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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Karin Kallmaker

Dein Herz sei mein

Roman

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Krug

K+S digital

TEIL I

1

»Unser Credo lautet: Es gibt den passenden Partner, die passende Partnerin für Sie.«

Marissa Chabot hielt inne und strich sich eine blondierte Haarsträhne hinter das Ohr. Die Menschen, die sich in dem Konferenzraum versammelt hatten, waren sehr gemischt, manche waren über Fünfzig, andere unter Dreißig, die Hautfarben variierten von Ebenholz bis Gewächshauschampignon und die Frisuren von »dauergewellte Mom« bis »Baby Butch«. Ein rein weibliches Publikum war Marissa am liebsten.

»Dieser Jemand sitzt nicht im Coffeeshop. Ist nicht in der Bibliothek anzutreffen. Nicht bei Ihnen auf der Arbeit oder ein paar Straßen weiter. Dieser Jemand ist im Internet. Arbeitet viel, wie Sie. Hat genau wie Sie keine Zeit für Verabredungen, die sich als der schlimmste Missgriff Ihres Lebens herausstellen können.«

Sie brauchte die Notizen im Grunde nicht, die sie vor sich auf dem Pult ausgebreitet hatte. Sie hatte diese Rede in den vergangenen zwei Monaten so oft gehalten, dass sie sie auswendig konnte.

»Ihr perfekter Partner existiert. Ihr perfekter Partner verdient es, ihn oder sie ausfindig zu machen. Warum diese Suche nicht klug angehen? Warum nicht die Technologie nutzen? Antonius hat Kleopatra in einem Umfeld von weniger als hundert Menschen gefunden – und das hat kein gutes Ende genommen, stimmt’s? Heute können Sie unter Tausenden von potentiell passenden Partnern wählen. Sie sind vielbeschäftigt, Ihr Job kostet Sie viel Energie, und wer hat schon die Zeit herauszufinden, ob diese faszinierende Person es aufrichtig meint?« Sie klickte die erste Seite ihrer PowerPoint-Präsentation an und sah zu, wie der Name ihrer Firma sich aus einem Sternschnuppenreigen zusammenfügte.

»Wir von Dein Herz sei mein glauben an die Liebe. Wir glauben an Romantik. Wir glauben an erste Begegnungen, zweite Verabredungen, dritte Jahrestage und an Beziehungen, die ein Leben lang währen können. In den nächsten zehn Minuten werde ich Ihnen erklären, warum unser Fragebogen und die statistische Auswertung mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundsiebzig Prozent ergibt, dass der Partner, den wir für Sie finden, auch in drei Jahren noch eine außerordentlich wichtige Rolle in Ihrem Leben spielen wird.«

Sie klickte sich von einer Seite zur nächsten und hielt nur kurz inne, als sie merkte, dass ihr lang herabbaumelnder Ohrring gegen den Bügel des Mikrofons schlug.

»Siebenundneunzig Prozent unserer Klientinnen und Klienten weisen ein hohes Übereinstimmungsprofil mit vier bis sieben Kandidaten auf. Das heißt, die meisten unserer Klienten füllen ihren Fragebogen vollständig aus und bekommen ein Persönlichkeitsprofil von uns, das etwa so aussieht.«

Mit dem Laserpointer markierte sie einen Absatz, der ein Persönlichkeitsprofil zusammenfasste, und dann eine Liste von fiktiven Namen, die gruppenweise nach Kompatibilitätsgrad, mit 98 Prozent beginnend, zugeordnet waren. »Neunundneunzig Prozent Übereinstimmung sind sehr selten. Die meisten bekommen ein oder zwei Namen in der Kategorie 98 Prozent, einige mehr in den Kategorien 97 und 96 Prozent und noch einige mehr bei 95 Prozent. Aufgelistet werden maximal zehn Namen, da wir festgestellt haben, dass mehr Namen die Klientinnen und Klienten schnell überfordern.«

Das Publikum folgte ihrem Vortrag aufmerksam, und nach ihrer zehnminütigen Präsentation beantwortete sie einfühlsam alle aufgeregt gestellten Fragen. In ihrem inneren PalmPilot machte sie sich eine Notiz über Umfang und Dauer der Präsentation. Auch wenn es nicht zu ihren eigentlichen Aufgaben zählte, als Außendienstmitarbeiterin unterwegs zu sein und sie und Ocky ständig über Geld stritten, war das kein Grund, sie für ihre Neukundenwerbung nicht genauso zu bezahlen wie den Außendienst.

Nach der letzten Frage trat sie mit einer abschließenden Geste vom Rednerpult zurück. »Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse. Und vielen Dank auch an die Organisatorinnen des heutigen Frauen-Forums. Ich habe hier vorne genügend Visitenkarten für alle, mit einem Vermerk für einen Rabatt auf Ihre Anmeldegebühr. Dankeschön.«

Der Applaus war höflich, aber kurz, denn die Frauen sammelten bereits ihre Sachen zusammen. Marissa legte ihren Ohrring wieder an und packte ihren Laptop zusammen, während sie mit Frauen plauderte, die nach vorn kamen, um sich eine Visitenkarte zu holen. Es war eine dezente Werbeveranstaltung gewesen, so wie es dem Stil von Dein Herz sei mein entsprach. Die Agentur übte keinen Druck aus. Das Erste, was sie ihren Klientinnen und Klienten rieten, war, sich schlicht und einfach zu entspannen.

Die nächste Veranstaltung würde in Kürze beginnen, und Marissa ergriff die Flucht in Richtung Parkplatz, die Laptoptasche umgehängt. Sonnenlichtsprenkel wärmten ihr das Gesicht, und einen Moment lang vernahm sie, wie sich die heranrollende Brandung auf dem heißen Sand überschlug. Sie schüttelte den Kopf, um das Geräusch zu vertreiben. Es wurde prompt durch eine leise Frage ersetzt: »Ist es das, was du willst, Marissa?«

Sie zwang sich, über das ungewöhnlich warme Winterwetter nachzusinnen, über ihre Schuhe, über statistische Regression – über alles Mögliche, nur um die Erinnerung zum Verstummen zu bringen. Sie genoss das Rekordhoch der Januartemperatur, sagte sie sich munter. San Francisco, jenseits der Hügel und direkt am Wasser gelegen, stellte ebenfalls Rekorde auf.

Das San Ramon Ranch Konferenzzentrum lag nicht weit vom Bürogebäude von Dein Herz sei mein, und sie hatte beschlossen, zu Fuß zu gehen, um sich Bewegung zu verschaffen. Es waren bloß fünf Minuten, und sie würde erst am nächsten Tag Gelegenheit zum Joggen finden. Ein wundervoll sonniger Tag. Wer brauchte schon ein tropisches Paradies, wenn das Amador Valley schon bald frühlingshaft ergrünen würde, während im Rest des Landes noch Frost herrschte?

