier – ich habe in einer halben Stunde Visite. Ich kann es mir nicht leisten …« Sie sah weg, biss sich auf die Unterlippe.

»Du kannst es dir nicht leisten, jetzt die Contenance zu verlieren«, beendete Kathrin den Satz für sie. Sie strich ihr über die Wange. »Wann machst du heute Schluss?«

»Um vier.«

»Ich hole dich unten am Haupteingang ab. Bis dahin kannst du entscheiden, ob du mit mir essen gehen willst oder mit zu mir fährst.«

»Ich kann dir nicht versprechen, dass ich pünktlich hier rauskomme.«

»Das macht nichts. Du hast meine Nummer und kannst mich anrufen.«

Kathrin stand auf. Sie gab Verena einen zarten Kuss auf die Wange. »Ich warne dich, meine Liebe, wenn du mich nachher versetzt, ziehe ich die gleiche Show morgen wieder ab. Und ich denke, dass am Montag mehr da unten los sein wird als jetzt. Wenn du also Getuschel vermeiden willst, haben wir heute ein Date.« Sie grinste frech und war zur Tür hinaus, ehe Verena etwas erwidern konnte.

 

Der Rest des Nachmittags verlief ereignislos, so dass Verena tatsächlich bereits um kurz nach vier Uhr zu Kathrin ins Auto steigen konnte. Sie tat es mit einem eher mulmigen Gefühl.

»Also, wohin fahren wir?«, fragte Kathrin salopp.

»Ist Carmen zu Hause?«, fragte Verena. Sie konnte sich immer nur wundern, dass die beiden so unterschiedlichen Frauen nun schon seit fast fünf Jahren zusammen waren. Wenn man es recht betrachtete, war Carmen Kathrins erste längere Beziehung. Die beiden hatten es aufgrund ihres Altersunterschieds nicht immer leicht miteinander, aber Kathrin legte zumeist eine Souveränität an den Tag, an der Carmens manchmal etwas unreife Art einfach abperlte. Verena wünschte, sie könnte auf Stefans Sticheleien wegen ihres Jobs ähnlich gelassen reagieren.

»Nein, sie hat Dienst.« Dann sah sie Verena von der Seite her an. »Selbst wenn, würde sie verstehen, dass dies ein Gespräch unter vier Augen wird.« Sie überlegte einen Moment, um dann noch hinzuzufügen: »Und ich freue mich wirklich, dass du mich nicht wieder versetzt hast.«

Verena war verblüfft von ihrer Ernsthaftigkeit. »Ich hatte keine Wahl, so charmant wie du mich gebeten hast«, antwortete sie dann lächelnd. Sie merkte, wie sie sich etwas entspannte. Vermutlich war es doch gut, endlich mit jemandem zu reden.

 

»Hast du Hunger? Ich nehme nicht an, dass du schon gegessen hast.« Ehe Verena antworten konnte, zog Kathrin sie mit in die Küche. »Wir sehen einfach mal, was der Kühlschrank so hergibt.« Als Erstes schenkte sie ihnen beiden ein Glas Weißwein ein und stieß mit Verena an. Nachdem sie dann innerhalb von nicht mal fünf Minuten Weintrauben, Käsewürfel und aufgeschnittenes Baguette auf dem Tisch arrangiert hatte, war Verena klar, dass dies kein zufällig zusammengestelltes Mahl war. Kathrin kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie private Dinge ungern in einem Restaurant besprach, und hatte alles vorbereitet.

Kathrin war sehr behutsam. Sie aßen gemütlich, und Verena spürte förmlich, wie die Freundin versuchte, eine lockere Gesprächsatmosphäre aufzubauen. Dennoch geriet sie ins Stocken, als Kathrin sich schließlich zurücklehnte. »Schluss mit dem Smalltalk, Frau Doktor. Was ist los mit dir, dass du dich so verkriechst?«

Verena studierte angelegentlich ihre Fingernägel. Kathrin drängte sie nicht; sie ergriff Verenas Hand und verflocht ihre Finger miteinander. Der sanfte und beruhigende Druck wirkte. Verena hob den Blick.

