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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

 

 

Katherine V. Forrest

 

Die Fremde im Pool

 

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Gerlinde Kowitzke

 

 

 

K+S digital

1. KAPITEL

 

Von der Arbeit heimgekehrt, eilte Carolyn Blake wie üblich durch das kühle, stille Haus in ihr Schlafzimmer. Sie hörte leises anhaltendes Plätschern vom Swimmingpool. Sie erstarrte, ihr Blick durchstreifte das Zimmer. Die Goldkettchen über ihrer Schmuckschatulle waren nicht angetastet. Wer immer da draußen badete, war kein Dieb, der sich dreist erfrischte, nachdem er das Haus leergeräumt hatte.

Kaum ließ ihre Angst nach, fühlte sie sich zunehmend irritiert. Sie schlich ins Wohnzimmer. Kinder, dachte sie, wohl irgendwie über die Mauer geklettert … Sie riss die Gardine vor der Glastür zum Garten beiseite.

Einen Augenblick lang starrte sie erschrocken auf die schemenhafte Gestalt im Swimmingpool. Noch ehe sie die Gardine fahrenlassen und zum Telefon stürzen konnte, schwang sich die Gestalt – schwarzhaarig, in Shorts und T-Shirt – auf den Rand des Pools.

Während Carolyn die Glastür aufschloss, erhob sich die Frau und hechtete mit einem sauberen Kopfsprung ins Wasser. Die Füße waren leicht gespreizt, beim Eintauchen der Schultern stoben kleine markante Spritzer empor. Als Carolyn durch den schattigen Innenhof und über den schmalen Rasenstreifen zum Pool ging, beobachtete sie, wie die Frau in sachtem Bogen aus dem Wasser auftauchte, ihr Körper glich einem Krummsäbel – mit durchgedrücktem Rücken, den Armen seitlich am Körper, geschlossenen Augen und gestrecktem Kopf, verzückt. Im langsamen Auftauchen an die Oberfläche lag eine solche Sinnlichkeit, dass Carolyn sie spürte.

Nun rieb sich die Schwimmerin die Augen. Da sah sie Carolyn am Poolrand und schwamm mit leichten Bruststößen zu ihr. Sie erhob sich am flachen Ende, das Wasser perlte über breite, feste Schultern, tropfte aus den schwarzen Haarsträhnen und rann den Nacken hinab.

Carolyns Blick glitt über verwaschene abgeschnittene Jeans, die knapp bis an die tiefgebräunten Schenkel gingen, zu einem grauen, an üppigen Brüsten klebenden T-Shirt – einem undefinierbar verblichenen Ding –, zu wachen dunkelbraunen Augen und einem großen Mund mit vollen Lippen, die amüsiert zuckten.

Die Frau strich sich das spritzende Haar aus der Stirn. »Eins fünfundachtzig«, sagte sie.

Carolyn musste lachen. »Wer sind Sie überhaupt?«

Die Frau fuhr sich durch die tropfenden kurzen Locken, die beharrlich auf ihrer Stirn klebten. »Val.«

Wie Walküre, dachte Carolyn und starrte sie respektvoll an. Sogar der tiefe Klang ihrer Stimme kam ihr absolut passend vor. Eine Erinnerung regte sich, vage und irritierend, die sie verdrängte.

»Ich wohne nebenan.«

»Ach. Sie sind Mrs. Hunter.«

Val Hunter lächelte strahlend und nickte. Sie verschränkte die Arme und musterte Carolyn.

Anfang dreißig, schätzte Carolyn, die ohne Ärger die gelassene Haltung wahrnahm. »Schwimmen Sie oft in fremden Pools?«

»Nur in Ihrem. Wochentags immer. Es benutzt ihn ja niemand, jedenfalls nicht tagsüber. Er ist der größte in der Umgebung – ich hab’s überprüft. Und der sauberste, wie ich hinzufügen könnte. Ich bin den ganzen Frühling hier geschwommen.«

»Tatsächlich.« Carolyn unterdrückte ein Lachen.

»Ich denke, es schadet nicht. Ich finde, es ist eine Schande, ihn nicht zu benutzen, wo doch Ihr Mann sich so mit der Pflege abrackert.« Sie deutete über die Mauer. »Ich höre ihn nämlich.«

»Paul beschäftigt sich gern damit. Er ist mit keiner Reinigungsfirma zufrieden. Mrs. Hunter, wie in aller Welt kommen Sie über die Mauer und das verschlossene Tor?«

»Bitte, nennen Sie mich Val. Ich springe drüber.«

»Sie springen drüber«, wiederholte Carolyn. »Sie springen einfach geradewegs über unsere Zweimeterdreißig-Mauer.«

»Sie ist etwas hoch«, gab Val zu, »aber ich finde guten Fußhalt und steige drüber.«

Die Junisonne, erbarmungslos im Tal von San Fernando, die schon lange durch den schützenden Morgendunst brannte, knallte heiß auf Carolyns Schultern. Der Geruch verdunstender Wasserspritzer auf dem Betonrand stieg ihr in die Nase. Ein feuchter Film hatte sich unter ihrem Haar gebildet; sie streckte die Schultern in ihrem Seidenkleid, während sie Val Hunter fixierte. »Schwimmt Ihr Sohn auch hier?«

»Natürlich nicht. Ich würde nie zulassen, dass Neal so etwas tut. Sie wissen zweifellos eine Menge über mich.«

»Wir wissen, dass Sie und Ihr Sohn im April in Robinsons Gartenhaus gezogen sind. Paul unterhält sich immer mit Jerry Robinson, wenn sie draußen im Garten arbeiten.«

Wieder kam das strahlend weiße Lächeln zum Vorschein. »Also meiden auch Sie Dorothy Robinson wie die Pest.« Während Carolyn noch entwaffnet um eine Antwort rang, zuckte Val die Achseln. »Einsame alte Schwätzerin. Bemitleidenswert.« Wieder lächelte sie. »Sie sind normalerweise nicht um diese Zeit zu Hause.«

Carolyn flüchtete sich in Ironie. »Ich bitte um Entschuldigung. Meine Arbeitszeit hat sich geändert. Gott, ist das heiß! Im Allgemeinen ist der Juni nicht so heiß, oder?«

»Manchmal schon. Erlauben Sie mir, Sie in Ihren Pool einzuladen.« Val Hunter stützte sich mit den gebräunten Händen auf den Rand des Pools und schwang sich geschmeidig heraus; mit drei großen Schritten zum Liegestuhl nahm sie ihr Handtuch und fuhr sich kurz über Gesicht und Haare. »Jetzt muss ich mich wohl nach dem zweitbesten Pool umsehen. Ich möchte Ihnen danken. Ich hatte mir schon vorgenommen, Ihnen ein kleines Geschenk als Dank zu hinterlassen und eine Nachricht, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich es genossen habe.«

»Nicht doch«, sagte Carolyn rasch. »Warum denn nicht Gebrauch davon machen? Es ist wirklich schade drum.«

Val Hunter nickte. »Um viele Dinge, die die Leute besitzen, ist es schade. Doch die meisten Menschen haben bestimmte Vorstellungen von Eigentum und Besitzrechten.«

»Um welche Zeit schwimmen Sie gern?«, fragte Carolyn und dachte, dass Paul zu jenen Menschen gehörte – er wäre total dagegen, ihren Pool mit irgendwem zu teilen, davon überzeugte er sogar die herumlungernden Insekten mit rachedurstigem Schwingen des Saugers.

