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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Claudia Breitsprecher

Auszeit

Roman

K+S digital

Für Anja

»Das Glück

kommt in der Beobachtung.

Dazu müssen wir sehen können.

Und zum Sehen braucht es Licht.

Außen und innen.«

Miriam Meckel

1

Wie es aussieht, ist mir niemand gefolgt. Ich parke den Wagen direkt vor dem Haus und sehe ein letztes Mal in den Rückspiegel, um ganz sicherzugehen, dann hole ich die Schlüssel aus dem Rucksack; Eingangstür, Briefkasten, Keller. Ein Sicherheitsschloss gibt es nicht, aber Frauke hat gesagt, das sei auch nicht nötig. Ich muss ihr glauben, auch wenn mir nicht ganz wohl dabei ist.

Es ist bereits Mittag. Ich steige aus dem Wagen und nehme mir Zeit, das Grundstück zu mustern, das in den kommenden Wochen meine Zuflucht sein soll. Die Fassade des Hauses reflektiert das Licht der Frühjahrssonne, der Rasen wirkt verwildert, die Blüten der Obstbäume sind auf die Erde geschneit. Ein Rotkehlchen blickt von der Dachrinne herunter. Sein Gesang ertönt im Wechsel mit einem Hämmern, das aus dem Schuppen der Nachbarn zu kommen scheint. Die Gartenpforte quietscht metallisch, als ich sie öffne. Nirgends ist jemand zu sehen.

Ich bin es nicht gewohnt, allein zu sein, ohne Menschen in den Bankreihen um mich herum, ohne Stimmen auf dem Anrufbeantworter und Nachrichten per Mail, ohne Interviews, Streit und Stellungnahmen. Die Sehnsucht nach Ruhe nimmt mich an die Hand und führt mich in die Abgeschiedenheit. Es ist unwirklich. Es ist beängstigend. Und doch ist es der Himmel auf Erden in diesem Moment.

Mein erster Besuch im Dorf liegt vierzehn Jahre zurück. An einem schwülen Nachmittag im August saß ich mit Frauke und Carsten im Schatten des Apfelbaumes. Während er die Klausuren seines Leistungskurses korrigierte, malte Frauke mir das Leben als Bundestagsabgeordnete in den buntesten Farben aus, um mich dafür zu begeistern. Groß und vollbusig saß sie mir am Tisch gegenüber, das graumelierte Haar fiel offen auf ihre Schultern, und zahlreiche Buttons auf der Leinenbluse schmückten ihre Brust wie Orden die eines Generals. Wir aßen Kirschkuchen und tranken Eiskaffee. Sie sprach von meiner Dissertation, die ich gerade veröffentlicht hatte, von meinen Erfahrungen mit dem Arbeits- und Sozialrecht und davon, wie dringend die Partei mich brauche. Wir redeten über Gleichstellungspolitik, die unser beider Steckenpferd war. Sie teilte meine Ansichten, wollte mich an ihrer Seite sehen und tat dafür, was sie am besten konnte: sie argumentierte, debattierte, lockte mich. Fasziniert bemerkte ich den Kampfgeist im Blick ihrer haselnussbraunen Augen, die vor Aufregung geröteten Wangen und den Nachdruck in den Gesten ihrer Hände.

Was sie sagte, klang reizvoll. Ein Bundestagsmandat bot die Chance, mitzuwirken an Veränderungen, die das ganze Land betrafen. Es war eine Möglichkeit, die Zukunft zu beeinflussen. Ideen zu entwickeln. Meinen nimmermüden Kopf durchzusetzen gegen die anderen Fraktionen und gegen den Alarm, den mein Herz zu schlagen begann, denn ich fühlte mich wohl im Ruhrgebiet. Die Arbeit im Rat der Stadt Herne war eine perfekte Ergänzung zu meinem Beruf als Anwältin. Vormittags vertrat ich Verkäuferinnen bei Kündigungsschutzklagen, nachmittags beriet ich in der Kanzlei arme Teufel, denen das Sozialamt das Bekleidungsgeld gekürzt hatte, und abends verteidigte ich die Haltung der Partei in irgendeinem Ausschuss, dessen Mitglieder nach dem Ende einer jeden Sitzung gemeinsam im Ratskeller ein Bier trinken gingen. Mein Leben war ausgefüllt, ich war zufrieden. Aber Fraukes Worte fütterten meinen Ehrgeiz, der auf den Geschmack gekommen war. Gesetze nicht nur auslegen, sondern erarbeiten. Reformieren. Gestalten. Als die Sonne sich in die Kronen der Bäume senkte, hatte sie mich überzeugt. Ich fühlte mich bereit für diesen neuen Schritt, kandidierte für einen aussichtsreichen Listenplatz und eroberte ihn. Die Wahlen kamen, die Stimmen wurden ausgezählt. Und plötzlich war ich Dr. Martina Wernicke, MdB.

Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Zwölf unermüdliche Jahre im Parlament, unzählige Abstimmungen, Reden und Koalitionsabsprachen, Anträge, Eingaben und Zwischenrufe, Delegiertenkonferenzen und Bürgersprechstunden, Tage an Wahlkampfständen und Nächte in Fraktionsklausuren haben mich ausgelaugt. Doch ich konnte nicht mehr aufhören, und auch Frauke ist noch immer dabei. Im Reichstag sitzen wir nebeneinander, flüstern uns Kommentare zu den Argumenten der Konservativen ins Ohr, mal erbost, mal belustigt und oft mit einer Prise Ironie. Aber während sie das Spiel auf der politischen Bühne noch immer genießt, kann ich die Unzufriedenheit, die sich in mir ausgebreitet hat, nicht länger ignorieren. Die Partei ist mir nicht mehr geheuer. Die Nadelstreifen haben die Stricknadeln vergessen gemacht. Farbenspiele haben die Vernunft übermalt. Die Analysten rechnen uns zum bürgerlichen Lager. Wir widersprechen nicht. Wir sind alt geworden, aber unser Auftreten muss jung sein und flott und immer mit Blick auf die Außenwirkung. Das perfide System der Politik hat uns gefressen. Unsere Umfragewerte steigen auf wie unsere grünen Luftballons. Sie sind zu sehen auf jeder Demonstration. Wir sind präsent und drei Tage wach vor der Wahl. Ich kann gar nicht mehr schlafen.

Vielleicht hätte ich widerstehen sollen an jenem längst vergangenen Nachmittag. Ein entschiedenes Nein und ich wäre in meiner Kanzlei geblieben, in meiner Kommune, in meiner erfüllten Beschaulichkeit. Ich hätte nicht zweifeln müssen am Sinn meiner Arbeit. Ich wäre nicht müde. Und niemand hätte versucht, mich umzubringen. Ein paar Sekunden haben gereicht, mich aus dem gewohnten Trott zu reißen. Beinahe aus dem Leben.

Von Gartenarbeit verstehe ich nichts, aber ich habe versprochen, mich nützlich zu machen. Es kann ja nicht so schwierig sein; ein bisschen jäten hier, ein bisschen gießen dort, umgraben, auflockern, düngen. Erdig verkrustete Hände und schnelle Resultate in Form von frischem Grün. Kein Taktieren und keine Aufgeblasenheit. Die Pflanzen polemisieren nicht, der Rasen hat nicht das geringste Interesse daran, mich zu Fall zu bringen, und Petersilie spinnt keine Intrigen.

Ich schließe die Haustür auf, gehe zum Auto zurück und hole mein Gepäck aus dem Kofferraum. Freizeitkleidung habe ich mitgenommen und eine Kiste randvoll mit Büchern, die seit einer Ewigkeit darauf warten, von mir gelesen zu werden. Das Handy habe ich ausgeschaltet und die Termine im Kalender gestrichen. Ich muss mein Essen nicht schlingen und die Post nicht im Flugzeug durchsehen, auf dem Weg zu irgendeiner Sitzung, von der ich bereits am Morgen weiß, dass sie bis in die Nacht hinein andauern wird.

