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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Manuela Kuck

Hungrige Herzen

 

K+S digital

1

Es war ein Freitag um die Mittagszeit zu Beginn des Altweibersommers. Ich hatte gerade den noch ofenwarmen Streuselkuchen mit Brombeeren aufgeschnitten, als die Türglocke anschlug und Britta mit einem breiten Lächeln ins Bistro schlenderte, sich auf einen Hocker an der Theke hievte und ihre schwere rote Lederaktentasche nach kurzem Überlegen zu Boden gleiten ließ. Sie sah aus, als hätte sie etwas zu erzählen. Ich lächelte ebenso breit zurück und servierte ihr eine große Tasse Latte macchiato mit Zimt und das schönste Stück Kuchen vom frischen Blech – mit Streuseln so dick wie Haselnüsse und violett schimmernden Brombeeren. Einige Minuten zuvor hatte sich eine Gruppe von fünf Geschäftsleuten nach einem opulenten zweiten Frühstück mit einem ebenso üppigen Trinkgeld verabschiedet, und so war ich in bester Spendierlaune. Wenn mich nicht alles täuschte, hatten die Herren sich in meinem Frühstücksbistro rundum wohl gefühlt, und ich konnte damit rechnen, sie bald wiederzusehen. Stammkunden waren mir die liebsten – zumal solche, denen es auf zwei oder gar fünf Euro nicht ankam. Vor acht Jahren war mir das Ladengeschäft am Ku’damm angeboten worden, und schon nach kurzer Zeit erinnerte nichts mehr an die ehemals dunkle, ungemütliche und verräucherte Kneipe, die ich in ein helles Bistro, in dem Holz und kräftige Farben vorherrschen, verwandelt hatte. Ich bin stolz darauf, mit meinem Konzept auch in schlechteren Zeiten ohne große Umsatzeinbußen gut zurechtzukommen. Heutzutage legen viele Menschen Wert darauf, möglichst naturbelassene Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, und so bin ich mit meinem selbstgebackenen Brot und Kuchen, dem Rohmilchkäse, diversen frischgepressten Säften, Snacks, die man eben nicht an jeder Ecke bekommt, und Produkten aus dem Bio- und Dritte-Welt-Laden gut beraten. Zwischen acht Uhr morgens und sechs Uhr abends serviere ich Frühstück, Kuchen und kleine Imbisse, und der letzte Gast bekommt noch eine genauso frische und ansehnliche Mahlzeit serviert wie der erste. Der Müsli-Fan wird bei mir genauso zufriedengestellt wie die Öko-Mami, die ihren allergiegeplagten Sprössling mit Reiswaffeln versorgen will, Eier nur von ganz besonders glücklichen Hühnern isst und die Hühner selbstverständlich gar nicht. Meine Hauptkundschaft sind Geschäftsleute, Angestellte der umliegenden Büros und Läden, Frauen, die ihren Stadtbummel gern für eine halbe Stunde unterbrechen, und die Besucher einer nahegelegenen Galerie. Meist bin ich schon um sechs Uhr in der Frühe im Bistro, um Brot und Kuchen zu backen. Chris, ein Medizinstudent, der regelmäßig ein bis zwei Mal in der Woche stundenweise bei mir arbeitet, fängt oft erst gegen zehn Uhr an, und wenn viel zu tun ist oder ich mal ausfalle, kommt noch Maren hinzu, eine dreißigjährige alleinerziehende Mutter, die ein paar Euro extra immer gut gebrauchen kann. Es mag pathetisch klingen, aber ich liebe meine Arbeit – das ständige Kommen und Gehen, das leise oder auch lautere Gemurmel, Gesprächsfetzen, Geschirrklappern, dazu der Duft von frischem Brot und gutem Espresso. Es gibt Gäste, die zum ersten Mal kommen, und andere, die ich schon seit Jahren kenne. Einige sind mir ans Herz gewachsen, andere sehe ich lieber von hinten, selbst wenn sie spendabel sind, und ich muss mir Mühe geben, nicht nur höflich, sondern freundlich zu sein. Besonders genieße ich die einsamen Morgenstunden, wenn ich den Teig knete und forme. Der Ofen summt leise in der Stille, und meine Hände werden warm und weich, während ich darüber nachdenke, welche Bestellungen aufzugeben sind oder ob Tamara sich wohl mal wieder blicken lässt. Tamara ist meine inzwischen neunzehnjährige Tochter. Ich habe sie zu einer selbständigen jungen Frau erzogen – zu einer so selbständigen, dass sie es eine Zeitlang völlig in Ordnung fand, ihre Mutter viele Wochen nicht zu sehen, ja nicht mal zwischendurch kurz anzurufen. Vielleicht ist es das sogar. Britta, die es schließlich wissen muss, da sie selbst Mutter von zwei, wenn auch kleineren Kindern ist und zudem Berufsschullehrerin, hält die Abnabelung meiner Tochter jedenfalls nicht nur für erfrischend normal, sondern auch für begrüßenswert. Manchmal, wenn innerlich alles erledigt und abgehakt ist, wird mein Kopf ganz leer, und dann weiß ich, dass das Brot an diesem Tag besonders gut wird.

Britta schob ihren Teller nach wenigen Minuten mit wohligem Seufzen zurück.

»Wie gut, dass dein Laden nicht bei mir um die Ecke ist – ich würde süchtig werden nach deinem Kuchen«, erklärte sie. Sie schaute kurz an sich herunter und seufzte gleich noch einmal. »Dabei sollte ich ihn mir wirklich verkneifen.« Sie strich ihre Jeansbluse glatt und zog den Bauch ein, was nach dem Kuchengenuss sicherlich nicht das angenehmste Gefühl gewesen sein dürfte. »Apropos verkneifen«, fügte sie dann hinzu. »Du glaubst nicht, wen ich gestern bei Hugendubel getroffen habe. Du glaubst es wirklich nicht.«

Ihr Ton sollte beiläufig klingen, aber wir kannten uns schon zu lange, als dass es ihr noch gelungen wäre, mir etwas vorzumachen. Ich ging jede Wette ein, dass sie vor Mitteilungsdrang fast platzte – mehr noch: Britta war zwar ganz wild nach meinem Kuchen, da er in der Tat gut war und sie darüber hinaus ohne Süßes weder leben konnte noch wollte, doch an diesem Mittag diente ihr Abstecher ins Bistro in der Hauptsache dem Zweck, ihre Neuigkeit bei mir loszuwerden, und zwar möglichst so, dass ich vor Spannung bebte und an ihren Lippen hing. Ich kassierte an zwei Tischen, brachte das Geschirr in die Küche und setzte mich dann Britta gegenüber. Ich wusste, dass es ein längeres Geplänkel geben würde, bis sie endlich mit der Sprache herausrückte, und es gehörte zu unserem Spielchen, dass ich zunächst ganz gleichmütig tat.