»Es ist gut gelaufen«, erzählte sie Heather, als sie am Empfang ihre Nachrichten entgegennahm. »Sie haben ungefähr zwei Dutzend Visitenkarten mitgenommen. Damit haben wir ungefähr sechs Interessentinnen und schließen wahrscheinlich drei Verträge ab.«

»Gute Arbeit.« Heather strich sich mit ihrer langen schmalen Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Octavia ist bei dem Treffen der Marketing Association und lässt dir ausrichten, dass die Server mal wieder so langsam sind.«

»Sie hält Lichtgeschwindigkeit für langsam. Dein Haar sieht übrigens toll aus.«

»Danke.« Wieder strich sie eine Strähne zurück. »Ich glaube allerdings, ich brauche eine Haarklemme oder so was.«

»Modischsein hat seinen Preis«, witzelte Marissa. »Der Bügel meines BHs piekt mir in die Achselhöhle.« Heather lachte mitfühlend, und Marissa wandte sich zum Gehen.

Der plüschige violettfarbene Teppichboden des Empfangsbereichs ging in einen strapazierfähigeren grauen Bodenbelag über. Marissa tippte den Code ein und gelangte durch die Doppeltür in den eigentlichen Arbeitsbereich. Die Mitte des weiträumigen Bereiches wurde von Arbeitsnischen eingenommen. In ihrem Büro deponierte Marissa die Laptoptasche neben ihrem überladenen Schreibtisch und legte ihre Fingerringe und die auffällige goldene Halskette mit den dazu passenden Ohrringen ab. Ein weiterer Code verschaffte ihr Zutritt zum klimatisierten Serverraum, und dankbar ließ sie sich am Verwaltungsrechner nieder. Die kühle Luft und das stete Summen fand sie immer schon beruhigend.

Ihre Fingernägel klackten auf der Tastatur, als sie den ersten Diagnosebefehl eintippte. Sie waren zu lang, stellte sie fest, und verzog das Gesicht, als sie der Aufgabenliste auf ihrem inneren PalmPilot eine Maniküre hinzufügte. Während das Diagnoseprogramm die Servicestatistiken verglich, schrieb sie in Gedanken einen kurzen Brief.

Liebes Selbst,

vergiss nicht, die Kennziffer für die Abrechnung Deines Außendiensteinsatzes einzutragen und feil Dir die Nägel. Es ist zwar deprimierend, dass das Nägelfeilen bloß der Tastatur zugute kommen und nicht etwa verhindern wird, jemandem in Deinem Bett weh zu tun, aber das ist kein Grund zum Jammern. Jammern ist diese Woche verboten.

 

Alles Liebe,

Marissa

Wie üblich zeigte der Servicecheck keine Auffälligkeiten. Sie druckte den Report aus, um Ocky den Wind aus den Segeln zu nehmen, und kehrte an ihren Schreibtisch zurück, wo ein Stapel Fragebogen darauf wartete, manuell erfasst zu werden. Sie würde den Kerl, der ihnen den nichtsnutzigen Scanner verkauft hatte, finden und auseinandernehmen. Vielleicht könnten sie eine Aushilfskraft einstellen. Vielleicht wäre die Aushilfskraft der Aufgabe gewachsen. Vielleicht erklärten Kalifornien und Hawaii ihre Unabhängigkeit. Klar.

Sie schob das leere Plastikbehältnis des Take-away-Salats vom Abend zuvor beiseite, und ein großer Stapel Buchhaltungsunterlagen gesellte sich zu seinesgleichen auf dem Fußboden. Ocky hatte ihr mehrere gelbe Notizzettel an den Bildschirm geheftet.

Liebe Octavia M. Zant,

kleb mir noch einen einzigen gelben Zettel an den Bildschirm und ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass Deine Schreibhand zum fehlerhaften Sektor wird.

 

Herzliche Grüße,

Marissa

Eines Tages würde sie diese Nachricht wirklich schreiben und losschicken.

Im Büro war es bereits ruhig geworden, als sie den letzten Fragebogen eingegeben hatte. So viel zum Thema Mitinhaberin der am schnellsten wachsenden Internet-Partnervermittlung in Kalifornien. Sie war völlig verspannt, und ihr stand der Sinn nur noch nach einem Abendessen und vielleicht einem kurzen Besuch im Fitness-Studio. Eine Tür knallte, und sie vernahm ein vertrautes Gewusel, zusammen mit dem rhythmischen Gewummer aus Kopfhörern. Ocky war zurück.

Marissa lehnte lässig im Türrahmen von Ockys Büro und sah zu, wie ihre Geschäftspartnerin ihr Notebook in das Fach stellte, wo es hingehörte, ihre Aktentasche absetzte und Handy und MP3-Player auf die Ladestationen legte. Sie wartete, bis Ocky aufsah, bevor sie sagte: »Wie ist es gelaufen?«

»Super. Du siehst müde aus.«

»Fragebogen. Der Typ vom Kundendienst kommt morgen früh. Mit den Servern ist übrigens alles in Ordnung.« Marissa wünschte, sie hätte ihre Ohrringe nicht abgelegt. »Du siehst auch müde aus.«

»War spät letzte Nacht. Und nicht besonders gut.« Ocky kickte ihre Sandalen von den Füßen und machte es sich mit untergezogenen Beinen auf ihrem Schreibtischstuhl bequem. »Erzähl mir noch mal, warum ich nicht einfach unseren Fragebogen ausfülle und mir eine vernünftige Geliebte besorge.«

Ich könnte tausend Meilen am Tag laufen, dachte Marissa, und hätte immer noch nicht so schlanke braune Beine wie sie. »Weil du dir nicht erlauben könntest, es zuzugeben, wenn du zu den 25 Prozent gehören würdest, die mit Hilfe unseres Systems nicht die passende Partnerin finden.« Sie wollte nicht eingestehen, dass sie selbst in diesem Augenblick bereits eine Klientin von Dein Herz sei mein war. Es war nicht der richtige Moment, um Ocky das zu beichten.

»Und deshalb muss ich mich auf mein eigenes Know-how als Jägerin und Sammlerin verlassen und eine Pleite nach der anderen erleben. Zumindest ist der Sex gut. Na ja, bis auf letzte Nacht, aber sonst eigentlich immer.«

Marissa erlaubte es sich nicht, darüber nachzudenken, was es mit der langen Liste von Ockys kurzlebigen Affären auf sich hatte. Octavias Geliebte waren vorzugsweise groß, blond, gazellenhaft und temporär – alles Eigenschaften, die Marissa nie besitzen würde. Nicht dass ihre eigene Verabredungsbilanz besser aussah. Ihr Liebesleben war von unseligen Zwischenfällen und dummen Schicksalsfügungen beherrscht. Sie hoffte, dass es in Zukunft, mit Unterstützung von selbstentwickelten statistischen Analysen und Algorithmus, einen besseren Verlauf nehmen würde.

Während sie über finanzielle Dinge sprachen, vernahm Marissa wieder das Heranrauschen der Brandung, die sich auf dem heißen Sand überschlug, und die ruhige, aber nachdrückliche Frage: »Ist es das, was du willst, Marissa?« Vielleicht war der Sonnenschein an diesem Tag schuld, dass die Erinnerung immer wieder aufkam. Reine Nostalgie.

Am nächsten Tag würde es genau ein Jahr her sein, aber wen interessierte das schon? Eine Urlaubsaffäre war nicht auf Dauer angelegt. Leidenschaftlich – ja, aber unverbindlich. Tränen beim Auseinandergehen, das Versprechen, sich bald zu melden – Marissa schüttelte den Kopf über ihre Naivität. Sie war längst darüber hinweg. Genau wie über Ocky. Sie war nicht mehr in Ocky verliebt. Sich über Ockys Frauengeschichten Gedanken zu machen und darüber, wie sie aussah, wenn Ocky in der Nähe war, war eine Angewohnheit, die sie ablegen musste.