»Um diese Zeit, zwischen drei und vier. In der größten Tageshitze. Neal kommt gegen halb fünf vom Tagescamp zurück.«

»Künftig werde ich um zehn nach drei zu Hause sein. Ich lasse Sie herein.«

»Danke. Vielen Dank. Aber ich möchte Sie nicht belästigen. Ich werde meinen üblichen Weg nehmen – ich bin’s inzwischen gewöhnt.«

Carolyn sah auf die Uhr. »Da bleiben Ihnen ja noch – wie viel? – fünfunddreißig Minuten. Springen Sie wieder hinein. Ich gehe ins Haus, bevor mich der Schlag trifft.«

»Warum erfrischen Sie sich nicht im Pool, genießen die Sonne?«

»Ich schwimme nicht«, antwortete Carolyn, drehte sich um und eilte hinein zu ihrer Klimaanlage, um ihr Kleid zu wechseln, ehe der Schweiß die Seide ruinierte.

»Wenn Sie’s mal lernen wollen«, rief Val Hunter ihr nach, »gebe ich Ihnen Unterricht. Gratis.«

 

Sie zog das hellrote chinesisch Bedruckte an, das Paul so gefiel, mit dem seitlichen Schlitz bis zum Schenkel. Aus dem Garten erscholl anhaltendes Planschen, während sie sich einen Wodka Tonic mixte. Sie zog die Wohnzimmergardine beiseite.

Val Hunters Arme schienen bei jedem Stoß ihres Körpers das Wasser zu zerteilen. Als sie vorbeischwamm, konnte Carolyn im Wasserwirbel nur ihre breiten Schultern und starken Hüften sehen, die so kraftvoll emporschwangen und einen solchen Antrieb verursachten, dass ihre fest geschlossenen Füße aus dem Wasser schossen. Wieder dämmerte Carolyn die vage Erinnerung, die sie nicht fassen konnte.

Der Schwimmstil, in dem Val Hunter sich bewegte, hatte eine falsche Bezeichnung, dachte Carolyn – er hatte rein gar nichts von einem Schmetterling, diesem zarten, flatternden Wesen … Am Ende des Pools, mit einer abrupten Beugung ihres Körpers, wendete Val Hunter, stieß sich ab und vollführte wieder ihre mächtigen Schläge. Beeindruckt und amüsiert beobachtete Carolyn sie eine Weile, ehe sie die Gardine wieder zuzog.

Sie schaltete das Radio ein, und als Irene Caras What a Feeling sang, drehte sie die Lautstärke auf sieben. Die Musik erfüllte das Zimmer und ließ es vibrieren; sie fühlte sich davon aufgeladen, der stampfende Beat dröhnte von den Wänden. Sie fischte einen historischen Liebesroman unter den Kissen hervor und kauerte sich in ihre Lieblingsecke; in das Samtsofa gekuschelt und vom Rhythmus der Musik fortgetragen, schlürfte sie den kalten, starken Drink und überflog ihren Schmöker nach Liebesszenen, in die sie sich vertiefte.

Um fünf Uhr läutete das Telefon. Sie drehte das Radio leise, denn sie wusste, dass Paul anrief. Auch vor ihrer Arbeitszeitänderung hatte Paul stets um diese Zeit angerufen, um zu erklären, warum er später käme, ohne sich, nach fast einem Jahr, einzugestehen, dass sein üblicher Arbeitstag von halb neun bis sechs ging. Sie murmelte mitfühlend, wie sie es immer tat.

Um sechs Uhr ging sie in den Garten und warf ihr Buch in die Mülltonne; sie atmete die Frische ein, die langsam die Hitze im Tal abkühlte. Der Pool war aquamarin, die Oberfläche leicht gekräuselt, der Rand trocken, wie unberührt.

Sie machte einen Salat und bereitete die Steaks für den Grill vor, sie tat es genussvoll und mit Muße; für gewöhnlich war das Abendessen wochentags eine hektische Aktivität. Um fünf nach halb sieben schenkte sie genug eiskalten Wodka für drei Martinis ein, einen für sich und zwei für ihn, und füllte den Eimer mit Eiswürfeln. Sie trug alles ins Wohnzimmer zur Bar, drehte die Stereoanlage aus und schaltete die Nachrichten in Channel 7 an.

Wenn er sieht, dass alles fertig ist, wenn er nach Hause kommt, wird er über meine neue Arbeitszeit vielleicht nicht mehr so sauer sein.

2. KAPITEL

 

Val Hunter duschte und fuhr sich flüchtig mit Handtuch und Bürste über das kurze Haar, das in weniger als zehn Minuten in der Hitze ihres Hauses trocken wäre. Noch nackt warf sie die nassen Shorts und das T-Shirt über die Leine hinter dem Haus; sie kehrte in das unaufgeräumte Wohnzimmer zurück und überlegte lustlos, dass sie Ordnung schaffen sollte.

Sie streifte sich frische Sachen über, wieder Shorts und ein T-Shirt, und widmete sich ihren Pinseln. Mit der üblichen Geduld wusch sie sie in Mineralspiritus aus, legte sie in warmes Wasser, fuhr dann mit jedem Pinsel über ein Stück Ivory Soap und seifte sie in ihrer Hand ein; die Seife verfärbte sich bunt. Nachdem sie die Pinsel unter warmem Wasser ausgewaschen hatte, wiederholte sie die ganze Prozedur, bis der Seifenschaum farblos war. Sie drückte die sauberen Pinsel geschickt wieder in Form und legte sie zum Trocknen aus.

Unzufrieden betrachtete sie grübelnd das am Kasten auf dem Arbeitstisch lehnende Bild – die nächsten Tage konnte sie nicht weiter daran arbeiten, die Farbe musste erst trocknen. Sie studierte die grauen Flächen der Komposition aus verschiedenen Blickwinkeln, irritiert vom Licht des Spätnachmittags, das auf das Bild fiel – diffuses fahles Zitronengelb, statt des klaren starken Morgenlichts.