»Ach, glaub ich also nicht?« entgegnete ich schließlich. »Na, erzähl schon.«

»Denk mal an unsere Schulzeit zurück«, forderte Britta gutgelaunt und stützte die Ellenbogen auf.

»Das ist über zwanzig Jahre her«, entgegnete ich.

»Richtig.«

»Okay – du hast einen Lehrer getroffen, und er hat dich an deinen eindrucksvollen dunklen Augen, den perfekt gestylten blonden Haaren und deiner charismatischen Persönlichkeit sofort wiedererkannt.«

Britta lachte. »Schön wär’s. Nein, kein Lehrer. Eine Mitschülerin.« Sie schaute mich an. »Sie sieht phantastisch aus. Wie aus einem Modemagazin. Obwohl sie damals nicht so herumlief, habe ich sie sofort wiedererkannt. Frag mich jetzt aber nicht warum. Irgendwie hat es sofort geklingelt. Vielleicht war es eine typische Geste oder ihre Stimme.«

Ich schwieg. Brittas in die Länge gezogenes Ratespiel ermüdete mich allmählich, dennoch war meine Neugierde geweckt. »Okay, lass es uns verkürzen – ich komme nicht drauf. Also?«

»Paula. Ich habe unsere alte Freundin Paula getroffen.«

Ich sah sie sofort vor mir – mit ihren kastanienbraunen kurzen Haaren und den blauen Augen. Am liebsten hatte sie weite Pullover getragen, und wenn sie gelacht hatte, war das überaus ansteckend gewesen. Ich konnte mich gut daran erinnern, dass ich oft verlegen gewesen war, wenn sie mich direkt angeschaut hatte.

»Weißt du noch – sie ist nach dem Abi gleich nach Frankfurt gegangen, ohne das großartig anzukündigen«, erinnerte Britta mich. »Und hat sich danach nie wieder bei uns blicken lassen.«

Das stimmte. Es waren noch zwei Postkarten von ihr gekommen und ein eher unpersönlicher Brief, und damit hatte es sich dann auch. Dabei waren wir mal eine richtige Clique gewesen – Paula, Britta, Kerstin und ich. Paula hatte es nach der Schule sehr eilig gehabt, Berlin zu verlassen, und obwohl wir drei Daheimgebliebenen über all die Jahre hinweg befreundet oder zumindest in regelmäßigem Kontakt blieben, war es anders als vorher.

»Und wie geht es ihr? Was macht sie jetzt so?« fragte ich.

»Sie hat richtig Karriere gemacht«, erzählte Britta. »Arbeitet in einer schicken Werbeagentur und soll jetzt die Niederlassung in der Hauptstadt leiten.«

Ich horchte auf. »Sie zieht also wieder zurück nach Berlin?«

Britta nickte. »Sie ist bereits letzten Monat umgesiedelt, aber wenn du mich fragst: einen sonderlich glücklichen, geschweige denn enthusiastischen Eindruck hat sie mir nicht gemacht.«

Ich stand auf, weil neue Gäste gekommen waren. Sie brauchten ungewöhnlich lange, bis sie gewählt hatten, und ich verdrehte innerlich einmal kurz die Augen. Äußerlich blieb ich gelassen und freundlich und hoffte, dass meine Ungeduld nicht bemerkt wurde. Ich hatte Jahre gebraucht, um Miene und Tonfall auch in Situationen, die mir gegen den Strich gingen, unter Kontrolle zu behalten. Als Studentin hatte ich mal einen Job in einem Ausflugslokal verloren, weil ich unwirsch zu einem Gast gewesen war. Dass der mir zu nahe getreten war, hatte meinen damaligen Chef herzlich wenig interessiert. Ich hatte die Begebenheit zum Anlass genommen, mir erstens meine Chefs von da an besser anzusehen und zweitens an meiner Selbstbeherrschung zu arbeiten. Es kostete Zeit und Nerven, doch ich war von Mal zu Mal besser in der Lage, aufdringliche oder auch unsympathische Gäste dezent abzuwehren beziehungsweise ihnen mit unverbindlicher Freundlichkeit zu begegnen. Schließlich saß ich Britta wieder gegenüber.

»Wie kommst du darauf?« setzte ich unser Gespräch übergangslos fort. »Eben hast du noch betont, dass sie aussieht wie ein Model und offensichtlich Karriere gemacht hat.«

»Ganz einfach – sie steht nicht auf Berlin«, erwiderte Britta achselzuckend. »Frankfurt gefällt ihr richtig gut, sagt sie, doch das ist natürlich kein Argument, wenn man eine solche Chance geboten bekommt.«

»Wohl eher nicht. Aber davon abgesehen – erzähl doch mal, wie war sie so?«

Britta wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ziemlich zurückhaltend, die Gute. Reserviert. Ein bisschen nervös. Schien nicht gerade überschwenglich erfreut, mich zu sehen. Dabei haben wir uns doch damals alle ziemlich gut verstanden. Oder siehst du das anders?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

Es lag mir zwar gefährlich weit vorn auf der Zunge, dass Britta und Paula nach meiner Erinnerung nicht immer herzlich miteinander umgegangen waren, doch ich schluckte es nach kurzem Überlegen hinunter. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle?