Das Hämmern hört auf. Ein Mann tritt aus dem Schuppen nebenan und schlendert auf sein marodes Haus zu. Es ist ein langer dünner Kerl mit streichholzkurzem Haar. Er trägt Armeehosen in Tarnfarben, darüber ein ärmelloses T-Shirt, auf dem etwas aufgedruckt ist. Ich bemerke einen dunklen Fleck auf seinem Unterarm, vermutlich ein Tattoo, dessen Motiv ich auf die Entfernung nicht erkennen kann. Er späht zu mir herüber und zündet sich eine Zigarette an. Als ich den Kofferraum schließe, winkt er mir zu. Ich nicke zurück, so verhalten, dass er es sicher nicht sehen kann, dann eile ich ins Haus, schlage die Tür zu und lehne mich mit dem Rücken dagegen. Mein Herz schlägt hart gegen meinen Brustkorb. Schweiß tritt mir auf die Stirn.

Ich reibe mir mit beiden Händen durchs Gesicht und versuche mich zu erinnern. Frauke hat mir erzählt, dass die alte Bäuerin nicht mehr neben ihr wohnt. Sie sei gebrechlich geworden und habe in ein Pflegeheim umziehen müssen. Ihr altes Zuhause habe sie samt Grundstück und Schuppen einem Großneffen zur Hochzeit geschenkt. Das ist bestimmt schon zwei Jahre her, aber ich habe das junge Paar noch nicht kennengelernt. Trotzdem gibt es keinen Grund für die Panik, die mich erfasst. Ein neuer Nachbar, der freundlich grüßt. Aber mir zittern die Knie.

Ich bin aufs Land gefahren, um unsichtbar zu sein. Wochenlang hat man mir aufgelauert: im Krankenhaus, in der Reha-Klinik und schließlich auch noch unter dem Fenster meiner Wohnung in der Auguststraße. Die Öffentlichkeit habe ein Recht zu erfahren, wie es mir ginge, sagten die Reporter und die Fotografinnen, aber jedes Blitzlicht, das mich traf, glich einem weiteren Angriff. Ich habe die Berichte gesehen. Hinterher. In allen Gazetten sind die Artikel zu lesen gewesen. Mit der Zeit sind sie von der ersten Seite über den Mittelteil in die Spalte mit den Randnotizen gerutscht, doch seit dem Attentat rissen die Meldungen nicht ab.

Abgeordnete niedergestochen. Martina Wernicke notoperiert.

Wernicke ins künstliche Koma versetzt.

Wernicke aus dem Krankenhaus entlassen. Reha soll letzte Wunden heilen.

Martina Wernicke wieder zu Hause. Wann kehrt sie in den Bundestag zurück?

Im Haus ist es kühler als draußen, die Luft riecht verbraucht. Ich stelle die Bücherkiste auf dem Tisch im Wohnzimmer ab, auf dem ein Schreibblock liegt. Das oberste Blatt zeigt Notizen in Carstens Handschrift. Bis vor kurzem ist er im Dorf gewesen, um an seinem Buch zu schreiben, jetzt haben ihn weitere Recherchen nach Italien geführt. Wie es scheint, genießt er den Ruhestand. Seit dem letzten Sommer füllt er seine Tage mit wissenschaftlichen Abhandlungen über das frühe Rom und sein Staatswesen aus. Auf diese Weise begleiten Latein und Geschichte ihn noch immer, aber er hat die Hektik des Schulalltags gegen die Muße des Forschens eingetauscht, die gut zu ihm passt. An den Wänden türmen Regale sein Wissen in Lexika auf, während Frauke ihre Papiere im Arbeitszimmer stapelt, das auf der anderen Seite des Korridors neben der Küche liegt.

Die beiden sind wie Tag und Nacht. Carstens stille Zufriedenheit ist der Gegenpol zu Fraukes streitbarem Wesen, das sich stets zu exponieren sucht. Er ist ein geduldiger Mann, der ihrer Energie mit stoischer Ruhe begegnet. Die Tageszeitung liest er so ausführlich, wie er die Briefe der gemeinsamen Söhne beantwortet. Von den Gesellschaften seiner Frau hält er sich fern, sobald sie hektisch werden und laut und ihr erst richtig Spaß zu machen beginnen. Er lässt seinen Tee noch ziehen, wenn sie die zweite Tasse schon getrunken hat. Sie hat die Karten für die Oper längst gekauft, wenn er noch über dem Spielplan brütet. Und wenn es gilt, etwas zu entscheiden, sieht er sie an mit gespanntem Blick und wartet. Frauke kennt das Zögern nicht. Sie ist wie geschaffen für die Politik, war ein Alphatier schon in Zeiten, als es das Wort noch nicht gab. Auf ihrer Homepage lässt sie wissen, sie sei so alt wie die Bundesrepublik, und das sagt mehr aus, als ein Geburtsdatum es könnte.