Als sie wieder auf die Uhr sah, war sie erschrocken, wie spät es war. Neal musste jeden Moment kommen. Sie lehnte das Bild an die Wand, so dass Licht darauf fiel, es aber nicht im Weg stand, und inspizierte einfallslos den Inhalt ihres Kühlschranks. Tiefgefrorene Enchiladas, das ginge schnell, wäre aber bei dieser Hitze kein Genuss … Vielleicht Hamburger. Mal hören, was Neal dazu sagte.

»Rate mal, wer gleich nach Pete Rose kommt!«, rief ihr Sohn in der Tür. »Ich habe heute drei Hits erzielt.«

Mit zwei Schritten war sie bei ihm und umarmte ihn stürmisch. Sein Körper, zwar klein für sein Alter, war kräftig und gebräunt, ein dunkles Mahagoni. Sie drückte ihre Lippen auf sein kupferfarbenes, von der Sonne gebleichtes Haar und schnupperte seinen erdigen Geruch. Sie enthielt sich jeden Kommentars; sie musste ihm nie sagen, dass er duschen sollte. »Du bist Spitze«, sagte sie. »Das ist einfach toll.«

»Nee.« Neal befreite sich und zog sich Hemd und Shorts glatt. »Mein Durchschnitt liegt nur bei zwei sechsundsiebzig.«

Sie nickte, ohne zu wissen, wovon er redete – sie hatte keine Ahnung von Baseball. »Ich bin stolz auf dich.«

Er machte eine geringschätzige Handbewegung. »Was gibt’s zu essen, o großer und mächtiger Oz?«

Sie überhörte seine übliche Anspielung auf seinen Lieblingsfilm und sagte: »Hummerkrabbencocktail.«

Seine Turnschuhe quietschten auf der geborstenen Fliese des Küchenbodens. »Hach, da ist ja Salat«, rief er, den Kopf im Kühlschrank. »Wie wär’s mit einem Salat und Käse und Salami und Crackers? Das ist eine sehr ausgewogene Mahlzeit.«

»Von mir aus.«

»Ich dusche mal eben und schneide das andere Zeug, wenn du den Salat machst. He, Ma, wenn ich das Wohnzimmer aufräume, kann ich dann vielleicht das Spiel sehen?«, bettelte er. »Die Dodgers spielen, mit Fernando als Pitcher.«

Widerwillig antwortete sie: »Na ja, ich werd’s wohl überleben, wenn ich ausnahmsweise mal keine Nachrichten sehe.«

Neals Blick schweifte durchs Zimmer. Er klang verärgert: »Wie schaffst du es bloß, an einem einzigen Tag so ein Chaos anzurichten?«

Sie grinste hinter seinem Rücken, als er duschen ging. Sie füllte noch ein paar Eiswürfel in ihr Glas Wasser, ließ sich auf dem Sofa nieder und schlug die Times auf, die Jerry Robinson ihr, wie üblich, morgens vor die Tür gelegt hatte, nachdem er damit fertig war.

Viel später an diesem Abend dachte sie an Carolyn Blake. Sie schlug ihren Skizzenblock auf. Ihre Zeichnung war unvollständig – eine grobe Bleistiftskizze einiger Details, die sich ihr eingeprägt hatten: volles, glattes glänzendes Haar – sandfarben, wie sie sich erinnerte –, das ihr knapp bis zu den Schultern ging, ein paar Strähnen, von der heißen, trockenen Brise verweht; und die mandelförmigen Augen, die sie als grüngrau im Gedächtnis hatte.

3. KAPITEL

 

Kurz nach halb sieben fuhr Paul Blake die Heather Avenue hinunter, und sobald er um die Ecke bog, erblickte er sein Haus. Wie immer sah er im Geiste ein ähnliches Haus vor sich: die gleiche Fassade, doch in schmutzigem Weiß, und vom verwitterten grauen Holz blätterte die Farbe, einen verwahrlosten Vorgarten, dem die erbarmungslosen Chicagoer Winter den Rest gaben. Dieses Haus hier, sein eigenes, hatte eine makellos beige Fassade, dunkelbraun abgesetzt, davor ein gepflegter Garten und sattes grünes Laubwerk, das Backsteinfundament war großzügig hochgemauert und umschloss auch den umlaufenden Rasen des kleinen Vorgartens. Er liebte das Backsteingemäuer, dessen Pracht sein Haus von allen anderen in der Straße abhob und die geringe Größe des Vorgartens mehr als wettmachte. Das andere Haus, das Haus seiner Kindheit, hatte nicht ein einziges prächtiges Merkmal besessen, geschweige denn den größten Swimmingpool in der Umgebung. Er bog in die Auffahrt ein.

Kurz darauf erfüllte ihn weitere Genugtuung beim Anblick der beruhigenden Farben seines Wohnzimmers: Sofa und Sessel in jungfräulichem Weiß, der dicke blaugraue Teppichboden, sorgfältig arrangierte Kissen als kühle Akzente in einer Kombination von Dunkelblau und Smaragd; Vasen, Bilder. Die schweren weißen Vorhänge vor der Glastür zum Garten hinter dem Haus waren zugezogen – komisch, dass Carolyn sie nicht aufgemacht hatte wie sonst immer. Er sah einen Martini-Shaker auf der Bar und war angenehm berührt, doch sofort fiel ihm ein, weshalb er dort stand.

Carolyn kam aus der Küche zu ihm, in seine Arme. Ihr Parfüm war höchst betörend – fast verflogen im Lauf des Tages und mit dem Geruch ihrer Haut vermischt, der ihm so vertraut war. Ihr Kleid erregte sein Wohlgefallen, und seine Liebe zu ihr überwältigte ihn.

»Prinzessin, du siehst phantastisch aus.« Nie vergaß er, seiner Freude Ausdruck zu geben, wenn sie Kleider trug, in der Hoffnung, sie irgendwann endgültig von ihren üblichen Hosen und Shorts abzubringen. An diesem Abend, so wurde ihm schmerzlich bewusst, trug sie das chinesisch Bedruckte nicht, um ihm zu gefallen, sondern um ihn einzuwickeln. Ihre Arme umschlangen seine Schultern, und sie hob das Gesicht. Er küsste sie flüchtig; er würde sich nicht einwickeln lassen, nicht mal ansatzweise.

»Wie war dein Tag, Schatz?«, fragte sie.