»Der Club der Hungerkünstlerinnen und seine Vorsitzende Paula«, bemerkte Britta nach einer kleinen Pause und fing dann an zu kichern. »Weißt du noch – wir waren damals total auf dem Diät-Trip.« Sie seufzte. »Und ich war mindestens zwanzig Pfund leichter als heute.«

Ich entsann mich nur zu gut: Paula hatte die Regie übernommen und über jedes Gramm, das wir verloren oder auch zunahmen, detailliert Buch geführt. Sie hatte eine Menge über die Zusammensetzung von Nahrungsmitteln gewusst und über diverse Tricks, satt zu werden und dennoch abzunehmen. Magerquark, Sport und Salat bis zum Abwinken. Ich schüttelte mich.

»Tja, und wie gesagt – sie ist eine richtige Bohnenstange, aber von den alten Clubzeiten will sie nichts mehr wissen«, erzählte Britta weiter. »Ist doch merkwürdig, oder?«

»Ach? Habt ihr darüber gesprochen?«

»Na klar, ich habe sogar vorgeschlagen, dass wir uns alle mal treffen und auf die guten alten Zeiten anstoßen und bei der Gelegenheit hier im Bistro ein bisschen feiern. Meinetwegen mit Gurkensalat, Diätkuchen und kalorienarmem Sekt, falls es so was gibt. Das wäre doch auch in deinem Sinne, oder?«

Ich zuckte die Schultern. »Klar, warum nicht? Das ist mal was anderes.«

»Dachte ich auch.« Britta verzog den Mund. »Doch Paula hat es vor Begeisterung nicht gerade umgehauen. Ich konnte ihr nur mit Müh und Not eine Visitenkarte aus dem Ärmel leiern und hatte den Eindruck, dass sie das im selben Augenblick bereute, in dem das Kärtchen in meiner Tasche verschwand. Tja, was sagt man dazu? Vielleicht schwebt sie inzwischen in ganz anderen Gefilden und mag sich nicht mehr mit uns abgeben.«

Paula und hochnäsig – das konnte ich mir nicht vorstellen. Doch zwanzig Jahre waren eine lange Zeit.

»Dennoch oder auch gerade deshalb – ich finde, wir sollten diese Begegnung nicht so einfach auf sich beruhen lassen und sie auf jeden Fall noch mal anrufen«, fuhr Britta fort. »Aber vielleicht ist es besser, wenn du das machst. Ihr hattet doch schon damals den besten Draht zueinander. Dieser Ansicht ist Kerstin übrigens auch.«

Ich lächelte. »Ihr habt euch also schon abgesprochen?«

»Zufälligerweise hat Kerstin mich gestern abend angerufen, um mir von ihrem neuen Lover vorzuschwärmen, und als sie sich in intimen Einzelheiten zu verlieren drohte – du kennst ja Kerstin, wenn sie so richtig in Fahrt ist –, hab ich rasch das Thema gewechselt und ihr lang und breit von Paula erzählt.« Britta hangelte nach ihrer Aktentasche, entnahm ihr eine Visitenkarte und drückte sie mir in die Hand, bevor ich auch nur einmal tief durchatmen konnte. »Hier findest du alles, was du brauchst. Versuch doch mal dein Glück.«

Seltsame Aufforderung, dachte ich und steckte die silbergraue Karte mit dem bläulichen Schriftzug ein, nachdem ich sie kurz überflogen hatte. Ich war unschlüssig, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte Paula, bis auf ihren sang- und klanglosen Abschied, in durchweg angenehmer Erinnerung, und nach einer unfreundlichen Abfuhr war mir nicht zumute. Andererseits war es natürlich auch möglich, dass sie einen schlechten Tag gehabt hatte oder Britta ihr einfach zu laut und zu forsch auf die Pelle gerückt war. Hin und wieder fiel Britta auch außerhalb der Schule in ihre Lehrerinnenrolle und behandelte andere Menschen wie Jugendliche aus einer ihrer besonders schwierigen Berufsschulklassen. Das mochten die meisten Leute nicht.

Wenige Minuten später brach Britta auf. Sie zog eine Grimasse, als ich ihr einen schönen Abend wünschte, und ich konnte mir denken, dass Bernd, ihr Mann, mal wieder durch Abwesenheit glänzen und sie, wenn die Kinder im Bett waren, mit einer Schachtel Pralinen vor dem Fernseher auf seine Rückkehr warten würde. In der Hoffnung, ihm später ein paar liebe Worte zu entlocken. Oder ein bisschen Zärtlichkeit. Es war mir schleierhaft, wieso Kerstin immer noch nicht begriffen hatte, dass Britta die letzte war, die sich ihre Liebesgesänge anhören wollte. Zumindest nicht die verheißungsvollen.