Ich gehe in die Küche und drehe den Wasserhahn auf. Nachdem ein paar Liter abgestandener Brühe durch die Rohre geflossen sind, nehme ich ein Glas aus dem Schrank, fülle es bis zum Rand und gucke zu den Nachbarn hinüber. Der junge Mann ist fort, aber nun hockt eine Frau hinter der niedrigen Hecke zwischen den Beeten. Ich sehe nicht mehr von ihr als den Umriss ihres Kopfes und langes rotes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gefasst auf ihren Rücken fällt. Als sie sich aufrichtet, kann ich erkennen, dass sie schwanger ist. Achter Monat, schätze ich und trinke das Glas leer. Dann gehe ich nach oben, um meine Tasche auszupacken.

Das Gästezimmer ist mir vertraut. Einmal mehr betrachte ich die gerahmten Fotografien afrikanischer Landschaften an den Wänden, das Kiefernbett mit der Patchworkdecke darüber und den Ohrensessel mit dem runden Tisch davor, ein gemütlicher Platz dicht beim Fenster. Von dort aus habe ich eine gute Sicht nach Westen bis zum Dorfkern hin, auf die Kirchturmspitze und auf den Fahnenmast bei der Freiwilligen Feuerwehr. Wenn ich die Nachbarn allerdings im Auge behalten will, muss ich in das Schlafzimmer gehen, das Frauke und Carsten teilen. Sein Fenster liegt zur anderen Seite, nach Osten. Eine Dachluke im Bad gibt den Blick auf die Straße im Norden frei und auf das Maisfeld dahinter, genau wie die Eingangstür und das kleinere Küchenfenster unten. Den hinteren Teil des Gartens im Süden kann ich vom Wintergarten oder von Fraukes Arbeitszimmer aus beobachten. Das größere Küchenfenster zeigt wieder zu den Nachbarn.

West. Ost. Nord. Süd. Das Haus ist wie eine Burg. Wann immer sich jemand nähert, ich kann es verfolgen. Es gibt ein Telefon im Wohnzimmer und ein Handy in meiner Hosentasche. Ich kann Hilfe holen, wenn es nötig werden sollte. Ich bin sicher.

Ganz sicher. Oder nicht?

Die Nächte in der Auguststraße waren laut, seit ich aus der Reha-Klinik zurückgekommen bin. Jedes Hupen eines Autos ließ mich zusammenfahren. Ein Lachen zu später Stunde und ich horchte auf. Da liefen Menschen in kleinen Gruppen über den Bürgersteig, Gäste aus einem der zahlreichen Restaurants, die sich im Karree befinden. Sie waren gut gelaunt und mit sich selbst beschäftigt, aber ich ballte die Hände zu Fäusten und krampfte die Zehen zusammen am Tisch, auf dem Sofa, im Bett.

Manchmal schaltete ich den Fernseher ein, um mich abzulenken. Oft gab es Krimis zu sehen. Kommissare berieten sich in der Pathologie mit Ärztinnen, die blutverschmierte Kittel trugen, während blassblaue Leichen aufgeschnitten auf Metallbänken lagen. Ich habe Blut noch nie sehen können, mein eigenes nicht und kein fremdes. Noch immer habe ich es nicht über mich gebracht, die Narben auf der rechten Seite meines Bauches zu betrachten. Auch den OP-Bericht habe ich nicht gelesen. Und ich ertrug auch diese Leichen nicht. Fernsehen war keine Lösung. Die Brutalität des Gezeigten war mir zuwider, und das Lauern der Täter, das Blitzen eines Messers oder die Leichenstarre der Ermordeten erinnerten mich nur noch deutlicher daran, welchem Schicksal ich gerade so entkommen war.