»Ich glaube, Stefan kann sich nicht damit abfinden, dass ich plötzlich Karriere mache. Er hat an allem, was ich tue, etwas auszusetzen. Er wirft mir vor, dass ich Timmi vernachlässige und ihn sowieso. Das Ironische ist, dass sowohl Tim als auch Dani mir gesagt haben, dass sie stolz auf mich sind, als der ganze Rummel mit dem neuen Laser losging. Aber Stefan scheint mit einem Mal der Ansicht zu sein, ich wäre eine karrieregeile Powerfrau.«

Kathrin grinste. »Na, eine Powerfrau bist du in jedem Fall.«

Verena war nicht nach Lachen zumute. »Kathrin, wir streiten nur noch. Natürlich nimmt mich mein Job in Anspruch, und natürlich sehen wir uns weniger. Aber müssen wir denn in der verbleibenden Zeit auch noch ständig aneinandergeraten?« Sie sah die Freundin ratlos an. »Wir streiten wegen dem kleinsten Mist – weil ich angeblich Timmis Hausaufgaben nicht oft genug kontrolliere, obwohl er nur super Noten schreibt, weil ich Stefan nicht gesagt hätte, dass es später wird, was lächerlich ist. Ich arbeite seit zehn Jahren in der Unfallchirurgie – er weiß, dass sich Unfälle nicht planen lassen, sowenig wie ich ihn aus dem OP heraus anrufen kann. Es ist, als fände er plötzlich an allem, was ich sage und tue, etwas auszusetzen. Ich warte darauf, dass er mich wegen der sprichwörtlich falsch ausgedrückten Zahnpastatube anraunzt.«

Kathrin sah sie mitfühlend an. »Er kommt nicht damit zurecht, dass seine Frau beruflich auf der Überholspur ist.« Sie war nachdenklich. »Das hätte ich nicht von ihm gedacht.«

»Nein, ich auch nicht. Es ist schon so schlimm, dass sogar Tatjana und Dani ihm gesagt haben, er solle sich nicht so anstellen.«

Verena konnte nicht mehr stillsitzen. Sie stand auf und lehnte sich an die Anrichte, die Arme vor der Brust verschränkt. »Es ist, als kenne ich ihn plötzlich nicht mehr.« Sie erzählte Kathrin von einigen der jüngsten Begebenheiten und konnte nicht umhin, sich erneut über seine ungerechte und besserwisserische Art aufzuregen. Ein Zug, den sie an dem Mann, den sie geheiratet hatte, früher nicht gekannt hatte.

Kathrin schaute sinnierend vor sich hin. Verenas und Stefans Beziehung hatte Tatjanas Drogensucht und besagten Seitensprung mit Carmen ausgehalten. Sie hatte auch ausgehalten, dass Verena und sie in grauer Vorzeit ein Paar gewesen waren. Und nun sollte die simple Tatsache, dass Verena Stefan beruflich überflügelte, sie plötzlich in Gefahr bringen?

»Bist du sicher, dass das alles ist?«

Verena schaute sie überrascht an. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte sie verunsichert.

Kathrin blieb geduldig und tat so, als bemerke sie Verenas Verzögerungstaktik nicht. »Ich meine, ob du sicher bist, dass deine Karriere wirklich der Grund für eure Probleme ist, oder ob es sich nur um ein Symptom handelt, und der wahre Grund liegt ganz woanders? Oder war das womöglich noch gar nicht alles …?«

Verena wurde rot. Natürlich war Kathrin nicht so leicht abzuspeisen. Sie hatte sich immerhin die Mühe gemacht, sie im Krankenhaus abzupassen. Verena riss sich zusammen. Die Freundin hatte es verdient, dass sie ehrlich zu ihr war!

»Ich mag nicht mehr mit ihm schlafen«, sagte sie dann leise und sah wieder auf ihre Fingernägel hinab. »Ich kann nicht mit ihm streiten und dann im Bett so tun, als wäre alles gut.« Sie musste sich einen Ruck geben, um Kathrin anzusehen. »Und wenn ich mit ihm schlafe, dann ist da nichts mehr …«, fuhr sie unsicher fort, »kein wirkliches Begehren, keine echte Leidenschaft.«

Kathrin schaute in Verenas tränenverschleierte Augen. Sie überlegte, ob sie ihr mit einem banalen Trost wie ›Das ist doch in jeder Beziehung mal so‹ oder etwas Ähnlichem kommen durfte. Dann entschied sie sich dagegen. Wenn Verena sagte, dass die Leidenschaft, die Stefan und sie all die Jahre miteinander verbunden hatte, abgeflaut war, dann ließ sich das nicht als Lappalie abtun. Selbst wenn es banal klang, aber irgendwie waren die beiden für sie so etwas wie das letzte Musterpaar in ihrer gesamten Umgebung gewesen. Wenn sie es recht überlegte, waren sie das einzige Paar in ihrem größeren Bekanntenkreis, das nicht einfach aus Gewohnheit so lange zusammen war.