Ich schloss pünktlich und machte Feierabend, nachdem ich den Teig für den nächsten Morgen vorbereitet und die Kasseneinnahmen im Tresor verstaut hatte. Fünf Minuten später war ich zu Hause – meine Wohnung befindet sich über dem Bistro, und sie ist ein richtiges Kleinod. Der Umbau des Geschäfts hatte seinerzeit weniger Geld verschlungen, als ich im Vorfeld kalkuliert hatte, und so war ich in der glücklichen Lage gewesen, mir mein privates Reich nach meinen Wünschen und Vorstellungen einrichten zu können, ohne auf den Pfennig schauen zu müssen. Es gefällt mir heute noch. Die Küche, die offen gestaltet ist und in Ess- und Wohnzimmer übergeht, ein kleiner Hauswirtschaftsraum, Toilette und Arbeitszimmer befinden sich in der unteren Etage. Ich mag das leise Knarzen des Parkettfußbodens, und in der Küche ist mein liebstes Möbelstück der alte Apothekerschrank, den mir meine Großmutter vererbt hat, dicht gefolgt von dem langen schweren Esstisch und der alten Vitrine mit den wundervoll geschliffenen Rotweingläsern. Über eine Wendeltreppe gelangt man nach oben: Tamaras Zimmer, das mittlerweile verwaiste, weil sie mit achtzehn ausgezogen war und jetzt in einer WG lebt, eine Kleiderkammer, daneben mein Schlafzimmer und ein großes Badezimmer. Wohn- und Schlafraum sind mit blau-grauem Teppichboden ausgelegt und mit geölten Kiefernmöbeln eingerichtet. In meinem Zimmer hängen orangefarbene Vorhänge, die mir meine Mutter genäht hat. Insgeheim hatte ich bei meinem eifrigen Nestbau die Hoffnung gehegt, dass Martin vielleicht doch seine Frau verlassen und zu mir ziehen würde. Warum sonst hätte er meine beruflichen Pläne und den Ausbau der Wohnung so großzügig unterstützen und sponsern sollen? Einige Monate später war mir dann klar geworden, dass er sich lediglich hatte freikaufen wollen. Auf einem Regal neben dem Bett stehen Fotos von Tamara, ein paar Krimis und einige Fotobände über Griechenland, die mir Martin nach unserem letzten Urlaub geschenkt hatte. In der untersten Reihe finden sich einige Bücher über Sozialpädagogik, die von meinem kurzen Gastspiel an der Uni zeugen. Vier Semester lang hatte ich es dort mehr schlecht als recht ausgehalten. Dann hatte Tamara sich angekündigt, und ich hatte die Schwangerschaft zum Anlass genommen, meine berufliche Zukunft neu zu überdenken. Das hört sich großartiger an, als es war: Zwei Jahre lang war ich neben meinem Hauptberuf als Mutter in Cafés und Restaurants jobben gegangen, während Tamaras Vater sich längst aus dem Staub gemacht hatte. Später war ich Hotelfachfrau geworden und hatte einige gutbezahlte Anstellungen gehabt. In dieser Zeit war mir Martin über den Weg gelaufen. Ich war froh, dass ich nach all den Jahren ohne Bitterkeit an ihn denken konnte. Na gut – höchstens noch mit einer winzig kleinen Portion Bitterkeit, denn inzwischen war mir klar, dass wir auch unabhängig davon, dass er verheiratet gewesen war, nicht zusammengepasst hatten.

Ich stellte mich unter die Dusche. In einen kuscheligen Bademantel gehüllt, fläzte ich mich wenig später auf das breite Ledersofa und genoss zur ABENDSCHAU ein Baguettebrötchen mit Lachs und ein Glas leicht gekühlten kalifornischen Weißwein. Tamara rief nicht an. Vielleicht war ja in ihrer WG heute abend gemeinsames Putzen angesagt oder ein Spieleprogramm zur Förderung der interdisziplinären Kommunikation oder Töpfern bei Vollmond; Einölen nach Ayurveda wäre auch noch eine Möglichkeit, ganz zu schweigen von Höhlentrommeln in Kombination mit der Urschrei-Methode – da konnte sie nicht einfach die Gruppe verlassen, um dann auch noch ausgerechnet ihre Mutter anzurufen. Damit wäre sie in der WG sicherlich als hoffnungslose Spießerin verschrien gewesen. Sei nicht so zynisch, Rieke, schalt ich mich und konnte mir dennoch kaum das Lachen verkneifen. Die Tatsache, dass ich nie im Leben in einer WG hausen könnte, hieß ja noch lange nicht, dass das auch für meine Tochter gelten musste. Selbst wenn sie sonst, wie ich fand, was sie allerdings immer wieder entrüstet bestritt, eine ganze Menge von mir hatte. Aber wie dem auch sein mochte – ich hatte beschlossen, was Tamaras Zimmer anging, nichts zu überstürzen. Vielleicht brauchte sie es ja doch bald wieder. Und morgen, dachte ich, morgen melde ich mich bei Paula.

2

Sie war erst in der zwölften Klasse auf unsere Schule gekommen, und wir lernten uns durch gemeinsame Kurse in Sozialkunde und Deutsch kennen. Sie hatte Charme. Außerdem war sie selbstsicher, ruhig, klug und verlässlich. Erst später erfuhr ich, dass ihr jüngerer Bruder bei einem Busunglück ums Leben gekommen war und sie mit ihren Eltern aus dem Norden Berlins in den Süden gezogen war, weil insbesondere ihre Mutter in der gewohnten Umgebung nicht mehr leben konnte. Um so erstaunlicher fand ich Paulas Haltung. Sie wirkte zwar oft introvertiert und sprach so gut wie nie über ihre Familie, war aber keine Einzelgängerin, und wenn sie Kummer hatte, so ließ sie es ihre Umgebung nicht spüren. Ich mochte sie auf Anhieb. Kerstin, mit der ich seit der Grundschule befreundet war, ebenfalls. Unsere gemeinsame Freundin Britta war zwar zunächst nicht so begeistert, aber dem maß ich keine sonderliche Bedeutung bei. Britta tat sich grundsätzlich etwas schwer, wenn Neues auf sie zukam, erst recht, wenn es sich dabei um eine eventuelle Konkurrentin handeln könnte. Es blieb ihr sicherlich nicht verborgen, dass ich bald ähnliche Turnschuhe wie Paula trug und meine Frisur änderte, was ich viele Jahre nicht getan hatte. Ich schwärmte plötzlich für Oscar Wilde und Hermann Hesse, weil ich mitbekommen hatte, dass Paula die Romane der beiden verschlang.

Es war zu Beginn der dreizehnten Klasse, als Britta eines Tages nach der Schule mit düsterer Miene verkündete, dass sie ab sofort ein neues Leben zu führen gedachte. Wir waren zu viert auf dem Weg zur Bushaltestelle. Kerstin zündete sich gerade eine Zigarette an, während Paula sich einen Kaugummi in den Mund schob. Ich ging neben ihr und träumte vor mich hin.

»Und ich meine das verdammt ernst!« bekräftigte Britta ihr Vorhaben, als zunächst niemand etwas sagte. »So geht das jedenfalls nicht weiter.«

Kerstin nickte, dass ihre rotblonden Haare nur so flogen, obwohl sie noch gar nicht wusste, um was es ging. Der Beginn eines neuen Lebens war an sich schon etwas Tolles, erst recht wenn Britta ihn anstrebte.