»Und wenn dann die nächste Auszahlung aus deinem Treuhandvermögen fällig wird, können wir expandieren und eine landesweite Werbekampagne starten.« Ocky haute in die Tasten und checkte und beantwortete eilig ihre E-Mails. »Diese Finanzspritzen sind super fürs Geschäft.«

»Es wird die letzte Auszahlung sein«, erwiderte Marissa langsam, »weil ich diesen Sommer fünfunddreißig werde. Wir müssen darüber sprechen, denn ich sollte wirklich zusehen, dass ich aus meinem Mietverhältnis rauskomme und in eine Eigentumswohnung ziehe.«

»Innerhalb der nächsten fünf Jahre können wir als Inhaberinnen mit einigen größeren Bonusentnahmen rechnen«, erwiderte Ocky. Sie blickte auf und lächelte ihr zuversichtliches Lächeln.

Marissa wollte nicht nachgeben. Diesmal nicht. Sie hatten dieses Gespräch fünf Jahre zuvor schon einmal geführt. Sie hatte eine Menge Geld in das Unternehmen gesteckt, und es begann sich langsam wirklich auszuzahlen, das stimmte, aber sie wollte nicht vierzig werden und auf einem der teuersten Immobilienmärkte des Landes immer noch Miete zahlen. »Wir werden darüber sprechen müssen. Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten, unser Vorhaben zu finanzieren.«

»Lass uns einen Eisbecher oder so essen gehen. Ich könnte eine kleine Stärkung gebrauchen.«

Marissa dachte sehnsüchtig an ihr Fitness-Studio. »Das kann ich mir heute nicht leisten.«

Ocky runzelte die Stirn. »Noch immer auf Diät?«

»Das ist leider keine vorübergehende Sache. Unsere Vorfahren haben in unterschiedlichen Meeren gelaicht, und ich hab die Übergrößengene abbekommen.«

»Ich kann dich dieser Tage ja nicht mal bewegen, dir eine Pizza mit mir zu teilen.«

Marissa verkniff es sich zu sagen: »Eine Pizza mit dir zu teilen heißt, ich esse zwei Drittel und nehme über Nacht drei Pfund zu, während du einen Turbostoffwechsel hast.« Stattdessen wies sie auf ihren Bauch und sagte: »Ich versuche, zwanzig Jahre Schlemmen wettzumachen. Vielleicht könnten wir Kaffeetrinken gehen statt Eisessen? Du kannst dir ja eines von diesen Brownies bestellen, die du so gern isst.«

Ocky erklärte sich widerstrebend einverstanden, und so machten sie Feierabend und verließen das Büro. Wenige Minuten später parkten sie ihre Wagen nebeneinander in der Nähe des Eingangs zum Village Roaster.

Auch wenn die Desserts in der Schauvitrine so verführerisch wie möglich dargeboten wurden, war Marissa sich über Kalorien-, Fett- und Kohlenhydratgehalt eines jeden einzelnen im Klaren. Wissen war Macht, und nur so konnte sie dem ihnen innewohnenden Verführungszauber widerstehen. Sie bestellte sich einen Eiskaffee mit entrahmter Milch, ohne Sahne und rührte kalorienfreien Süßstoff hinein und eine Prise Kakaopulver, während sie auf Ocky wartete. Obwohl sie das große Brownie, das Ocky sich einverleiben würde, und den Cappuccino mit Sahne und echtem Zucker nicht gewollt hätte, verspürte sie doch leichte Bitterkeit angesichts ihrer unterschiedlichen genetischen Veranlagung. Es war ungerecht, aber Jammern verbrauchte keine Kalorien.

»Also – ich denke wirklich, dass jede von uns mit Ablauf der nächsten fünf Jahre ein Viertel ihres investierten Kapitals entnehmen kann. Und dass wir darüber hinaus unsere monatlichen Entnahmen erhöhen können. Dass wir nach all der vielen Arbeit und all dem, was wir reingesteckt haben, endlich gut davon leben können.« Ocky biss genüsslich in ihr Brownie und leckte sich die Schokoladenkrümel von den Lippen.

»Ocky, die Sache ist die: In fünf Jahren sind Eigentumswohnungen wieder ein ganzes Stück teurer. Und du hast ja längst eine.«

»Mit einer zweiten Hypothek darauf für unsere Firma.«

»Ich weiß«, räumte Marissa ein. Wenn es sein musste, würde sie darauf hinweisen, dass sich der Wert von Ockys Eigentumswohnung seit dem Kauf zehn Jahre zuvor verdoppelt hatte. Geduldig sagte sie: »Wenn ich die nächste Auszahlung aus meinem Treuhandvermögen behalte, dann kann ich mich in eine der großen Wohnanlagen einkaufen, die nur drei Meilen von unserem Büro entfernt sind. Dann könnte ich sogar zur Arbeit joggen.« Die Vorstellung, ihr Bedürfnis nach regelmäßiger körperlicher Bewegung mit ihrem Arbeitsweg zu verbinden, kam Marissas Sinn für Ausgewogenheit entgegen.

Sie trank einen großen Schluck von ihrem Eiskaffee, bevor sie hinzufügte: »Es wäre ideal. Die monatliche Belastung wäre zwar höher als meine Miete, aber ich könnte steuerliche Abzüge geltend machen und würde mich insgesamt besser stellen. In meinen Augen ist das in finanzieller Hinsicht ziemlich vorteilhaft für mich.«

Ocky leckte sich ein wenig Sahne von der Oberlippe. »Ich verstehe das ja, aber wir haben deine Kapitalinvestitionen doch von Anfang an fest eingeplant.«

»Ich weiß, aber das letzte Jahr war so erfolgreich, dass ich dachte, wir könnten als Firma einen Unternehmenskredit aufnehmen, statt weiterhin das Erbe meiner Großmutter anzuzapfen.«

Ocky runzelte die Stirn. »Also das kommt jetzt wirklich ein bisschen aus heiterem Himmel, weißt du.«

»Wir haben vor fünf Jahren schon mal darüber gesprochen. Ich weiß, ich habe gesagt, ich wäre bereit, mein Geld zu investieren … Jetzt habe ich meine Meinung aber geändert.« Marissa hätte am liebsten hinzugefügt: »Ist dir eigentlich vollkommen entgangen, dass ich mich insgesamt verändert habe?« Doch stattdessen atmete sie tief durch und sah zu, wie Ocky mit den Fingern auf den Tisch trommelte, wobei sie im Hinterkopf sehr wohl registrierte, dass sie beim Anblick von Ocky, die sich die Lippen leckte, insgeheim nicht dahingeschmolzen war. Das war doch immerhin etwas.

»Bist du sicher, dass du nicht doch mal probieren willst?« Ocky beugte sich unvermittelt vor und hielt ihr die Gabel mit einem großen Stück Brownie hin.

Marissa wich wie von der Tarantel gestochen zurück. »Nein. Aber dennoch danke.«

»Wirklich nicht? Sie sind heute wirklich ausgezeichnet.«

»So was ist im Moment wie Stoff für mich, Ocky. Ein Bissen und ich hab zehn Pfund mehr drauf.« Wie oft muss ich das eigentlich noch sagen?, fragte Marissa sich.