»Gut. Routine. Und deiner?«

»Für den ersten Tag ging’s.«

Verärgert über die Vorsicht in ihrer Stimme ließ er sie los und ging die Drinks mixen, seine Aufmerksamkeit auf den Fernseher und eine Diskussion über die Zinserhöhung gerichtet. Er musste sich einen Augenblick lang besinnen, als sie sich nach der Frau von nebenan erkundigte. »Du meinst die Malerin?«

»Malerin? Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie Malerin ist?«

Er runzelte die Stirn bei ihrem Ton. »Zum Teufel, was soll’s? Was verstehen wir schon von Kunst? Alle Welt malt. Oder schreibt oder töpfert. Wieso interessiert sie dich?«

»Ich … Reine Neugier, das ist alles. Ich … habe sie heute gesehen.«

Er zuckte desinteressiert die Achseln. »Ich bin ihr noch nie begegnet. Nach dem, was Jerry sagt, ist sie ein ziemliches Kaliber. Eine Amazone.«

»Sie ist groß«, sagte Carolyn nachsichtig und nahm den Drink, den er ihr reichte. »Größer als du.«

Er antwortete nicht. Er hatte nie irgendwem eingestanden, dass ihm seine Größe von eins fünfundsiebzig, die er mit eins achtundsiebzig angab, etwas ausmachte. Er betrachtete sie, als sie in die Küche ging, und wünschte sich wieder, sie wäre nur ein paar Zentimeter kleiner, höchstens eins fünfundsechzig, wie seine erste Frau. Was für Fehler Rita auch immer gehabt hatte – von der Größe her hatte sie gut zu ihm gepasst. Er nahm sein Glas und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

 

Sie gingen nach draußen, es war ein milder Abend. Er fuhr mit dem Sauger durch den Pool und nörgelte über den im Tal aufkommenden Wind. In diesem Juni war es von Tag zu Tag heißer geworden, die ungewöhnliche Schwüle kühlte sich erst abends allmählich ab.

Während er die Steaks auf den Grill legte, sagte er: »Zehn Minuten, mindestens. Ich denke, ich schwimme noch rasch eine Runde.«

Sie sah zu, wie ihr Mann sein Polohemd und die Baumwollhose und seine Boxershorts auszog. Trotz nur gelegentlicher sportlicher Betätigung – ein wenig Tennis, Golf zwei, drei Mal im Monat mit einem Kunden, sporadischem Schwimmen – war sein Körper wohlproportioniert und gut in Schuss, nur eine Spur von Bauchansatz. Sein einziges körperliches Problem, ein ungefährliches angeborenes Herzgeräusch, hatte gereicht, ihn von Vietnam fernzuhalten. Im natürlichen Abendlicht war sein Schamhaar viel dunkler als sein Kopfhaar, das voll und dick, doch graumeliert war, an den Schläfen etwas heller. »Ein junger Cary Grant«, hatte eine der Frauen bei einem Firmenpicknick geseufzt. Carolyn war stolz auf sein Aussehen.

»Gefällt dir der Anblick?« Er grinste anzüglich. »Weib, nimm die Steaks vom Feuer.«

Mit einem unwillkürlichen Blick zur Mauer lachte sie und winkte ab. »Ach, geh schwimmen.« Während sie die Steaks über der Holzkohle zurechtschob, beobachtete sie, wie er aggressiv durchs Wasser schnitt, seine abrupten Stöße waren nicht so effizient wie die geschmeidige Kraft von Val Hunter.

Bei seiner Nacktheit dachte sie wieder daran, wie sie das Haus gekauft hatten und wie sehr ihr die Abgeschiedenheit dieses mauerumgebenen und von Büschen gesäumten Gartens gefallen hatte. An ihrem ersten Abend im Haus hatte Paul sie in den Pool geschubst und ihr den Bikini abgestreift. Das warme Wasser an ihrer nackten Haut erregte sie – eine unerträgliche, fast spirituelle Sinnlichkeit befiel sie. In einer Ecke des Pools hatte er ihre bereitwilligen Beine um sich geschlungen. Doch als ihre Hüften gegen die kalten, harten Fliesen prallten, ringsum das Wasser aufspritzte und schmerzhaft in sie gepumpt wurde, tat ihr der Druck auf ihr Gewebe sehr weh. Sie keuchte, dass er aufhören solle, doch er wollte oder konnte nicht. Mit unterdrückten Schreien – wie konnte sie nur hier draußen schreien, so hörbar für alle? – hämmerte sie auf seine Brust und Schultern ein, und als er endlich aufhörte, riss sie sich von ihm los und stolperte ins Haus, und als er ihr nachkam, schrie sie wieder und schlug ihm auf die Brust. »Warum hast du nicht aufgehört? Warum nicht?«

Er packte ihre Fäuste und hielt sie von sich weg, die Augen voller Tränen, mit gequältem Gesicht. »Ich dachte … Es gefiel dir doch zuerst, da dachte ich … es würde dir schon noch gefallen …« Er stürzte aus dem Haus und kehrte nach einigen Stunden sinnlos betrunken zurück. In dieser Woche bekam sie täglich Blumen ins Büro, eine Perlenkette tauchte zwischen ihrem Schmuck auf der Kommode auf …

Die Steaks waren fast durch. »Paul!«, rief sie.

Mit seltsam distanziertem Gefühl betrachtete sie ihn wieder, während er sich mit dem Handtuch heftig den Rücken abrieb, die Muskeln spannten sich auf den leicht gebräunten Armen. Als er sich abwandte, um sich das Haar zu frottieren, musterte sie die flache Biegung seines Rückens, die muskulösen Schenkel, die für sie die schlichte funktionale Schönheit eines Männerkörpers symbolisierten. Er streifte sich einen kurzen Bademantel über, band den Gürtel zu einem ordentlichen Knoten, während er zu ihr herüberkam; seine blassblauen Augen waren sanft, auch nach dem energischen Schwimmen.

Er küsste sie auf die Stirn. »Die Steaks sehen prima aus, Prinzessin.«

Wieder betrachtete sie ihn, während er die Steaks vom Feuer nahm. Nach acht Jahren, so gestand sie sich bedrückt ein, war ihr Altersunterschied eher noch sichtbarer geworden. Sie war nicht so gereift wie er – dieser selbstsichere, gutaussehende Mann mit den grauen Schläfen war heute attraktiver denn je. Damit verglichen war sie mit ihren sechsundzwanzig noch immer ein Kind.

 

Frisch geduscht und rasiert lag er in den Kissen. Carolyn saß an der Frisierkommode und bürstete sich das Haar. Sie trug das pfirsichfarbene Nachthemd, das er so liebte, ihr Körper war von hinten beleuchtet, die leichte Schwellung ihrer Brüste wurde von der Seide darüber betont. Wenn ihre Brüste doch nur etwas größer wären – so wie Ritas. In Ritas Busen hatte er seinen Kopf so herrlich betten können, besonders nach dem Liebemachen. Aber ehrlich gesagt, ansonsten hingen sie allzu sehr. Und Carolyn hatte hübsche Beine – wenn auch nicht die langen, schlanken Beine von Models, so doch viel schönere als Ritas kurze, stämmige.