»Ich passe in keine Hose mehr«, erläuterte Britta schließlich und blickte von einer zur anderen. »Obwohl ich meist esse wie ein Spatz, gehe ich auseinander wie ein Hefeteig. Ich traue mich kaum noch auf die Waage. Meine Mutter sagt, dass viele Mädchen in unserem Alter ein wenig mollig werden, aber das tröstet mich auch nicht. Ganz im Gegenteil. Mollig finde ich so oder so ätzend. Allein das Wort ist schon eine Zumutung!«

»Ich weiß genau, was du meinst«, pflichtete Kerstin ihr bei. »Ich habe in den letzten Monaten auch ganz schön zugelegt und esse nicht anders als sonst. Max hat letztens sogar was von barocken Formen und Rubens gequasselt. Als Kompliment habe ich das nicht gerade aufgefasst.«

Ich hatte keine Ahnung, was Britta und Kerstin über die Essgewohnheiten von Spatzen wussten, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie beim Vergleich mit ihren Mahlzeiten einen anderen Vogel im Sinn hatten als ich. Ich kannte keine Spatzen, jedenfalls keine einheimischen, die regelmäßig große Portionen Pommes rot-weiß aßen und zwei Stücke Schoko-Sahne-Torte für einen kleinen Snack hielten. Doch davon abgesehen – Max, seit einem halben Jahr Kerstins fester Freund, lag mit seinem Rubensvergleich durchaus richtig: Kerstin war üppig und sehr weiblich gebaut – na und? Sie sah hinreißend aus mit ihrer roten Mähne und den langen, kräftigen Beinen.

»Und Tim findet das garantiert auch«, fuhr Britta einen Moment später mit Grabesstimme fort. »Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass er mir heute in der großen Pause alles andere als begeistert auf die Hüften gestarrt hat. Ihr wisst schon – sein Blick war eher … hm …«

»Skeptisch und gleichzeitig ein wenig vorwurfsvoll?« schlug Kerstin vor und inhalierte tief.

»Genau so!«

Tim war Brittas neuester Schwarm – ein pickliger, magerer Junge aus unserem Jahrgang, der meiner Ansicht nach immer skeptisch und vorwurfsvoll aus der Wäsche guckte, weil ihm das Leben an sich und die Frauen im besonderen nicht ganz geheuer schienen, aber ich schätzte, dass Britta dieses Argument nicht überzeugt hätte. Wahrscheinlich wollte sie es noch nicht einmal hören.

»Ich finde, der sollte sich lieber um seine Pickel kümmern, statt um die Hüften anderer Leute«, warf ich vorsichtig ein, erntete aber nur empörte Blicke.

»Dafür kann er schließlich nichts«, entgegnete Britta mit vorgerecktem Kinn. »Und ich finde es ziemlich gemein von dir, ihn so niederzumachen. Nur weil du ihn nicht magst.«

»Das finde ich auch«, echote Kerstin. »Der Typ ist nämlich echt in Ordnung.«

»Ach? Und Britta wegen ihrer Hüften nicht? Und du gehst demnächst in Sack und Asche, weil du als Barockweib entlarvt worden bist? Klasse!«

Paula lachte, und ich grinste verlegen, während Kerstin den Kopf schüttelte und Britta ihre dunklen Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzog. Dann wandte sie den Kopf zur Seite und starrte Paula finster an.

»Du kannst das sowieso nicht beurteilen!« schnauzte sie Paula an, dass ich zusammenzuckte – sie konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Paula sich über sie amüsierte. Dabei spielte es offenbar auch keine Rolle, dass ich den Spruch von mir gegeben hatte. »Du bist schlank. Was weißt du schon von Hüftspeck und kneifenden Hosen?«

Paula lächelte. »Mehr als du denkst.«

»Nicht doch!«

»Ich habe im Verlauf des letzten halben Jahres etliche Kilo abgenommen, die mich gestört haben«, gab Paula in ruhigem Tonfall zurück.

Britta und Kerstin begutachteten Paula mit prüfenden Blicken. In dem locker sitzenden Pullover war die Veränderung nicht auf Anhieb zu erkennen, aber mir war letztens beim Sportunterricht aufgefallen, dass Paula schmaler geworden war. Doch ich hatte sie nicht darauf angesprochen.

»Stimmt«, entgegnete Kerstin. »Jetzt, wo du es sagst …«

Britta verzog den Mund. »Na ja, ich finde, es fällt kaum auf. Du warst ja vorher auch nicht gerade ein Schwergewicht.«

»Danke für das Kompliment.«

Dazu schwieg Britta. Sie machte Paula selten Komplimente.

»Und wie hast du das angestellt?« hakte Kerstin nach.

Mittlerweile waren wir an der Bushaltestelle angekommen. Ein frischer, schon leicht herbstlich riechender Wind blies uns um die Ohren, und ich verkroch mich tiefer in meine Kapuzenjacke.

»Na, ganz einfach«, gab Paula zurück. »Ich habe Diät gehalten. Anders funktioniert es nicht.«

»Ach, wie originell! Nur bei den meisten klappt das doch sowieso nicht«, knurrte Britta. »Da quält man sich vier Wochen mit irgendwelchen geschmacklosen und kalorienarmen Mahlzeiten herum, nimmt ein paar Pfund ab, hat aber dafür ständig schlechte Laune und Alpträume. Und kaum isst man einige Tage wieder halbwegs normal, ist alles für die Katz.« Sie tippte sich an die Stirn.