»Du bist ja völlig besessen von deiner Kalorienzählerei.«

»Das muss ich auch sein!«, entgegnete Marissa scharf. Und es trägt Früchte, hätte sie hinzufügen können. Aber vielleicht – und der Gedanke war Trost und Ohrfeige zugleich – bemerkte Ocky wirklich nicht, wie sie aussah. Ein wenig ruhiger fügte sie hinzu: »Schließlich ist es besser, sich Sorgen um das zu machen, was ich nicht esse, als darum, was ich esse.«

Ocky zuckte die Achseln. »Scheint mir beides Zeitverschwendung zu sein – aber schließlich bist du diejenige mit der Ernährungsberaterin und den neuen Freundinnen.«

War Ocky eifersüchtig auf die Frauen im Fitness-Studio und ihr wöchentliches Fressgruppentreffen? »Vielleicht. Ich merke jedenfalls, dass es mir guttut.«

Ocky war schon wieder bei ihrem anderen Thema. »Es ist ja schließlich nicht so, als hätte ich nichts investiert, auch wenn du mehr reingesteckt hast.«

»Ich weiß – die ersten fünf Jahre hast du all die Außenkontakte gepflegt. Du warst die Frontfrau des Ganzen. Das weiß ich. Wir hatten beide eine Hundert-Stunden-Woche. Und du hast auch Kapital investiert. Ich weiß, dass für dich genauso viel auf dem Spiel steht wie für mich. Aber darum geht es nicht. Ich brauche einfach eine eigene Wohnung. Ich möchte meine Fußmatte vor meine eigene Tür legen.« Sie trank ihren Eiskaffee in kleinen Schlucken und genoss die Kühle und den herben Nachgeschmack.

»Hast du jemanden kennengelernt?« Ocky lehnte sich mit nachdenklichem Gesicht zurück. »Du brezelst dich in letzter Zeit ganz schön auf.«

Schön zu wissen, dass Ocky sie tatsächlich als Person wahrnahm und nicht nur als einen vagen Schemen namens Marissa. »Ich habe in letzter Zeit etliche Präsentationen gehabt. Und …« Sie zuckte die Schultern. »Und entdeckt, dass es Dinge gibt, die ich mittlerweile an mir mag. Mehr als früher. Und ich mag Schuhe.« Sie brachte ein Lächeln zuwege. »Fast so sehr wie du.«

Ocky aß ihr Brownie auf. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Statt zu sagen: »Was geht dich das an?«, antwortete Marissa – ohne die zehn Frauen zu erwähnen, die ihre persönliche Dein Herz sei mein-Analyse als hochkompatible Partnerprofile aufgelistet hatte: »Ich treffe mich hin und wieder mit jemandem. Aber wenn es drauf ankommt, möchte ich eine Wohnung haben, in die ich jemanden ohne Vorbehalte einladen kann. Und wie meine Wohngegend ist, weißt du ja.«

Ocky seufzte. »Klar, weiß ich. Ich schätze, ich sollte mich nicht wundern. Dann besorgen wir uns eben einen Unternehmenskredit oder so.«

Erleichterung stieg in Marissa auf und drohte sie fast zu überfluten. Bei diesen Auseinandersetzungen mit Ocky bekam sie selten, was sie wollte. »Danke für dein Verständnis. Ich hatte wirklich vor, das Thema bei unserer nächsten Sitzung anzusprechen.«

»Schon geschehen.«

Marissa musterte das Gesicht der Freundin und sagte noch einmal: »Du siehst wirklich müde aus.«

»Letzte Nacht – du lieber Himmel. Die große Heularie, und ich hab überhaupt nicht kapiert, was los war. Ich kann so was nicht ausstehen.«

»Hatte sie getrunken?«

»Nein.« Ocky verdrehte die Augen. »Kann sein, dass es damit zu tun hatte, dass ich mich nicht oft genug melde, aber es ist ja schließlich nicht so, als würde ich verheimlichen, wie viel ich arbeite.«

Die Geschichte kam Marissa nur allzu bekannt vor. »Vielleicht solltest du lieber mit Frauen anbandeln, die selbst auch Workaholics sind.«

»Das sagt sich so leicht.« Marissa versuchte nicht hinzusehen, als Ocky sich wieder die Lippen leckte. »Die haben nicht unbedingt diese supertollen endlosen Beine …«

Marissa blickte verstohlen auf ihre eigenen Beine, die ganz und gar nicht endlos waren, und unterdrückte ein Seufzen.

An der Tür verabschiedeten sie sich, und Marissa konnte sich endlich auf den Weg ins Fitness-Studio machen. Plötzlich war sie rastlos und angespannt. Eine Trainingsrunde würde ihr guttun.

Das stete duff duff ihrer Laufschuhe war nur zu vernehmen, wenn Marissa ihren iPod leiser stellte. Es brachte ihren Körper auf Trab. Ihr Körper war nicht tot – keineswegs. Das Training am Abend zuvor war toll gewesen, aber jetzt so richtig ins Schwitzen zu kommen war noch viel besser.

Sie bog zu dem Wohnkomplex ein, in dem sie nun schon seit zwölf Jahren lebte und dem sie lieber heute als morgen den Rücken kehrte. Als sie den ölverschmierten Asphaltweg überquerte, der die einzelnen Gebäude miteinander verband, verlangsamte sie das Tempo. Der Morgen war kühl, aber der strahlende Sonnenschein versprach winterliche Wärme.

An den Briefkästen blieb sie stehen und zwang ihren Atem, zu seiner normalen Frequenz zurückzukehren.

»Verdammt!«, fluchte sie, als der brennende Schweiß ihr in die Augenwinkel rann. Sie richtete sich auf, stemmte die Hände ins Kreuz und ging zu ihrer Eingangstür hinüber. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass jemand auf sie wartete. Um diese Uhrzeit? In ihrem Kopf erklang ein leises Warnsignal, aber als sie sah, dass es eine Frau war, schwand ihr Argwohn.

Es war eine große Frau mit dunklem Haar, das ihr lang über den Rücken fiel. Und als sie sich umwandte, sah Marissa, dass sie braune Augen hatte.

In ihrem Hinterkopf erklang wieder die Stimme, so klar wie in jener Nacht, als die Frage an sie gerichtet worden war: »Ist es das, was du willst, Marissa?«

Jetzt hörte sie auch ihre atemlose, aufgeregte Antwort: »Ja. Bitte. Ja!«

Das Lächeln, das Marissa hatte vergessen wollen. Der Charme, den sie versucht hatte zu leugnen. Die Erinnerung an diese Hände, diesen Körper, alles, was sie aus ihrem Gedächtnis zu tilgen versucht hatte, kehrte lebhaft in die Wirklichkeit zurück.

Ein Jahr war vergangen seit jenen Küssen im Mondschein. Es hatte Monate gedauert, bis ihr Herz endgültig gebrochen gewesen war, weil jeder neue Tag Schweigen und nichts als Schweigen brachte. Sie wollte die Zeit nicht zurückdrehen. Ein Jahr, seit der Urlaub ihres Lebens ihr Leben von Grund auf verändert hatte, zum Schlechteren wie zum Besseren.