Sein Blick glitt durch das farbenfrohe Schlafzimmer; kostbares Kirschbaumholz und goldgelber Teppich, die schweren goldenen Vorhänge zu beiden Seiten mit bunten Clowns bedruckt. Er war zufrieden.

Mehr kann man nicht verlangen, dachte er wenige Minuten später, als er sie streichelte, seine Hand fuhr leicht über ihren Hals und die Schultern. Ihr Mund war zärtlich, hingebungsvoll und schmeckte nach Pfefferminzzahnpasta. Er zog sie auf sich und ließ seine Hände über ihren Rücken gleiten. Ihr schweres, silbern schimmerndes Haar bedeckte seinen Hals und seine Schultern. Er drehte sie um.

Hinterher lag er da, das Gesicht in ihr Haar vergraben, und schnupperte ihren sinnlichen Geruch. Ihr Atem ging flach, schnell; sie streichelte sein Haar, küsste sein Gesicht, murmelte etwas Unverständliches. Er hob den Kopf und blickte sie an. Wie immer nach dieser tiefsten Intimität sah sie ihn aus verschleierten, unergründlichen Augen an, deren Nachinnengekehrtheit ihn verrückt machte.

Er rollte sich behutsam von ihr und nahm sie in die Arme. Ja, versicherte er sich, er war gut für sie, das merkte er daran, wie sie war, wenn er in ihr war. Er machte sie glücklich.

»Ich liebe dich, Prinzessin«, murmelte er schläfrig, indem er sich an sie schmiegte, ihre schlanken Finger beruhigend in seinem Nacken.

Das Bewusstsein, dass sie am folgenden Morgen etliche Stunden vor ihm aufstehen und künftig auch eher zu Bett gehen würde, störte seine Zufriedenheit. Doch das wäre nicht von Dauer; er würde einfach einen Guerillakrieg führen, bis sie diesen blöden Job gegen einen mit fester Arbeitszeit eintauschte. Mochten sich andere Männer auch Abwechslung in ihrem Leben wünschen, er jedenfalls nicht. Er wollte nur sie. All die Abwechslung und Herausforderung, die er brauchte, fand er in seiner Arbeit. Er würde sie bald wieder in seinem Bett haben, wenn er sie dort haben wollte, genau wie in den vergangenen acht Jahren.

4. KAPITEL

 

Carolyn stahl sich aus dem Bett. Sie schloss die Badezimmertür, bevor sie das Licht anmachte, und mit routinierter Geschwindigkeit nahm sie automatisch eine Intimspülung vor; geistesabwesend fiel ihr dabei ein, dass sie Paul nichts von Val Hunters unverhoffter Anwesenheit in ihrem Pool erzählt hatte. Es gab keinen Grund, es zu erzählen – keinen Grund, ihn noch mehr zu verärgern. Sie warf die leere Wegwerfdusche in den Abfalleimer und knipste das Licht aus.

Sie kuschelte sich an ihn, an die kompakte, tröstliche Breite seines Rückens, und verspürte eine vage Erregung wie manchmal, nachdem sie sich geliebt hatten. Seine Verstimmung über ihre Arbeitszeit konnte nicht andauern, beschloss sie. Ein zweiwöchiger Versuch, und wenn er dann noch immer unglücklich war, würde sie die Arbeit wohl aufgeben müssen.

Aufgeben, dachte sie gequält. Vielleicht kam er ja doch damit klar …

 

Viertel nach vier, sah sie zu ihrer Freude auf der Digitaluhr. Sie musste sich erst um halb fünf zur Arbeit zurechtmachen. Diese verbleibende Viertelstunde würde sie mit Kaffee und Zeitung vertrödeln. Paul murmelte Protestlaute, als sie ihm ihre Wärme entzog, dann drehte er sich um und schlief weiter.

Die Kaffeemaschine war auf sieben Uhr programmiert, wenn Paul aufstand. Sie trank einen Pulverkaffee, starrte zufrieden auf die sich trübenden Schatten des Hauses und blätterte die Times durch, die zuverlässig zu irgendeiner rätselhaft frühen Stunde gekommen war.

Um zwanzig nach fünf ging sie aus dem Haus, einen Pulli um die Schultern geschlungen. Fahles Dämmerlicht, das jedwede drohende Hitze verbarg, lag über dem Tal, über den Joggern, androgyn in ihren Jogginganzügen im trüben Morgendunst. Gemächlich fuhr sie in ihrem Sunbird die Verdugo Road hinunter. Sie liebte die leeren Straßen, die Stille.

 

Am Nachmittag kam sie nach der Arbeit heim, erledigt von einem kurzen Gang zu ihrem Wagen auf dem Parkplatz des Supermarkts und betroffen von den Nachrichten im Radio über Waldbrände und Smogalarm Stufe eins. Die Hitze, die in dieser Woche eingesetzt hatte, hatte sich eingenistet und kam in Wellen von Dach und Pflaster, verursachte sprunghafte Böen, die in die zundertrockenen Hügel fuhren.

Überrascht vernahm sie Geräusche vom Pool. Sie dachte, es wäre zu heiß, sich auch nur zu rühren, von Schwimmen ganz zu schweigen. Und der Pool wäre sicher vom Wind verdreckt, von der Asche der Brände auf den umliegenden Hügeln.

Sie zog die Vorhänge beiseite. Der Pool wirkte ziemlich sauber, ohne Zweige und Äste, doch gewiss konnte Val Hunter ebenso gut mit einem Sauger umgehen wie Paul. Carolyn sah ihr beim Schwimmen zu, einer einfachen Kraulbewegung, zwei Wellen bauschten sich an der Kopfspitze, beide klein, eine dicht vor der anderen, etwas größeren. Die Energie und der Schwung ihres Körpers hatten etwas Unwiderstehliches, der harmonische Antrieb, das Durchziehen eines jeden Armschlags ökonomisch und regelmäßig, jede Hand tauchte sauber ins Wasser und wieder hoch. Kraftvolle Schenkel bewirkten einen rhythmischen Schwung, reduzierten jedes Rollen des Körpers und stabilisierten ihn völlig. Mit nur acht Zügen durchquerte Val Hunter das Vierzehnmeterbecken, dann wendete sie; Carolyn zählte wieder und wieder.