Kathrin stand wortlos auf und schenkte ihnen beiden ein weiteres Glas Wein ein. »Und wie lange trägst du das alles schon mit dir herum, ohne mit jemandem gesprochen zu haben?«

Verena biss sich auf die Zunge. »Ich weiß nicht … Ich kann nicht sagen, wann es angefangen hat. Aber ich weiß, dass diese Streitereien unsere Beziehung kaputtmachen. Mit jedem Streit geht ein weiteres Stück Vertrauen in die Brüche. Ich kann so nicht mehr weitermachen.«

Kathrin stellte die Flasche Wein zurück in den Kühlschrank und trat neben Verena. »Komm mal her.« Kathrin legte den Arm um sie, und endlich konnte Verena die Tränen weinen, die sie so angestrengt zurückgehalten hatte.

Nach einigen Minuten hatte sie sich wieder einigermaßen gefangen. »Danke«, sagte sie dann einfach. »Danke, dass du heute früh nicht nachgegeben hast.« Sie schmunzelte. »Du warst echt peinlich!«

»Ich weiß, es hilft, dass mein Gesicht ab und an in den Klatschblättern auftaucht und ich das eine oder andere Autogramm verteilen konnte. Da nehmen einem die Leute eher ab, dass man etwas überspannt ist. Du wirst schon sehen, was du demnächst von deiner eigenen Berühmtheit hast«, foppte Kathrin sie. »Vielleicht kommst du im Supermarkt schneller dran.«

»Oder die Leute fragen mich mitten auf der Straße um ärztlichen Rat …«, murmelte sie. »Alles schon passiert.« Dann fasste sie sich. »Ich weiß zwar jetzt immer noch nicht, wie es weitergehen soll, aber es hat mir tatsächlich gutgetan, mit dir zu reden.«

Kathrin strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wann wirst du lernen, deine Probleme nicht immer in dich hineinzufressen? Wenn ich mich nur eine Woche so verhalten hätte wie du dich in letzter Zeit, hättest du mir eine Therapie verordnet!«

Verena verzog das Gesicht.

»Das war nur Spaß, Verena!«, lächelte Kathrin milde. »Ich rufe dir ein Taxi.« Wie in all den Jahren verabschiedeten sie sich mit einem sanften Freundschaftskuss auf die Lippen.

Kathrin blieb dennoch nachdenklich zurück. Sie war froh, dass sie nun immerhin wusste, was mit der Freundin los war, und sie hatte in der Tat etwas Ähnliches vermutet. Aber eine Frage hatte sie Verena dennoch nicht gestellt, obwohl sie ihr auf der Zunge brannte: Wie viel hatte ihre zufällige Begegnung mit Mona Grafenbach mit ihren momentanen Problemen zu tun?

KAPITEL 2

 

»Ach, Verena«, rief ihr Chef, Professor Meinhard, am nächsten Morgen hinter ihr her. »Was halten Sie von einer kurzen Stippvisite in Berlin?«

Verena drehte sich gespannt um. »Berlin?«

»Jawohl! Das Marie-Curie will uns offensichtlich in nichts nachstehen. Sie wollen in den nächsten Monaten ein ähnliches Laserskalpell erwerben wie wir und bitten um unsere fachliche Unterstützung bei der Auswahl. Frau Professor Conrad hat bei mir angefragt, ob ich Sie für ein paar Tage entbehren könnte.«

»Das Marie-Curie?«, fragte sie überrascht.

Professor Meinhard lächelte. »Ja, das Marie-Curie! Ihnen ist doch wohl bekannt, dass sich dort eine der größten Trauma- und Intensivabteilungen Europas befindet. Die Damen und Herren wollen sich von uns nicht abhängen lassen, und Ihre hochprofessionelle Einführung des Lasers hat in der Fachwelt offensichtlich Eindruck gemacht.«

»Natürlich.« Verena rang sich ein Lächeln ab, das offenbar misslang.

»Stimmt etwas nicht? Soll ich lieber Karsten schicken?«

Verena riss sich zusammen. »Nein, natürlich nicht. Ich mache das sehr gerne. Wann soll ich fliegen?«

»Die Planung überlasse ich Ihnen. Sie machen das am besten mit Professor Conrad direkt aus. Hier sind ihre Kontaktdaten.« Er drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand.