Sie rang nach Luft, aber diesmal war es nicht der körperlichen Anstrengung geschuldet. Marissa zwang sich, den funkelnden braunen Augen mit eisigem Blick zu begegnen. »Was willst du?«

»Dich«, antwortete Linda.

2

Ein Jahr zuvor

»Verlassen Sie das Schiff! Bewahren Sie Ruhe und begeben Sie sich zu dem Ihnen zugewiesenen Rettungsboot! Gehen Sie von Bord! Dies ist keine Übung!«

Marissa fuhr aus dem Schlaf hoch und glaubte sich in einem Alptraum zu befinden, aber als die Durchsage wiederholt wurde, diesmal auf Italienisch, wie es schien, versicherte ihr logischer Verstand ihr, dass sie nicht zu Alpträumen in Sprachen neigte, die sie nicht verstand.

In der engen Kabine gab es keine Uhr, und nach ihrer Ankunft war sie so erschöpft gewesen, dass sie ihren Wecker noch nicht ausgepackt hatte. Neben der Tür war ein gedämpftes blaues Licht angegangen, und sie richtete sich auf und versuchte ihre Benommenheit abzuschütteln.

Die nächste Durchsage erfolgte auf Französisch und dann erneut in befehlendem, wenngleich beherrschtem Ton: »Verlassen Sie das Schiff! Bewahren Sie Ruhe und begeben Sie sich zu dem Ihnen zugewiesenen Rettungsboot. Gehen Sie von Bord! Dies ist keine Übung!«

Ihre Kabinengenossin hatte sich ebenfalls aufgesetzt, und die beiden Frauen starrten einander verwirrt an. Dann holte Marissa tief Luft – ihre Lungen waren vor Angst ganz verkrampft –, kletterte aus der schmalen Koje und verlor beinahe das Gleichgewicht, als sie nach ihren Kleidern griff. Strümpfe. Schuhe. Der kleine Tagesrucksack, ihr Handgepäck im Flugzeug, noch nicht ausgepackt. Sie eilte in das besenkammergroße Bad, um sich ihren Toilettenbeutel zu schnappen, den sie ausgepackt hatte, um sich vor dem Schlafengehen die Zähne zu putzen. Dann stopfte sie noch ihre Handtasche in den Rucksack, bevor sie den Reißverschluss zuzog und ihn sich über die Schulter schlang.

»Verlassen Sie das Schiff! Bewahren Sie Ruhe und begeben Sie sich zu dem Ihnen zugewiesenen Rettungsboot. Gehen Sie von Bord! Dies ist keine Übung!«

Ihre Kabinengenossin – Angela Soundso – wiederholte gebetsmühlenartig einige Sätze, in denen jedes vierte Wort dios lautete. Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache hatte sich als Handicap erwiesen, seit sie sich zwölf Stunden zuvor zur Begrüßung zugenickt und angelächelt hatten. Gemeinsam verließen sie die Kabine, und Marissa dachte daran, wie viel billiger die Kabinen auf den unteren Decks waren und wie viele Treppen aus diesem Grund nun zwischen ihr und den Rettungsbooten lagen. Die Gänge wimmelten von Passagieren, und das Gedränge nahm mit jeder Sekunde zu. Jedes Gesicht, in das sie blickte, spiegelte ihre eigenen Empfindungen: Ungläubigkeit und panische Angst. Die kalte blaue Notbeleuchtung verlieh den blonden Passagieren eine Art blauen Heiligenschein, der an einen Horrorfilm denken ließ.

Gleich nach der Einschiffung hatte es zwar eine Rettungsübung gegeben, aber vielleicht war dies doch bloß ein weiteres Bootsmanöver. Eine Seenot-Rettungsübung um zwei Uhr morgens. Vielleicht war es eine reine Vorsichtsmaßnahme, und sie würden eine Weile an Deck herumstehen wie Kinder auf dem Schulhof, die das Verstreichen der Zeit während einer Feueralarmübung zu schätzen wussten. In der warmen Südsee zu kreuzen – das waren keine schlechten Bedingungen für eine Seenot-Rettungsübung nach Mitternacht, von der Angst und der Ungewissheit einmal abgesehen.

Besatzungsmitglieder mit grimmigen Gesichtern mahnten zur Ruhe und zur Eile und wiesen den Weg. Marissa erklomm Treppe für Treppe. Ob ihre Kabinengenossin noch hinter ihr war, wusste sie nicht. Einmal glitt sie aus und verlor das Gleichgewicht. Sie verscheuchte die Vorstellung, dass das Schiff Schlagseite hatte. Da die Menschen hinter ihr drängten, war an eine Verschnaufpause nicht zu denken. Ihr Herz drohte jeden Augenblick zu zerspringen.

Regen peitschte das Deck. Sie hatten die Warnung vernommen, dass in der Nacht ein mittelschwerer Tropensturm über sie hinwegziehen würde. Kein Grund zur Besorgnis, hatte der Kabinensteward gesagt. Starke Lampen erhellten die Sammelpunkte, und besondere Markierungen wiesen die Musterstationen aus, an denen sich die Passagiere der einzelnen Kabinengruppen im Notfall einfinden sollten. Die Rettungsboote wurden klargemacht, und die Besatzung half den ersten Passagieren schon beim Einsteigen.

Marissa rang nach Luft und kämpfte mit dem Anlegen ihrer Schwimmweste. Sie bekam den Verschluss nicht zu. Während der Übung am Abend zuvor hatte man ihr eine größere besorgt, aber dafür sah sich in diesem Augenblick niemand zuständig. Eine der Besonderheiten dieser Kreuzfahrt waren die geringe Größe des Schiffes und die verhältnismäßig kleine Passagierzahl, was bedeutete, dass der Service gehoben war und das Schiff exklusivere Häfen anlaufen konnte. Gemütlich, intim, bla bla bla, dachte Marissa. Ich kriege das verdammte Ding nicht zu!

Nachdem sie sich noch einige weitere Minuten vergeblich abgemüht und gegen ihre Tränen angekämpft hatte, sagte eine Frau zu ihr: »Hier – lassen Sie uns tauschen. Meine ist mir zu groß.«

Gesagt, getan und die neue Schwimmweste war tatsächlich ein klein bisschen größer. Marissa schaffte es, den Gurt zu schließen. Sie kam sich vor wie ein großer Fleischklops, dem vor dem Grillen ein orangefarbener Panzer angelegt worden war. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte es auch nicht besser.

Sie stellte sich in der Reihe an, kaum in der Lage zu atmen, und überlegte, ob es angemessen war, vor Angst zu schreien oder zu kreischen, wie es weiter hinten jemand tat. Vielleicht war das Beben, das sich tief in ihrem Magen erhob, die angemessene Reaktion. Sie konnte es nicht verhindern, dass ihr vor Anspannung Tränen in die Augen stiegen, und die Schwimmweste machte es unmöglich, sie fortzuwischen.

Sie sah, dass Angela, jetzt ihre Ex-Kabinengenossin, in das Rettungsboot neben dem kletterte, für das sie selbst anstand. Dann war sie auch schon an der Reihe. Als sie das Bein über die Reling schwang, hatte sie nur einen Gedanken im Kopf: dass alle Umstehenden jedes einzelne überzählige Pfund an ihrem Leib registrierten und zu dem Schluss kamen, dass sie die Überlebenschancen aller verringerte.