Am schattigen tiefen Ende schwang sich Val Hunter aus dem Wasser, zog eine Liege aus der Sonne unter das dichte, weit herabhängende Blattwerk der Palme. Sie frottierte sich mit dem Handtuch das Haar und ließ sich erschöpft auf die Liege fallen, ihre Schultern hoben und senkten sich.

Nach kurzem Zögern schob Carolyn die Vorhänge beiseite, öffnete die Glastür und trat hinaus in die Hitze.

»Hallo«, sagte sie verlegen. »Gerade ist mir aufgegangen, dass Sie wohl schwerlich mit einem kalten Getränk in der Hand über die Mauer hopsen können. Mögen Sie etwas zu trinken?«

Val Hunter holte tief Luft. »Sie sind außerordentlich nett zu Eindringlingen. Etwas Kaltes wäre phantastisch. Irgendwas.«

»Ich bin gerade bei Wodka Tonic. Mögen Sie auch einen?«

»Nur Tonic wäre prima.«

Mit ihrem Drink und einem großen Glas Tonic mit einer Zitronenscheibe darin kehrte Carolyn zum Pool zurück. Val Hunter stützte sich auf den Ellbogen und stürzte das halbe Glas hinunter. »Ach, tut das gut.« Sie stellte das Glas neben den Sessel auf den Zementboden. »Neal behauptet, dass alkoholfreie Getränke mir schließlich noch die Nieren zerfetzen.« Und fügte fröhlich hinzu: »Zehnjährige sollte man ins Camp stecken, bis sie über dieses scheinheilige Alter hinaus sind.«

Carolyn grinste, dann sah sie in den Pool. Sandwehen hatten Muster auf dem Boden gebildet. »Das Wasser ist schmutzig«, sagte sie.

Val zuckte die Achseln. »Ich habe das Ärgste abgesaugt. Es ist immer noch sauberer als das Meer.«

»Ich muss mich umziehen«, sagte Carolyn leise. »Möchten Sie … für eine Weile aus der Hitze mit hineinkommen?«

Val leerte ihr Glas. »Ich wäre jetzt gern da, wo es kühl ist. Ich steige eben aus den nassen Sachen. In fünf Minuten bin ich zurück, ja?«

Bevor Carolyn antworten konnte, war Val Hunter aufgestanden, hatte sich das Handtuch umgeschlungen, ein paar Schritte Anlauf genommen und war abgesprungen, hatte die flache Mauerkante gepackt, sich hochgestemmt, einen Moment dort geschwebt, dann war sie verschwunden.

5. KAPITEL

 

Val inspizierte flüchtig den kargen Inhalt ihrer Kleiderkommode, dann zog sie khakifarbene Shorts und ihr neuestes T-Shirt an.

Was will diese Carolyn Blake eigentlich? Sie ist eine ziemlich attraktive Person, an Freundinnen und Freunden sollte es ihr nicht mangeln – zumindest nicht an Gleichgesinnten. Vielleicht hält sie dich für so schräg, dass du interessant bist. Und was sie betrifft, sie ist weder interessant noch schräg, sondern genaugenommen: momentan langweilst du dich.

 

Sie folgte Carolyn Blake ins Wohnzimmer und verdammte den Raum mit einem Blick wie ein schlechtes Bild. Wie konnte jemand in einem solch blau-weißen Eispalast leben? Selbst Grüntöne, im Allgemeinen warm, wirkten hier isoliert und kalt.

Carolyn fragte: »Mögen Sie noch etwas Tonic? Oder …«

»Tonic ist prima.« Sie nahm den Inhalt des Bücherschranks in Augenschein – gebundene Ausgaben der Romane von Roth, Updike, Bellow, Nabokov, Vonnegut, Didion, Pynchon. Keiner davon gelesen, schätzte sie; die Staubschicht sah allzu gleichmäßig aus.

»Kann ich mich auf den Boden setzen?«, fragte sie, als Carolyn aus der Küche kam. Das weiße Sofa und der weiße Sessel stießen sie ab.

»Wo immer Sie wollen.« Carolyn machte es sich in einer Sofaecke bequem, die Füße unter sich gezogen.

Eine anmutige junge Frau, dachte Val, ließ sich auf dem Teppich nieder und lehnte den Rücken an den weißen Sessel. Attraktiv, sogar in Rot … Doch wie kann eine Frau unter dreißig bloß ein Kleid anziehen, wenn sie es sich gemütlich macht? Und sieht sie nicht, dass Rot für sie eine absolut unpassende Farbe ist?

»Ich höre, Sie sind Malerin. Malen Sie schon lange?«

Val nippte an ihrem Tonic. Es war lediglich eine Höflichkeitsfrage. Ab einer gewissen Ebene der Unkenntnis war sie allerdings geneigt, das Gespräch abzubiegen; sie fühlte sich nicht mehr verpflichtet, sich für Kunstgeschichte und den Künstlerberuf in die Bresche zu werfen. »Seit Jahren«, antwortete sie. »Zwei Ehen und eine Schwangerschaft hindurch und zwei ferne Kriege und Krisen zu Hause – allzu grässlich, um sie zu beschreiben.«

»Sie klingen, als wären Sie hundert Jahre alt.« Carolyns Stimme war leise, schüchtern.

»Sechsunddreißig.«

»Wirklich? Genau wie mein Mann. Sie sehen nicht danach aus. Ich bin … fast siebenundzwanzig.«

Danach siehst du auch nicht aus, dachte Val. Sie lächelte. »Es ist mir gleich, wie alt jemand ist. Mein Sohn ist interessanter als die meisten Erwachsenen, die ich kenne.«

Carolyn gluckste. »Hoffentlich kann ich mich mit Neal messen.«

Val lächelte wieder und fragte sich, was sie eigentlich hier bei dieser faden Frau in ihrem Eiskeller von Haus zu suchen hatte. »Es ist nett, unter der Woche mit einer Erwachsenen zu reden. Leben Sie schon lange hier?«

»Anderthalb Jahre. Wir sind beide aus Chicago, doch dann wurde Paul für ein Jahr nach Alabama versetzt, danach kamen wir hierher. Er ist Bezirksleiter der Amerikanischen Röhrenwerke. Sie beliefern die ganzen Vereinigten Staaten mit Stahlröhren.«

Gott, wie öde. Und sie sieht so stolz aus. »Wie gefällt Ihnen Los Angeles?«

Carolyn überdachte die Frage. »Mir gefällt dieses … Andersartige, das Gefühl von … Möglichkeiten. Ja, es gefällt mir. Ich sollte wohl versuchen, es nicht allzu sehr zu mögen, weil Paul höchstwahrscheinlich wieder versetzt wird. Was ist mit Ihnen: Woher sind Sie?«