Kerstin runzelte die Augenbrauen. »Ja, das kenne ich auch.«

Paula schüttelte energisch den Kopf. »Aber nein. Wenn man es richtig angeht, passiert genau das eben nicht. Man muss seinen Stoffwechsel in Gang bringen und Sachen essen, die sättigen und zufrieden machen. So hat es auch bei mir geklappt.«

Britta grinste. »Schoko-Sahne-Torte macht mich sehr zufrieden. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr.«

»Eben nicht«, gab Paula zurück. »Sonst würdest du ja nicht über deine Hüften jammern.«

»Hört, hört, Frau Schlauberger hat gesprochen.«

Ich warf Britta einen scharfen Blick zu. »Na, was denn – willst du nun einen Tip oder willst du keinen Tip?«

Britta machte den Mund auf und schloss ihn wieder, als Kerstin ihr rasch eine Hand auf die Schulter legte. »Nun hört schon auf mit dem Gestichele. Dahinten kommt unser Bus.«

Britta runzelte die Stirn und murmelte etwas Unverständliches. Kurz darauf stiegen wir ein und schwiegen uns in den nächsten Minuten an. Paula blickte zum Fenster hinaus. Als der Bus an ihrer Haltestelle hielt, lächelte sie mich an und grüßte freundlich in die Runde. »Bis morgen dann, macht’s gut.«

Britta nickte ihr kurz zu, Kerstin hob lässig eine Hand. Ich wäre am liebsten mit Paula ausgestiegen und den Rest des Heimweges zu Fuß gegangen. Kaum war der Bus wieder angefahren, sah Britta mich an und brach ihr Schweigen.

»Weißt du was von ihrer tollen Diät?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe heute zum ersten Mal davon gehört.«

»Das nehme ich dir nicht ab.«

Ich verdrehte die Augen. »Und warum nicht?«

»Du hältst doch sowieso immer zu ihr.«

»Was für ein Blödsinn!« entgegnete ich unwirsch.

»Das ist überhaupt kein Blödsinn.«

»Du gönnst ihr bloß ihren Erfolg nicht.«

»Wie bitte?«

»Du hast ganz richtig gehört«, entgegnete ich heftig. »Paula nimmt ein paar Pfund ab, und du wirst gleich grün vor Neid, weil du das bislang nicht geschafft hast!«

Britta tippte sich an die Stirn. »So ein Scheiß. Deine Phantasie geht mit dir durch. Und falls du es nicht gemerkt haben solltest – du hältst schon wieder zu ihr.«

»Sag bloß, du wunderst dich darüber. Bei deinem affigen Benehmen …«

Kerstin fiel mir ins Wort. »Geht das schon wieder los? Ihr spinnt doch alle beide total! Kriegt ihr eure Tage, oder was ist los?«

Britta verschränkte die Arme vor der Brust und kniff die Lippen zusammen. Dann hob sie den Kopf und starrte mich an. »Was Paula kann, kann ich auch. Und was bei ihr Erfolg hatte, wird auch bei mir anschlagen. Das wollen wir doch mal sehen.«

Ich zuckte lässig die Schultern. »Wenn du meinst. Warum nicht? Lass dich bloß nicht aufhalten.«

»Genau«, schaltete Kerstin sich wieder ein. »Und bei mir auch. Wir werden sie einfach noch mal fragen.«

Gute Idee, dachte ich bei mir. Und richtig klasse wäre es, wenn ihr dann auch zuhören würdet. Ich war stolz, dass es mir gelang, die spitze Bemerkung für mich zu behalten.

Wie sich herausstellte, meinten die beiden es tatsächlich ernst. Dieser Tim musste es Britta ganz schön angetan haben, und Kerstin war ohnehin immer mit von der Partie. Schon am nächsten Tag, als wir in der großen Pause zu viert über den Schulhof schlenderten, schnitt Britta das Diätthema erneut an, und Paula reagierte nicht im mindesten verschnupft, sondern schlug sofort ein Treffen vor. Wir verabredeten uns drei Tage später nach der Schule bei Kerstin, die eine sturmfreie Bude hatte und außerdem das größte Zimmer. Das behauptete sie jedenfalls – bei Paula zu Hause war bislang noch keine von uns gewesen. Britta war ganz offensichtlich bemüht, sich gut mit Paula zu stellen – so handzahm hatte ich sie schon lange nicht mehr erlebt. Kerstin gab die Gastgeberin, und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als sie uns Kaffee und Schokoladenkuchen auf einem niedrigen Tisch servierte, vor dem wir im Schneidersitz auf dem Fußboden saßen.

»Ihr wollt also abnehmen?« fragte Paula nach einer halben Stunde, die mit allgemeinem Geplauder vergangen war. Sie trank von ihrem Kaffee und blickte über den Tassenrand von einer zur anderen. Ein winziges Schmunzeln hatte sich in ihren Augenwinkeln festgesetzt. Sie hob die Brauen, als ihr Blick meinen traf. »Da fällt mir ein – was ist eigentlich mit dir? Du siehst nicht aus, als hättest du eine Diät nötig.«

Das hatten die beiden anderen auch schon festgestellt, und ich hatte schlicht geantwortet, dass mich das Thema so oder so interessieren würde, was nicht mal gelogen war. Oder nur zum Teil. Mich interessierte alles, was mit Paula zu tun hatte.

»Man kann ja nie wissen«, antwortete ich beiläufig. »Und zwei, drei Kilo weniger täten mir auch ganz gut.«

In Wahrheit hatte ich mir noch nie Gedanken über mein Gewicht gemacht und erst recht nicht über irgendwelche Diäten. Ich aß, was mir schmeckte, und fühlte mich wohl, so wie ich war. Dass ich schlank war, verdankte ich wohl einer relativ ausgewogenen Ernährung und der Tatsache, dass ich mich gern und viel bewegte. Paula schien meine Antwort zufriedenzustellen – jedenfalls hakte sie nicht nach, und ich war froh darüber.

»Bei mir darf es ruhig etwas mehr sein«, sagte Britta nun, und sie sah aus, als hätte sie Zahnschmerzen.

»Und wie viel?«

»Mindestens fünf Kilo.«

»Dann nimm dir sieben vor«, sagte Paula.

»Wieso?«

»Ganz einfach – um zwei Kilo Spielraum zu haben, wenn du allmählich wieder etwas mehr isst.«

Kerstin riss entsetzt die Augen auf. »Etwas mehr? O Gott, wie meinst du das denn? Müssen wir uns für den Rest unseres Lebens von Möhren und Knäckebrot ernähren?«

Paula lachte ihr ansteckendes Lachen. »Aber nein.«

»Den einen oder anderen Magerquark dürfen wir uns dann zur Feier des Tages noch zusätzlich gönnen, oder was?« befürchtete Britta.