Sie presste ihren Rucksack an sich, ließ sich auf dem freien Platz neben einer windhundgesichtigen Frau nieder und gab sich alle Mühe, sich möglichst dünn zu machen.

»Ich wissen wir schicken …« Gregorio, der Ältere von den beiden Besatzungsmitgliedern in ihrem Rettungsboot, schnippte mit den Fingern und kniff vor Konzentration die Augen zusammen. »Ah, Seenot … Seenotmeldung funken … Sie wissen wo uns finden …«

Nicht zum ersten Mal radebrechte er diese tröstenden Worte, aber alle paar Minuten fragte ein anderer der achtzehn Passagiere, wie lange es dauern würde, bis Rettung käme. Der jüngere Matrose sah genauso verängstigt aus wie alle anderen. Gregorio versuchte, Zuversicht auszustrahlen, aber Fakten waren Fakten. Die Böen des Tropensturms trieben die Rettungsboote auseinander, und die Lichter des Schiffes glitten allmählich außer Sichtweite. Marissa wusste nicht, ob sie sich bloß entfernten oder ob das Schiff tatsächlich sank. Sie hatte auch nicht vor, danach zu fragen.

Als in der Ferne eine dumpfe Explosion erklang, klammerte Marissa sich an die Frau neben sich, die sich wiederum an sie klammerte. Gregorio sagte irgendetwas von Dekompression. Marissa war überzeugt, spräche sie Italienisch, würde sie ihn verstehen. Was immer es war, es war bumm! in die Luft gegangen, aber zu sehen war nichts. Der Regen fiel unablässig und von den anderen Rettungsbooten keine Spur.

Marissa war ziemlich sicher, dass die Lage verhängnisvoll war. Vielleicht war sogar Panik angeraten. Doch sie war zu betäubt, um große Angst zu verspüren, aber immerhin noch klar genug im Kopf, um zu wissen, dass ihre Benommenheit ein Segen war.

Das Meer ließ das Boot heftig auf und nieder wogen, aber sie schienen zumindest nicht in Gefahr zu kentern. Der Regen ließ allmählich nach, aber alles war vollkommen durchnässt – ihr Rucksack, ihr Ballcap, ihre Bluse, ihre Hose, ihre Schuhe. Sie fragte sich, ob ihr CD-Player es überlebt hatte und ob die M&Ms in den Tiefen eines Seitenfachs wohl noch essbar wären.

Sie wünschte, sie hätte morgens keine Zeit mit dem Rasieren ihrer Beine verplempert. Als ob das eine Rolle spielte. Sie trauerte um ihren Badeanzug, um den Schokoladen- und Rumvorrat und die fünfzehn funkelnagelneuen Bücher in ihrem Koffer. Um die Bücher tat es ihr am meisten leid.

Es schien ihr an der Zeit für ein erstes Frühstück. Die Verpflegung an Bord sei ausgezeichnet, hatte es geheißen. Das Abendessen war auf jeden Fall köstlich gewesen. Sie wünschte, sie hätte mehr gegessen, aber sie hatte immer das Gefühl, dass die anderen sie beim Essen beobachteten und dachten, kein Wunder, dass ihr Bauchumfang den ihrer Hüften übertraf.

Schließlich ging langsam die Sonne auf, der Wind legte sich, und der Regen verwandelte sich in Dunst, der die Luft schwer und drückend machte. Marissa fand nicht, dass ihr rascher Herzschlag sich beruhigt hatte, aber plötzlich war sie so müde, dass sie immer wieder einnickte. Ein Mann weiter vorn im Boot machte Fotos von ihnen allen, aber Marissa brachte nicht mehr als ein entnervtes Lächeln zustande. Sie nahm ihren vollgestopften Rucksack auf den Schoß, schlang die Arme darum und versuchte zu dösen. Es schien ihr das Einzige zu sein, was sie tun konnte, ohne die Angst und die Anspannung im Boot zu verstärken.

Einige Minuten lang ließ sie ihre Gedanken treiben, dann merkte sie, dass sie einen Brief schrieb – das tat sie häufig, wenn sie unter Stress stand. Es waren Briefe, die sie nie abschickte.

Dieser begann – wie viele andere – mit »Liebe Mom«:

Danke nochmals für das großzügige Geschenk, das Du mir mit der einwöchigen Kreuzfahrt nach Tahiti gemacht hast. Es ist nicht Deine Schuld, dass das Schiff gesunken ist. Statt jahrelang Informatik zu studieren, hätte ich lieber Reality-TV-Shows gucken sollen, in denen man lernt, aus Käfern ein Frühstück zuzubereiten.

Ich bin sicher, mir wird nichts passieren, und wenn ich nach Hause komme, kannst Du wetten, dass ich auch auf deine übrigen Ratschläge, was ich mit meinem Leben anfangen soll, hören werde, nachdem sich dieser als so prima entpuppt hat.

 

Herzliche Grüße

Marissa

 

P.S.: Ich glaube, ich werde es nicht schaffen, rechtzeitig zum Sommerball des Clubs zurückzusein.

 

P.P.S.: Bitte entschuldige mich bei dem Blind Date, das Du sicher für mich arrangiert hast.

 

P.P.P.S.: Ich bin lesbisch.

Wenn ich je nach Hause komme, dachte Marissa, dann schicke ich den ab.

»Hey!«, rief jemand hinter ihr. »Land in Sicht!«

Alle standen auf. Das Boot geriet gefährlich ins Wanken, und alle setzten sich wieder hin. Marissa reckte den Hals und entdeckte eine tiefhängende weiße Wolke in der Ferne.

»Super! Ich wollte schon immer mal in einer Folge von Lost mitspielen.«

Erst als einige Leute um sie herum sie verärgert anguckten, merkte sie, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen haben musste.

Man könnte meinen, ich hätte Hai oder so was gerufen, dachte Marissa und murmelte vor sich hin: »Ich bin nicht die Einzige, die so denkt.«

In der Reihe vor ihr drehte sich eine große Frau nach Marissa um. »Stimmt. Aber ich würde Gilligans Insel vorziehen.« Ihr Gesichtsausdruck war erstaunlich ruhig, und sie lächelten sich zaghaft an nach dem Motto: »Mitgefangen, mitgehangen«.

Gregorio versuchte eine Handvoll Männer zu beruhigen, die endlich etwas unternehmen wollten. Ein älterer Brite meinte immer wieder, er verstünde nicht, warum sie nicht versuchten, an Land zu gelangen, bis die Frau, die Gilligans Insel vorzog, entschieden sagte: »Es ist weiter, als es aussieht. Ruderer brauchen Wasser, und wir haben keine Möglichkeit, unseren Wasservorrat aufzufüllen. Die Leuchtraketen wurden abgefeuert, und wo der Sturm nun vorbei ist, wird man die Suche nach uns rasch aufnehmen.« Als er Einwände erheben wollte, fügte sie hinzu: »Ich übersetze nur, was Gregorio gesagt hat.«

Marissa versuchte, ihre Position so zu verändern, dass ihr Rücken entlastet wurde, und Windhundgesicht blickte verärgert drein, so wie Menschen im Flugzeug, wenn sie feststellen, dass in ihren Sitzbereich eingedrungen wird oder gar Körperkontakt droht. Die Frau sagte unglücklich etwas auf Italienisch zu dem Mann neben sich – oder vielleicht auch auf Griechisch oder Russisch. Warum hatte sie nicht Sprachen studiert, die von Menschen gesprochen wurden, statt von Computern? Was auch immer gesagt worden war, es schmeichelte ihr nicht. Beschwerden klangen in jeder Sprache gleich.