Es ist eine Schicht tiefer als Schüchternheit, vermutete Val. Vielleicht ist ja doch noch was an ihr – aber sie ist wie ein Veilchen, das keine Sonne verträgt. »Connecticut. Allerdings bin ich schon seit achtundsechzig hier; Neal ist hier geboren.« Sie trank einen Schluck Tonic. »Es ist so kühl und angenehm in Ihrem Haus – seit Tagen habe ich mich nicht so wohlgefühlt.«

»Haben Sie etwa keine Klimaanlage?« Carolyn sah entgeistert aus. »Wie kann denn jemand hier ohne Klimaanlage leben?«

»Für Juni ist es reichlich heiß, aber ich werde mich daran gewöhnen. Selbst mitten im Sommer kühlt sich das Tal nachts ab.«

»Aber tagsüber müssen Sie ja eingehen.«

»Man gewöhnt sich wirklich daran. Wie Menschen in der Wüste. Es macht mir nicht so viel aus, ich liebe die Sonne. Nur all dieser Qualm und die Asche in der Luft sind schrecklich«, gab sie zu. »Der Ventilator bläst sie überallhin.«

»Wir haben eine tragbare Klimaanlage in der Abstellkammer. Nehmen Sie sie. Wir mussten sie in Alabama fürs Schlafzimmer kaufen.« Sie verzog das Gesicht. »Alabama. Ich wäre am liebsten durch die Straßen getanzt, als Paul von dort versetzt wurde. Nehmen Sie sie, Val. Sie können ein Zimmer damit kühlen, das ist besser als nichts.«

»Na ja … Neal wäre beglückt.« Sie dachte an die höheren Stromrechnungen. Doch vielleicht, hin und wieder, wenn es so richtig drückend wäre … »Lassen Sie mich darüber nachdenken.« Sie wechselte das Thema. »Was machen Sie eigentlich, da Sie zu solch merkwürdiger Zeit arbeiten?«

»Ich bin Personalassistentin bei Everest Electronics. Drüben in Glassell Park. Mikrocomputer. Büro und Fabrik liegen zusammen, und mein Chef kam zu dem Schluss, dass er für das Nachtschichtpersonal zumindest einen Teil des Tages erreichbar sein sollte.«

»Wie’s scheint, eine gute Idee«, kommentierte Val.

»Er ist sehr kreativ und gescheit«, sagte Carolyn engagiert. »Ich mag ihn. Ich meine, er geht an die Dinge heran mit einem solchen …« Sie suchte nach einem Ausdruck. »Er hat vor zwei Jahren bei einem Unfall seine Hand verloren, er trägt eine Prothese. Er ist ein Liberaler mit Leib und Seele; er begreift, was es heißt, in dieser Welt behindert zu sein. Er … Paul hasst meine neue Arbeitszeit«, stieß sie hervor.

Val unterdrückte ein Gähnen. »Er hat Sie wohl morgens lieber im Bett, wie?«

Carolyn antwortete nüchtern: »Ich war so dumm, die Stelle anzunehmen, ohne ihn zu fragen. Es ist eine Beförderung – keine sonderlich große, nur ein paar Dollar mehr –, aber es bedeutet eine direkte Zusammenarbeit mit Bob Simpson, und ich hatte mich so über das Angebot gefreut, dass ich spontan darauf eingegangen bin und ja gesagt habe, ohne daran zu denken, wie Paul reagieren würde.«

TAGEBUCH EINER VERRÜCKTEN HAUSFRAU – kenne ich schon. Gott, erspar mir das. »Vielleicht haben Sie angenommen, dass er sich ebenso freuen würde wie Sie.« Sie verkniff sich die Frage, wie viel Rücksicht Paul Blake bei seinen Versetzungen genommen hatte, und sagte stattdessen: »Er hat Sie von Chicago mitten ins Nichts verpflanzt, dann von dort wieder weg. Sie mussten vermutlich beide Male Ihre Stelle aufgeben.«

»Es hat mir wirklich nichts ausgemacht. Na ja, bei der in Chicago schon«, gab sie zu. »Es war meine erste verantwortungsvolle Stelle. Aber …«

»Bei dieser Arbeit hier machen Sie immerhin keine Überstunden. Sie haben kein Kind, so dass man Sie der egoistischen Vernachlässigung bezichtigen könnte zugunsten einer Karriere, die in den Sternen liegt – das war Richards großer Trumpf. Er war mein zweiter Mann …« Sie unterbrach sich, als sie Carolyns faszinierten Blick sah. »Hören Sie nicht auf mich. Ich habe in allem eine entschiedene Meinung. Ihre Ehe ist ganz und gar Ihre Privatangelegenheit.«

»Ist Val Hunter Ihr eigener Name?«

Die Frage überraschte sie. »Mein Name ist Carlson, aber Neals Vater und ich haben uns nicht scheiden lassen – wir haben uns nur getrennt. Er ist vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich war der Ansicht, dass es alles in allem einfacher war, den Namen Hunter zu behalten.« Sie grinste. »Ich habe immer gefunden, Val Hunter hört sich nach Räuber an.«

Carolyn schüttelte den Kopf. »Ich finde, Val Hunter ist ein idealer Name für eine Malerin. Er klingt so … eingänglich.«

Val sah auf die Uhr über dem Kamin mit den drei dekorativen Holzkloben und dem weißen Ziegelstein ringsum, der sicher nicht dazu gedacht war, je einem Feuer ausgesetzt zu werden. »Ich fürchte, dass Neal jeden Moment nach Hause kommt und an meiner Entscheidung, was es zu essen gibt, herummäkelt.« Es blieb ihr noch eine Viertelstunde – doch warum sollte sie sie hier bei dieser jungen und sehr verheirateten Frau absitzen?

»Nehmen Sie die Klimaanlage mit.«

Val dachte nach. »Nur wenn ich mich revanchieren darf. Erlauben Sie mir, Ihnen das Schwimmen beizubringen, damit Sie ein wenig Freude an Ihrem Pool haben. Ich garantiere Ihnen, dass Sie nicht ertrinken werden.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Carolyn nach einer kleinen Weile mit ablehnender, verschlossener Miene.