Paula schüttelte den Kopf. »So schlimm ist es wirklich nicht. Nur über eines müsst ihr euch klar sein – ohne die Veränderung eurer Essgewohnheiten geht gar nichts, und zwar nicht nur für vier Wochen. Es gibt keine Wunderpillen, die ihr einnehmt, und dann purzeln die Pfunde, obwohl ihr weiter lustig drauflos futtert und niemals ein Hungergefühl spürt. Ihr werdet weniger Kalorien zu euch nehmen und anders essen und euch mehr bewegen. Das ist die Devise – so einfach wie wirksam.«

»Neeeiiin!« quietschte Kerstin, und ihre roten Haare flogen von einer Schulter zur anderen, so energisch schüttelte sie den Kopf. »Nicht das auch noch! Wenn du denkst, dass ich ab sofort jeden Tag durch den Park renne oder mich im Fitneßstudio quäle – vergiss es am besten gleich wieder! Ich bin sportlich eine Null und werde es immer bleiben, damit muss ich mich einfach abfinden. Frag Rieke, wir hatten im letzten Semester gemeinsam Badminton. Sie hat sich für mich in Grund und Boden geschämt.«

Es blieb mir nichts anderes übrig, als das zu bestätigen. Kerstin hatte den Badmintonschläger meist wie eine Bratpfanne geschwungen und sich ähnlich reaktionsschnell bewegt wie ein satter Koalabär, aber Paula war damit nicht zu erschüttern.

»Es gibt keine sportlichen Nullen. Irgendwas wirst du finden, womit du halbwegs klarkommst, und das steht dann mindestens viermal die Woche auf dem Programm. Meinetwegen geh spazieren – aber in einem flotten Tempo, für gut eine Stunde, es darf auch mehr sein. Außerdem: Es ist dein Körper, nicht meiner.«

Kerstin schluckte, als hätte sie einen Tennisball im Hals, und schaute Britta an, die ihrerseits ein wenig blass um die Nase geworden war. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie sich ihre angekündigte Lebensänderung ein wenig anders vorgestellt hatte. Doch auch das schien Paula nicht sonderlich zu schmerzen.

»Und weiter?« mischte ich mich schließlich ein. »Lass uns mal Nägel mit Köpfen machen. Was gibt es denn nun zu essen, nachdem wir stundenlang Turnhallen und Parks unsicher gemacht haben und endlich völlig entkräftet zu Hause angekommen sind?«

»So wenig Fett wie möglich, keinen Zucker, ausgewogene Kohlenhydrate, Vitamine, Ballaststoffe«, spulte Paula herunter.

»Klasse, nun weiß ich Bescheid«, murrte Britta und schaute Kerstin an, die ähnlich fragend in die Runde blickte.

»Ein oder zwei Pfund von all dem?« schloss ich mich den beiden an. Sie taten mir fast ein wenig leid. »Du musst schon etwas deutlicher werden.«

Den Gefallen tat uns Paula. Fast fünfzehn Minuten lang dozierte sie über die Zusammensetzung von Nahrungsmitteln, Stoffwechselträgheit, Kalorienverbrauch, Fettverbrennung und die vielen Möglichkeiten, dem Hunger ein Schnippchen zu schlagen. Ich schaltete bereits nach fünf Minuten ab, streckte mich der Länge nach auf dem Teppich aus, rollte mich auf die Seite und betrachtete Paula. Das Thema lag ihr. Nicht nur dass sie diese ganzen Details im Kopf hatte und uns so mühelos und anschaulich präsentieren konnte, als hätte sie sich ihr Leben lang mit nichts anderem beschäftigt, sie begeisterte sich förmlich dafür. Es war ihr Steckenpferd. Ihre Wangen röteten sich, während Kerstin und Britta ihr aufmerksam und mucksmäuschenstill zuhörten.

»Tja, soweit dieser kleine Überblick«, schloss Paula ihren Vortrag schließlich ab.

»Du hast echt was auf dem Kasten«, bemerkte Kerstin nach einer kleinen Pause bewundernd, und sogar Britta ließ sich zu einem zustimmenden Nicken herab. »Das hast du dir alles angelesen, als du deine Diät gemacht hast?«

»Ja – das Thema hat mich einfach interessiert.«

Britta biss sich auf die Unterlippe. »Das merkt man, aber davon mal abgesehen: So sensationell neu ist das ja alles nicht. Mir kommt jedenfalls das meiste ziemlich bekannt vor«, sagte sie. »Kann man wahrscheinlich in jeder zweiten Zeitschrift nachlesen.«

Paula nickte. »Anzunehmen. Ich habe doch gesagt: Wunderpillen gibt es nicht, und es ist nun mal eine Binsenweisheit, dass Fett fett macht, insbesondere in Kombination mit zu wenig Bewegung«, erwiderte sie geduldig. »Das einzig wirksame Zaubermittel, das ich kenne, ist die richtige Motivation. Ihr müsst immer euer Ziel vor Augen haben, dann ist das Überlisten des Hungergefühls ein Kinderspiel.«

»Zum Beispiel die kleinere Hose oder ein Typ, der einem gefällt?« fragte Kerstin.

»Dabei sollte es nicht bleiben. Stellt euch zum Beispiel das tolle Gefühl vor, wenn ihr ein bestimmtes Gewicht erreicht habt. Malt euch aus, wie es sich anfühlt, wenn ihr eure schlanke Silhouette im Spiegel betrachtet, oder wenn die bewundernden Blicke der anderen über euch gleiten. Wie befriedigend es ist, mit einem flachen Bauch schlafen zu gehen und nicht mit einem prall gefüllten – lass ihn doch knurren, dafür sind dann am nächsten Morgen wieder zweihundert Gramm weg. So fühlt sich Erfolg an.« Paulas Augen funkelten.