Sie hielt es nicht mehr aus – sie öffnete den Gurt ihrer Schwimmweste und holte tief und ungehindert Luft. Sie reckte sich auf ihrem Platz und ließ den Kopf kreisen. Es half, aber die ganze Aktion – alles, was sie in dem ihr zugestandenen Raum tun konnte – hatte etwa dreißig Sekunden gedauert. Doch jetzt war nicht die Zeit, einen Anfall von Klaustrophobie zu bekommen. Die Wolken zogen davon, und im Nu war der Himmel klar. Das grenzenlose Blau besänftigte sie, bis sie daran dachte, wie weit sich der Himmel erstreckte, wie riesig das Meer darunter war und wie winzig ihr Rettungsboot.

Die Sonne war erst halb aus dem Wasser gestiegen. Marissa wünschte, sie hätte eine Sonnenbrille. Irgendjemand sagte, es sei sechs Uhr dreißig. Dann war es sechs Uhr vierunddreißig. Alle zwei, drei Minuten zog jemand sein Handy hervor, knurrte etwas, starrte in den Himmel hinauf und steckte das Telefon wieder ein.

Lieber Dad,

ich bin froh, dass Du in den drei Monaten Deiner Chemo all diese tollen Filme mit mir geguckt hast. Ich glaube, vorher habe ich Das Rettungsboot gar nicht richtig zu schätzen gewusst. Es wäre ein ganz anderer Film, wenn es zwanzig oder noch mehr Personen gäbe, deren Schicksal man verfolgen könnte, und vermutlich wäre er längst nicht so spannend, wenn alle immer nur kurz auftreten würden.

Niemand hier sieht aus wie Tallulah Bankhead – ob mit oder ohne Schlüpfer.

 

Herzliche Grüße

Marissa

 

P.S.: Ich warte immer noch darauf, dass Du mir sagst, was man im Himmel von Lesben und Schwulen hält.

 

P.P.S.: Ich glaube, ich sage es Mom. Ich denke, sie wird es ebenso gut verkraften wie damals, als Du ihr erzählt hast, dass Du schwul bist.

Beim Sirren des Reißverschlusses wandten sich ihr einige Köpfe zu. Viele der Menschen im Boot hatten Rucksäcke oder kleine Taschen dabei, doch Marissa war die Erste, die ihren Rucksack öffnete. Sie nahm das Taschenbuch heraus, das sie im Flugzeug zu Ende gelesen hatte. Mörderische Blicke trafen sie, als ob sie die anderen im Stich ließe, indem sie sich Ablenkung verschaffte.

Sie las. Die Geschichte kam ihr überhaupt nicht bekannt vor, aber auch der Flug schien Monate zurückzuliegen und nicht erst einen Tag. Sie blätterte um und las weiter, auch wenn sie nicht hätte sagen können, was auf der Seite davor gestanden hatte.

Nachdem die Wasser- und Essensvorräte verteilt worden waren, demonstrierten die Männer, wie einfach das Pinkeln für sie war – natürlich diskret. Gegen halb elf meinten sie ein weiteres Rettungsboot am Horizont auszumachen, aber auf den Versuch, mit ihrem Signalspiegel Kontakt aufzunehmen, erfolgte keinerlei Reaktion. Ihr eigenes Boot war ein beträchtliches Stück näher auf die tiefhängende weiße Wolke zugetrieben worden. Es musste sich um Land handeln, dachte Marissa. Neuseeland war schließlich das »Land der langen weißen Wolke«, wie es in ihrem Buch hieß. Sie wünschte, sie wäre nach Neuseeland gefahren, statt nach Tahiti.

Gregorio, der jetzt von den Kraftmeiern umringt war, die sich vorn im Boot versammelt hatten, beharrte noch immer darauf, dass Rudern nicht ratsam wäre. Marissa neigte dazu, ihm zuzustimmen – bis auf Weiteres jedenfalls. Doch wenn sie bei Einbruch der Dunkelheit immer noch hier wären, würde sie pinkeln müssen, und sie hatte eigentlich nicht vor, die Notlatrine zu benutzen. Die Notlatrine war ein Tuppertopf, und so wie sie ihr Glück kannte, würde sie ihn wahrscheinlich fallen lassen, wenn sie ihn über Bord ausleerte. Und dann würden alle dafür stimmen, sie aus dem Boot zu werfen. Da bis zu diesem Zeitpunkt erst eine Frau die Notlatrine benutzt hatte, war Marissa vermutlich nicht die Einzige, die hoffte, es bis zum Einbruch der Dunkelheit auszuhalten.

Die Wolke schien nicht näher zu rücken, doch am frühen Nachmittag stellten sie fest, dass sie in eine Strömung geraten waren, die sie in Richtung der Insel trug. Gregorio verkündete wieder, dass Rettungsflugzeuge und -boote auf der Suche nach ihnen seien. Man werde sie finden. Schließlich seien sie, als sie in Seenot gerieten, nur neun Stunden von Papeete entfernt gewesen.

Kraftmeier 1, der zu glauben schien, dass sein Englisch leichter zu verstehen wäre, wenn er es mit einem italienischen Akzent schmückte, beharrte darauf, dass die Insel höchstwahrscheinlich bewohnt wäre. Vielleicht war es sogar Huahine.

Eine hitzige Debatte brach aus. Marissa glaubte die Gilligans Insel-Frau vor sich sagen zu hören: »Es ist überall auf der Welt das gleiche …«, aber sie war sich nicht sicher.

Schließlich zuckte Gregorio die Achseln und legte keinen Protest ein, als Kraftmeier 1 Kraftmeier 2 bis 4 anwies, die Ruder zu nehmen. Marissa hatte nichts gegen Männer mit Muskeln – sie konnten offensichtlich von Nutzen sein, und sie würde ihnen auf ewig dankbar sein, wenn sie einen Ort zum Anlanden fanden und Marissa pinkeln gehen konnte. Marissa hielt es für klug, ihre Schwimmweste wieder zu schließen, und sie verstaute ihr Buch wieder im Rucksack, wo es hoffentlich sicher verwahrt war. Wenn sie für längere Zeit auf einer unbewohnten Insel festsaßen, mochte ein Taschenbuch ein kostbarer Tauschgegenstand sein.

Die Frau neben Marissa roch nach Sonnenlotion und Schweiß. Marissa befürchtete, selbst nicht besser zu riechen, aber sie war froh, in lange Hosen geschlüpft zu sein und in das leichte, langärmelige Baumwollhemd, das sie nach ihrer Ankunft in Papeete in ihren Rucksack gestopft hatte.