Vals Interesse war angestachelt. »Da gibt’s ein Problem«, sagte sie freundlich. »Offensichtlich gibt’s da ein Problem.«

»Als ich sieben war, hat mich eine Spielkameradin im Park ins Schwimmbecken gestoßen. Der Bademeister fischte mich gerade noch rechtzeitig raus, aber ich hatte die Lunge voll Wasser und offenbar einen Dauerschock.« Carolyn hatte die Hände wie haltsuchend um die Knie geschlungen. »Ich habe es noch nie jemandem erzählt, nicht mal Paul, wieso, weiß ich eigentlich nicht, so ungewöhnlich ist es nun auch wieder nicht. Sie … Sie schwimmen so wundervoll, es sieht so leicht bei Ihnen aus.«

Val betrachtete die Hand, die den Stoff des roten Kleides glattstrich, das Gesicht, dessen Ausdruck kindlicher Verletzbarkeit sie an Neal erinnerte. »Carolyn«, begann sie, dann unterbrach sie sich. »Darf ich Sie Carrie nennen? Ich finde, das passt besser zu Ihnen.«

Die Hand entspannte sich; Carolyn lächelte. »Carrie hat mir schon immer besser gefallen als Carolyn, aber so hat mich noch niemand genannt.«

»Carrie, wenn mir das passiert wäre, ginge es mir genauso wie Ihnen.«

Carolyns Augen taxierten Vals Körper. »Ihnen würde das nicht passieren.« Sie lächelte wieder, ein schelmisches Lächeln, dessen Reiz Val betroffen machte. »Niemand würde Sie in ein Schwimmbecken stoßen.«

»Als Jugendliche hätte es vieles leichter gemacht, wenn ich ein weibliches Normalmaß gehabt hätte wie Sie – ich hätte wer weiß was dafür gegeben.« Sie fügte hinzu: »Noch immer.«

»Warum? Heute ist doch alles ganz anders. Heutzutage sind Sie einfach eine große, starke Frau. Was ist daran verkehrt?«

»Unsere Kultur. Es ist prima, ein sehr großes schlankes Model zu sein – eine dekorative Frau. Ansonsten bist du abnorm, bizarr. Größe ist ein Konkurrenzvorteil, den Männer ausschließlich für sich reklamieren. Ich habe geheiratet, als ich siebzehn war; ich musste beweisen, dass ich nicht zu groß war, um zu heiraten. Der arme Andy war neunzehn, er glaubte, mich zu heiraten würde beweisen, dass er ein Mann war. Falls er sich vorher nicht allzu sicher war, danach war er’s umso weniger. Sie können sich ja nicht vorstellen, wie das ist, wenn Sie mitkriegen, dass man über Sie lacht. Und beide hatten wir nicht die Ichstärke, dieses Geglotze auszuhalten, das Gespött. Wir waren sieben Wochen verheiratet.«

»Das ist ja schrecklich, Val. Das waren schlimme Zeiten. Aber heute leisten Sie etwas Wertvolles. Viele Leute fangen mit ihrem Leben gar nichts an. Sie haben eine Begabung.«

Val fixierte sie scharf. Diese konventionelle Frau, die da auf ihrem weißen Sofa saß in ihrer abgesicherten Wohlstandswelt, konnte keine Vorstellung davon haben, wie sehr ihre Begabung die rettende Kraft in ihrem Leben war. »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte sie gutmütig. »Sie haben meine Arbeit nie gesehen.«

Die Stimme klang schüchtern: »Ich weiß es. Sie haben Substanz. Und Ihre Arbeit mit Sicherheit auch. Darf ich fragen, was für Sachen Sie malen?«

Val war gerührt und erfreut. »Ich denke, meine Arbeit ist überwiegend expressionistisch, obwohl das nicht alles einschließt.« Carolyn sah sie aufmerksam, doch verständnislos an, und Val wechselte das Thema. »Ich habe eine Idee, wie Sie Ihren Pool genießen können, ohne im Geringsten nervös zu werden – sogar ohne dass Sie nasses Haar kriegen. Werden Sie morgen hier sein?«

Carolyn griff nach einer Haarsträhne und fuhr mit den Fingern daran entlang. »Ich wollte mir morgen die Haare schneiden lassen.«

»Sie haben wirklich einen Horror vorm Wasser«, sagte Val mitfühlend.

»Nein, ich muss mir wirklich die Haare schneiden lassen.«

»Tatsächlich? Warum? Bis auf die Schultern oder noch länger würde es wundervoll aussehen.«

»Glauben Sie? Ich trage es schon seit Jahren so. Paul … Vielleicht werde ich es mir durch den Kopf gehen lassen. Jedenfalls hat es Zeit; ich werde morgen hier sein. Was haben Sie vor?«

Val grinste. »Ziehen Sie Ihren Badeanzug an und vertrauen Sie mir.«

Carolyn sah sie aus tiefgrünen Augen an. »Ich vertraue Ihnen. Haben wir das mit der Klimaanlage geregelt? Nehmen Sie sie mit?«

»Vielen Dank. Sie sind ein Engel.«

6. KAPITEL

 

Carolyn probierte den Bikini an, den sie in jener Woche gekauft hatte, als sie das Haus bezogen. Frivol hatte Paul die beiden Stoffläppchen genannt, ein leuchtend grünes Blumenmuster, das, wie sie fand, die Frische, das herausfordernd Neue Kaliforniens widerspiegelte. Sie hatte vorgehabt, sich noch einen zu kaufen, der ihm besser gefiel, aber dann gezögert. Die Erfahrung am ersten Abend verstärkte ihre Abneigung gegen den Pool. Jedes Wochenende nach diesem ersten Abend, und oft auch wochentags, hatte er sie beschwatzt, bis sie den Bikini anzog und vorsichtig die Marmortreppe am flachen Ende herabstieg, um dort lustlos herumzuplanschen, während er von seinem Surfbrett sprang und herumspritzte, als könnte seine Munterkeit ihre Begeisterung wecken. Irgendwann entmutigte ihre Passivität ihn, und schließlich konnte sie den Bikini in einer Schublade vergraben, überzeugt, dass sie ihn wohl kaum wieder hervorholen musste. Nur einmal, bei einem Grillfest am Sonntagnachmittag für seinen Chef und seine Kollegen, hatte er sie gebeten, ihn zu tragen, seine Absicht war eindeutig: Er wollte ihnen allen seine junge Frau vorführen.

Ihre Gedanken schweiften zu Val Hunter. Als männlich würde Paul sie bezeichnen; als eines von diesen lesbischen Mannweibern, die die Frauenbewegung hervorgebracht hatte. Doch, so überlegte sie, die sexuelle Vorliebe war hier sehr eindeutig, oder etwa nicht? Selbst wenn Val Hunter momentan mit niemandem zusammen war, so hatte sie jedenfalls nicht nur einmal, sondern gleich zweimal geheiratet, und sie hatte einen Sohn. Und sie, Carolyn Blake, war schon ewig verheiratet. Und im Übrigen gab es nicht das leiseste Anzeichen sexuellen Interesses von Val Hunter, und so was merkte man ja immer sofort, nicht wahr?