Kerstin lachte und schlug sich auf die Oberschenkel. »Klasse! Du bist ja ein richtiges Verkaufstalent. Wenn du uns das jede Woche in dieser Weise herunterbetest, bleibe ich bestimmt bei der Stange.« Sie fand allmählich Geschmack an der Sache.

»Das könnte ich mir auch vorstellen«, fügte Britta verblüfft hinzu. »Du solltest eine Partei gründen.«

Soviel stand fest – ich würde sie sofort wählen. Paula trank ihren Kaffee aus und schaute mich von der Seite an. Ich richtete mich auf und machte ein ernstes Gesicht.

»DHK«, schlug ich vor. »Die Hungerkünstlerinnen. Präambel: Iss niemals, bevor du nicht weißt, wie du die Kalorien wieder los wirst!«

Kerstin und Britta bogen sich vor Lachen.

»Parteien sind nicht meine Welt«, erklärte Paula und verzog kaum eine Miene. »Aber wie wäre es mit einer Art Club? Wir treffen uns einmal in der Woche, wiegen uns, wie es die Weight Watchers tun, stellen Essens- und Sportpläne auf und besprechen eventuelle Probleme.«

»Und du motivierst uns«, fügte Britta hinzu.

»Ich tue mein Bestes.«

Damit war der Club gegründet. Ich zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass er ein voller Erfolg werden würde.

3

Der Teig war gut aufgegangen. Der säuerliche Geruch der Hefe stieg mir in die Nase, als ich das Tuch von der Schüssel nahm und tief einatmete. Ich kochte mir einen Kaffee und schäumte Milch auf. Nach zwei, drei Schlucken schob ich die Tasse beiseite und begann den Teig zu kneten. Ich hatte nicht besonders gut geschlafen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn ich den Anruf bei Paula noch am Abend zuvor erledigt hätte. Dann würde ich jetzt bereits wissen, woran ich war. Ob Paula wirklich zickig und griesgrämig oder gar arrogant geworden war oder bei der Begegnung mit Britta lediglich einen schlechten Tag gehabt und meinen Anruf selbstverständlich begeistert aufgenommen hatte. Was mir zweifelsohne das liebste gewesen wäre.

Glücklicherweise wurde es ein hektischer Tag, an dem ich meine gesamte Aufmerksamkeit benötigte. Maren konnte nur zwei Stunden arbeiten, da ihre Kleine krank war, und Chris musste für eine Prüfung lernen. So war ich die meiste Zeit allein und hatte alle Hände voll zu tun. In der Küche stapelte sich das Geschirr, an einem Tisch trommelte ein Gast schon fünf Minuten ungeduldig mit dem Schlüssel auf die Tischkante, und ich kam kaum mit dem Auffüllen der Ware nach. Vor Jahren hatte ich mal eine Chefin gehabt, die um so ruhiger wurde, je mehr Andrang herrschte, und unvorhergesehene Zwischenfälle, die andere an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hätten, zauberten ihr ein seliges Lächeln aufs Gesicht und ließen sie zur Höchstform auflaufen. Sie arbeitete schnell und zugleich hochkonzentriert, löste Probleme im Handumdrehen, war freundlich zu jedem noch so ungnädigen Gast, und bei all dem hatte man das Gefühl, dass sie in ihrer Arbeit aufging. Anfangs hatte ich sie im Verdacht gehabt, heimlich irgendwelche Beruhigungspillen zu schlucken oder regelmäßig in einer stillen Ecke ein Friedenspfeifchen zu rauchen; als wir uns dann besser kennenlernten, wurde mir klar, dass ich völlig falsch gelegen hatte. Sie war einfach ein Naturtalent, und so gelassen und souverän wie sie würde ich wahrscheinlich niemals arbeiten können. Doch als ich an diesem Samstag nach oben in die Wohnung ging, war ich nicht nur müde und geschafft, sondern auch zufrieden mit mir. Ich hatte meine Sache unter den gegebenen Umständen ziemlich gut gemacht, und über die Kasse konnte ich mich auch freuen.

Der Anrufbeantworter blinkte. Tamara, dachte ich und lag richtig mit meiner Vermutung. Meine Tochter ließ ein kurzes »Hi« ertönen, worauf eine beinahe noch kürzere Erklärung folgte, warum sie sich auch an diesem Wochenende nicht sehen lassen könne. Dann eben nicht. Der zweite Anrufer war mein Vater, der, wie er eingangs bemerkte, nur mal hören wollte, ob alles in Ordnung sei und wann ich denn mal wieder auf ein Stündchen vorbeikommen würde. Mein letzter Besuch läge ja schon mehrere Wochen zurück. Und so weiter und so fort. Ich verdrehte die Augen und lachte dann leise. Das kam mir irgendwie bekannt vor.

Ich ließ mir ein heißes Bad ein und verschwand für eine halbe Stunde in einer Wolke aus apfelsinenrotem Schaum. Nach einem kurzen Nickerchen gab es keine Ausflüchte mehr. Ich holte die Visitenkarte, die Britta mir gegeben hatte, atmete zweimal tief durch und wählte dann die Nummer. Wenn ein Anrufbeantworter dran ist, lege ich sofort wieder auf, dachte ich, und im gleichen Augenblick hörte ich Paulas Stimme, die sich nur mit einem schlichten »Hallo?« meldete.

»Ja, auch hallo«, antwortete ich. »Hier spricht Rieke. Ich hoffe, ich störe dich nicht.«

»Rieke? Die Rieke?« fragte Paula nach einer kleinen Pause, in der mein Mund noch trockener wurde, als er ohnehin schon war.

»Ich weiß natürlich nicht, wie viele Riekes du sonst noch so kennst, aber ich bin die aus der Schule«, gab ich betont munter zurück. »Britta hat mir von eurer Begegnung erzählt und mir deine Visitenkarte gegeben. Tja, und da dachte ich, versuch es doch einfach mal.« Blöder Satz, fügte ich in Gedanken hinzu. Geistlos und abgedroschen. Als hätte ich vorher nicht eine einzige Sekunde über das Gespräch nachgedacht. Oder aber viel zu lange.

»Ja, klar«, sagte Paula. »Warum auch nicht?«