»Okay«, murmelte Verena verdutzt. Sie machte sich auf den Weg in ihr Büro und ließ sich in ihren Stuhl fallen. Wie soll ich das denn wieder Stefan beibringen?, dachte sie. Und dann ließ sie zu, dass ein anderer Gedanke sich Raum verschaffte … Sie würde Mona wiedersehen! Sie wunderte sich, warum sie bei der Erinnerung an Mona einen kleinen freudigen Stich verspürte.

Dann setzte ihr Verstand ein. Was ist eigentlich los?, schalt sie sich. Du hast fünfzehn Jahre nicht an Mona gedacht, und nun hast du dich ein Mal mit ihr zum Abendessen getroffen und gerätst derart aus dem Häuschen bei dem Gedanken, sie wiederzusehen? Aber was war schon dabei, wenn sie doch nun zufällig das Krankenhaus besuchen würde, in dem sie arbeitete? Es wäre ja wohl höchst unhöflich, Mona nicht zu sagen, dass sie kam, oder?

Doch zuallererst musste sie mit Professorin Anna Conrad einen Termin vereinbaren. Danach konnte sie ein weiteres Abendessen mit Mona Grafenbach planen. Ohne zu zögern wählte sie die Durchwahl auf der Visitenkarte. Sie war sich sicher, dass sie nur im Vorzimmer landen würde.

»Conrad«, meldete sich eine tiefe rauchige Stimme bereits nach dem zweiten Klingeln.

»Frau Professorin Conrad?«, fragte Verena überrascht nach.

»Dieselbige«, kam es ungeduldig aus dem Hörer. »Und darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe?«

Verena verhaspelte sich beinahe, als sie sich vorstellte. Sie nannte den Grund ihres Anrufs und dass sie plane, nach Berlin zu fliegen.

Die rauchige Stimme klang mit einem Mal sehr viel freundlicher. »Ah, prima. Ich freue mich, dass Sie sich die Zeit dafür nehmen wollen. Wie bald können Sie kommen?«

Verena checkte schnell ihren Kalender. »Wie wäre es mit Montag/Dienstag übernächster Woche?« Sie vernahm kurzes Tastengeklapper. Vermutlich prüfte Professorin Conrad nun ihrerseits ihre Termine.

»Das wäre wunderbar! Am besten, Sie schicken mir Ihre Daten per E-Mail, dann bekommen Sie von mir alles Weitere – eine Teilnehmerliste, den genauen Termin und so. Sobald Sie wissen, wann Ihr Flug landet, geben Sie mir Bescheid. Dann hole ich Sie entweder ab oder arrangiere etwas.« Die Professorin war offensichtlich von der effizienten Sorte und überließ nichts dem Zufall.

Verena bedankte sich und versprach, sich schnellstmöglich mit Kontakt- und Flugdaten wieder zu melden.

 

Ihr Gespräch mit Stefan über die Dienstreise endete wie befürchtet in einem neuen Streit. »Wir sind am Dienstagabend bei Peter und Andrea eingeladen. Sind dir unsere privaten Termine überhaupt nicht mehr wichtig?«

Ja, Verena hatte den Grillabend mit den beiden tatsächlich vergessen. Nun hatte sie zusätzlich zu ihrem Frust noch ein schlechtes Gewissen. Es half auch nichts, dass Peter und Andrea das Grillen völlig unkompliziert verschoben. Stefan grollte weiter.

Am Tag des Abflugs stand sie in der Küche, um Tims Pausenbrot zu machen. Normalerweise achtete sie darauf, dass sie ihm immer ein wenig frisches Obst mitgab.

Stefan bemerkte ihren suchenden Blick zur Obstschale. »Bananen und Äpfel sind alle.« Mehr musste er gar nicht sagen – es war klar, dass er ihr die Schuld gab, weil kein Obst mehr da war. Am vergangenen Abend war sie zu spät aus der Klinik gekommen, um noch beim Obsthändler haltzumachen, und Stefan wusste das natürlich.