Jetzt, wo etwas geschah und sie nicht mehr nur warteten, begannen die Paare, die bis dahin nur miteinander gesprochen hatten, sich mit den Menschen um sie herum zu unterhalten. Es war, als müsse die Energie nicht länger aufgespart werden. Der Mann mit der Kamera machte Fotos von den Ruderern und dem näher kommenden Land. Die meisten Leute sprachen nicht Englisch, wie Marissa schon am Abend zuvor beim Dinner festgestellt hatte. Das könnte den Wert ihres Buches mindern, falls sie in die Lage käme, es gegen Kaugummi tauschen zu müssen, dachte sie leicht benommen. Das Boot tanzte auf den anbrandenden Wellen, und Marissa legte den Kopf wieder auf den Rucksack und ließ die Stimmen an sich vorüberschwirren.

»Haben Sie Freundinnen«, fragte jemand in ihrer Nähe, »die Sie gezwungen haben, Die Höllenfahrt der Poseidon zu gucken, bevor Sie auf diese Reise gegangen sind?«

Sie blickte auf und sah, dass die Gilligans Insel-Frau sich zu ihr umgedreht hatte, so dass sie nun Knie an Knie saßen. Marissa rief sich ihre »Gute Reise«-Party in Erinnerung. »Ich habe tatsächlich eine Freundin, die so schräg drauf ist, aber ihre Wahl fiel auf Titanic«, gab sie zu.

»Ich verspüre den absurden Drang zu singen …«

»O bitte – nicht dieses Lied! Jedes andere, aber nicht das.«

Das schiefe Lächeln der anderen Frau bewirkte seltsamerweise, dass Marissa sich besser fühlte. »Was ist es Ihnen wert?«

»Kommt drauf an, wie sehr Sie wie Celine Dion klingen.«

»Ich klinge eher wie ihr kettenrauchender Bruder.«

Marissa lachte. Dann stiegen ihr plötzlich Tränen in die Augen.

»Schon gut«, sagte die Frau. Sie strich sich über ihr blassgrünes T-Shirt, auf dem ein niedlicher Comic-Hund mit Schnorchelausrüstung zu sehen war. »Das ist bloß die Anspannung.«

Marissa nickte und kämpfte darum, ihre Fassung zurückzugewinnen. Sie rutschte auf ihrem Platz herum und war froh, dass ihre Schwimmweste die spitzen Ellenbogen von Windhundgesicht abfing. »Ich bin Marissa Chabot. Aus Kalifornien.«

»Linda Bartok, Boston, Massachusetts. Aus welchem Teil Kaliforniens?«

»Danville, San Ramon, Pleasanton …?« Linda blickte sie ausdruckslos an, und Marissa fügte hinzu: »Ungefähr vierzig Minuten östlich von San Francisco.«

Linda nickte. »Da war ich vor ein paar Jahren mal. Keine schlechte Gegend zum Leben.«

»Ich bin noch nie in New England gewesen.«

»Strotzt nur so vor Geschichte. Im Moment strotzt es allerdings vor Schnee und Eis, und da ziehe ich das hier vor.« Linda schien es nichts auszumachen, dass das Boot, das nun mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Insel zusteuerte, heftig auf und ab schaukelte.

»Also, warum haben Sie vor Ihrer Abreise die schrulligen Schiffbrüchigen geguckt?«

Linda zuckte die Achseln. »Heimliche Geschmacksverirrung.«

»Der Professor kann ein Radio, einen Kühlschrank und Betten aus Palmenblättern bauen. Ziehen Sie Gilligans Insel deshalb Lost vor?«

»Nein.« Wieder schenkte Linda ihr ein schiefes Lächeln. »Wegen Ginger.«

Marissa blinzelte und überlegte, wie sie diese Bemerkung verstehen sollte. »Wegen Ginger? Anstelle von Evangeline Lilly?«

Das charmante Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Ich hatte schon immer eine Schwäche für kurvenreiche Rotschöpfe.«

»Oh.« Marissa holte tief Luft und versuchte, ein zuversichtliches kleines Kichern zustande zu bringen. »Gegen Ihre Prioritäten ist nichts einzuwenden.«

Linda zwinkerte ihr verschwörerisch zu, und Marissa grinste zurück.

Liebe Mom,

der unvorhergesehene Kurswechsel – Ziel ist ein unbekanntes Eiland – lässt einige meiner Präferenzen in klarerem Licht erscheinen. Wenn Du weiterhin Blind Dates für mich arrangierst, dann berücksichtige bitte, dass ich Ginger, Mary Ann oder sogar Mrs. Howell dem Professor und dem Skipper und auf jeden Fall Gillligan vorziehe. Mr. Howell ist mehr Dein Typ, oder?

 

Herzlich, Marissa

 

P.S.: Die Bemerkung mit Mr. Howell tut mir leid. Ich stehe im Augenblick arg unter Stress.

Das Rettungsboot schoss auf einer Welle nach vorn, und ihre Gedanken kehrten in die wirkliche Welt zurück.

»Glauben Sie, wir wurden von einer Strömung erfasst?«

Linda zuckte die Achseln. »Ja, scheint so.«

Eine Weile schwiegen sie und lauschten dem in gebrochenem Englisch geführten Gespräch der Ruderer. Marissa hätte Linda gern eine Menge Fragen gestellt, aber Lindas Aufmerksamkeit war auf den Ruderer gerichtet, der ihr am nächsten war.

»Ich kann Sie ablösen«, sagte sie zu ihm, als alle innehielten, um sich eine Pause zu gönnen. Auch andere erboten sich, die Ruderer abzulösen, und so wurden die Plätze gewechselt. Als Linda aufstand, bemerkte Marissa, dass sie beinahe eins achtzig groß sein musste. Von hinten, mit ihren gebräunten breiten Schultern und dem dunklen Haar, das ihr lang über den Rücken fiel, hätte sie als eine dieser großen, durchtrainierten Schauspielerinnen oder als Model durchgehen können. Sie hatte den Körper einer Kunstfigur – Batwoman oder Wonder Woman. Oder Xena.

Und, fragte Marissa sich, inwiefern ist dieser Gedankengang von Bedeutung? Linda hatte volle rote Lippen, rehbraune Augen – ja, aber sie war nicht umwerfend. Gutaussehend – das ja, aber … kein Filmstar. Nicht ganz jedenfalls. Okay, sie war umwerfend, aber nicht etwa weil Marissa ein klein wenig in Xena verknallt wäre, was sie nämlich gar nicht war. Zumindest nicht, seit die Serie nicht mehr lief. Außerdem war Linda eine echte Frau in den Dreißigern und kein altersloses Geschöpf der Phantasie.

Sie sah, wie Lindas Muskeln arbeiteten, und beschloss, dass die Situation schon bizarr genug war, ohne dass sie sich sinneverwirrenden Hirngespinsten hingab.

Liebe Ocky,

ich möchte Dir für die Abschiedsparty danken. Sie war toll. Inzwischen finde ich, dass es nicht gerade das Highlight war, sich einen Film über eine Schiffskatastrophe anzusehen, aber ich weiß, dass Du es gut gemeint hast. Bis jetzt ist diese Urlaubsreise ein einziges Abenteuer, genau wie der Prospekt versprochen hat. Es gibt sogar eine Kriegerprinzessin mit rabenschwarzem Haar. Ich würde sie Dir ja vorstellen, aber sie ist gerade damit beschäftigt, die Welt zu retten, die im Augenblick aus einem Rettungsboot besteht.

 

Alles Liebe,

Marissa

 

P.S.: Es mag eine Weile dauern, bis ich dazu komme, die Geschwindigkeit der Datenbankaktualisierung zu optimieren.