Verena, sonst die Geduld in Person, feuerte ihm die Brotdose vor die Füße. »Dann kauf doch nächstes Mal selber ein, verdammt noch mal, wenn du siehst, dass etwas fehlt!«

»Ich habe nicht versprochen, Obst zu besorgen. Du brauchst hier nicht so auszurasten.«

Tim fing an zu weinen. »Wieso streitet ihr eigentlich andauernd!«

Dani packte eilig ihre Sachen und murmelte: »Ich hab ganz vergessen, dass wir heute Morgen Projektarbeit haben. Ich muss los.«

Verena machte Tim schweigend ein neues Pausenbrot und rief sich ein Taxi. Sie gab ihrem Sohn einen dicken Kuss auf die Wange und hielt ihn so fest, dass er sich freikämpfte. Mit gespielter Entrüstung wischte er sich die Wange ab. »Ich bin doch kein Baby!«

Verena lächelte ihn liebevoll an. Dann nahm sie ihren Koffer und ging, ohne sich von Stefan zu verabschieden. Das hatte sie noch nie zuvor getan. Im Taxi hielt sie mühsam die Tränen zurück. Sollte sie Kathrin anrufen? – Wozu?, fragte sie sich dann. Die würde ihr auch nicht helfen können.

Was war überhaupt Stefans Problem? Sie schuftete zehn, zwölf oder manchmal auch mehr Stunden am Stück an der Klinik. Wenn sie nach Hause kam, kümmerte sie sich so gut es ging um Timmi, versuchte mit Stefan eine normale Beziehung aufrechtzuerhalten, aber nichts, was sie tat, war gut genug. In der Klinik erntete sie nur Lob von ihrem Chef und ihren Kolleginnen und Kollegen, und klar gab es Stress – mehr als genug. Aber der Beruf machte ihr Spaß, und sie genoss einen hervorragenden Ruf. Zu Hause war sie plötzlich die Versagerin, die Stefan nichts mehr recht machen konnte und seiner Ansicht nach Job und Familie nicht unter einen Hut brachte.

Die Kinder hingegen gaben ihr nie das Gefühl, dass sie nicht genug Beachtung erfuhren. Im Gegenteil – Dani, die dieses Jahr Abi machte, hatte angefangen, sich für Medizin zu interessieren, und zwar für ihr – Verenas – Fachgebiet, die Chirurgie, nicht für Stefans Gynäkologie. Sie machte mehr Schnupperwochenenden bei Verena in der Klinik, als für die Schule nötig waren und bemühte sich ernsthaft um einen Aushilfsjob im Pflegebereich.

Und ja, Timmi hatte eine Tagesmutter, aber das war auch schon so gewesen, als sie noch an der alten Klinik gearbeitet hatte. Es schadete ihm nicht, er war gut in der Schule, liebte seinen Gitarrenunterricht und hatte einen netten Freundeskreis. Verena kannte seine Freunde und konnte sie auch auseinanderhalten, was man von Stefan nicht behaupten konnte. Der Einzige, der also ein Problem hatte, war Stefan selbst. Und sie musste lernen, dass es in der Tat sein Problem war, und nicht ihres.

Dabei hatten sie durchaus gemeinsam entschieden, wie sie ihren Alltag gestalten würden, als Verena sich auf die Stelle beworben hatte. Hatte Stefan im Grunde nicht damit gerechnet, dass sie den Job auch bekam? War seine positive Haltung nur vorgespielt gewesen? Hatte er nur so getan, als stünde er hinter ihr? Aber das war nicht der Stefan, den sie kannte! Konnte man sich so in einem Partner täuschen?

 

Professorin Anna Conrad wollte es sich nicht nehmen lassen, sie persönlich vom Flughafen abzuholen, obwohl Verena das etwas übertrieben fand.

»Das müssen Sie doch nicht!«, wehrte sie am Telefon ab.

»Das ist wirklich kein Problem. Ich habe Montagmorgen keine Vorlesung, und so können wir noch einen frühen Lunch einnehmen und das erste Meeting am Nachmittag besprechen. Wie klingt das?«

»Gut, denke ich«, antwortete Verena.

»Okay, ich werde eine Rose im Knopfloch tragen«, flachste Anna Conrad.

Verena lachte.

Nun stand vor Verena eine große, etwas aufgedonnerte, aber nicht unattraktive Frau mit langen blonden Haaren, dunkler Sonnenbrille, engen Jeans und knapper kurzer Lederjacke, die lässig ein Schild mit ihrem Namen hochhielt. Verenas Blick wanderte einen Moment zu lange über die imposante Erscheinung, als dass es ihrem Gegenüber entgangen wäre. Verlegen schlug sie die Augen nieder und blinzelte, als schiene ihr die Sonne direkt ins Gesicht.

Anna Conrad lächelte Verena offen an. Sie streckte ihr die Hand entgegen und stellte sich vor. Wieder die dunkle rauchige Stimme, die Verena schon am Telefon beeindruckt hatte. »Sie können mich Anna nennen«, sagte sie. »Und wenn es nach mir geht, können wir uns auch duzen. Ich halte nichts von allzu formellem Umgang im Job.«

Verena stellte ihr kleines Bordcase ab und nahm die dargebotene Hand. »Verena Gessner«, sagte sie, ebenfalls lächelnd. »Und das Du ist okay.«

»Sehr schön. Dann lass uns essen gehen. Ich zeige mich immer gern mit einer attraktiven Frau im aktuell angesagten Café.«

Verena stutzte. Was war das denn? War ihr die Ironie in Anna Conrads Worten entgangen?

Das Mittagessen verlief dann aber überaus entspannt. Sie war mit Anna Conrad sofort auf einer Wellenlänge. Verena stellte ihr kurz vor, wie sie den Vortrag zu halten gedachte, und Anna gab ihr noch ein paar Tipps, was die Kolleginnen und Kollegen vermutlich hören wollten, welche Fragen sie stellen würden. Um kurz nach eins machten sie sich auf den Weg in die Uniklinik. Anna Conrad hatte einen Hörsaal reserviert, und Verena war doch leicht überrascht, als ihr bewusst wurde, vor wie vielen Leuten sie hier reden würde. Sie hatte an einen kleinen Meeting-Raum gedacht, und wenn sie gewusst hätte, dass dies ein Vortrag vor so großem Publikum werden würde, hätte sie sich anders vorbereitet. Anna hatte ihr auch gar keine Teilnehmerliste geschickt.

Irritiert sah sie Anna an. »Mir war nicht ganz klar, dass ich hier eine Vorlesung halten soll …«

Anna legte ihr eine Hand auf den Arm und sah sie an. Mit ihrer tiefen Stimme sagte sie: »Ich bin überzeugt, dass du das großartig machen wirst. Entspann dich.«

Verena konnte den Blick, den sie auffing, nicht wirklich deuten. Sie las Wärme und Aufmunterung in den großen dunklen Augen, aber auch etwas Unwägbares, Verschleiertes. Sie merkte, dass sie Anna wieder einen Moment zu lange anstarrte und wandte den Blick errötend ab.

»Danke für die Blumen«, murmelte sie verwirrt. Du machst dich einfach nur lächerlich, Verena Gessner, schalt sie sich.

Der Vortrag und die anschließende Diskussion waren ein voller Erfolg. Beschwingt lachte Verena Anna an, als diese ihr die Hand schüttelte und begeistert sagte: »Ich wusste doch, dass du toll sein würdest. Vollkommen souverän.«

Verena winkte nonchalant ab. »Letztendlich ist mir der OP doch lieber.«

Anna brachte sie zu ihrem Hotel, und sie verabredeten sich für sieben Uhr zum Abendessen. Mit Mona würde Verena am folgenden Tag nach dem zweiten Vortrag essen gehen.

Nachdem sie beim Telefonat mit Mona erfahren hatte, dass diese Anna kannte, hatte Verena versucht, sie ein wenig auszuhorchen. Doch Mona hatte überraschend kurzangebunden und ausweichend reagiert.

»Du magst sie wohl nicht besonders?«, hatte Verena festgestellt.

»Sie ist …« Mona zögerte.

»Was?«

»Ach nichts, wir können eben nicht miteinander. Sieh dich einfach vor, okay? Sie ist nicht so nett, wie sie sich gibt.«

»Danke, Mona. Ich bin ein großes Mädchen – ich kann auf mich aufpassen.«

»Ja, dann tu das bitte auch!« Mit diesen Worten hatte Mona aufgelegt, und Verena starrte perplex auf den Hörer. Was auch immer! Sie hatte keine Zeit für irgendwelches Geplänkel unter den hiesigen Kolleginnen. Zwei Tage, danach wäre sie wieder in München. Sie hatte mit Sicherheit nicht vor, hier zwischen irgendwelche Fronten zu geraten, die sie nichts angingen.

 

Das Abendessen mit Anna Conrad verlief zunächst sehr entspannt. Sie gönnten sich eine Flasche Wein, um auf den Erfolg anzustoßen.