Bei Tag war es anders. Sobald die Reporterinnen und Fotografen mich einmal nicht beobachteten, stand ich zu Hause am offenen Fenster und verfolgte das Aufbrechen der Knospen an den Bäumen und das Wechselspiel der Wolken vor der Nachmittagssonne. Kinder tobten auf dem Spielplatz auf der anderen Straßenseite, schwangen sich nacheinander auf der Schaukel hoch und höher. Ich konnte das Kribbeln im Bauch spüren, dem sich ein jedes von ihnen hingab, wenn es im Abschwung den Kopf in den Nacken legte. Verwundert bemerkte ich, dass es möglich war, gleichzeitig erschrocken und dankbar zu sein.

Fast wäre mir das Leben aus den Händen gerutscht. Gerade noch habe ich es festgehalten, und so lege ich meine Finger darum und betrachte es. Wie farbig kann es schillern, wenn die Zeit nicht ausgefüllt ist mit Drucksachennummern und Plenarsaalscharmützeln. Ich esse langsamer als sonst und kaue gründlich, schmecke jedem einzelnen Bissen nach. Wie köstlich kann sein, was meine Sinne aufzunehmen vermögen, wenn ich sie lasse. Wie kostbar.

Eleni hat versucht, mich daran zu erinnern. Unsere gemeinsamen Stunden waren selten geworden im letzten Jahr. Den Strapazen des Europawahlkampfes folgten die rastlosen Wochen vor der Bundestagswahl praktisch übergangslos. Ich verbrachte mehr Zeit in meinem Wahlkreis im Westfälischen als in Berlin. Wir telefonierten oft, aber niemals lange. Sie vermisse mich, sagte sie am Ende eines jeden Gespräches und sandte einen Kuss durch die Leitung. Sie war gierig nach mir, wenn ich nach Hause kam. Ich war erschöpft. Und es gab immer etwas Wichtigeres – die Präsentation der Wahlplakate, den Stand der Meinungsumfragen, die Absprachen mit Frauke und die Streitigkeiten mit Hendrik George, einem übereifrigen Emporkömmling, der zum ersten Mal für ein Mandat kandidierte. Ich vertröstete Eleni ein ums andere Mal, saß noch an meinem fünfzigsten Geburtstag stundenlang in der Bundesgeschäftsstelle, während sie zu Hause auf mich wartete. Später, Liebes. Bald.

Verlassen zu werden ist grauenvoll. Selbst schuld daran zu sein ist nicht zu ertragen. Eleni ist fort. Nicht einmal ihre Möbel hat sie selbst abgeholt. Ich stand im Türrahmen ihres leeren Zimmers und starrte auf die hellen Flecken an der Wand, die ihre Bilder hinterlassen hatten. Ich bückte mich nach einem dunklen Haar auf dem Parkett und ließ es durch meine Finger gleiten. Sie hat gewartet bis nach der Wahl. Ich stellte die Uhr auf Winterzeit um, saß in der Novemberdämmerung auf meinem Bett und schaltete kein Licht ein. Wer nicht hören will, muss fühlen. Bronchitis und Antibiotika. Eine glutheiße Stirn, durchnässte Papiertaschentücher und Gemüsesuppe mit Buchstabennudeln, mit denen ich ihren Namen auf den Tellerrand schrieb. Aber kaum war das Fieber gesunken, stürzte ich mich noch entschiedener in die Arbeit. Ich bewilligte meinem Mitarbeiter den längst fälligen Urlaub, schrieb alle Reden selbst, las den Pressespiegel von vorne bis hinten durch und nahm jede Einladung an, die mir ins Büro flatterte. Das Foto von Eleni ließ ich auf meinem Schreibtisch stehen. Ich versuchte mir einzureden, dass nichts passiert war, und stand doch unter Schock. Musste erst ein Akt der Gewalt mich aus dem Alltag reißen, damit ich das ganze Ausmaß dessen fühlen konnte, was ich verloren habe?

Ganz unten in der Tasche liegt die Packung mit der Haartönung. Ein Bild von mir ist tagelang zur Nachrichtenzeit in die Wohnzimmer der Nation geflimmert. Wenn ich mich auch in der Einsamkeit verkrieche, so will ich doch durch den Ort gehen können, ohne Fragen in den Blicken der anderen zu begegnen und ohne ihr Wispern zu hören im einzigen Laden, der sich am Dorfplatz befindet. Ist das nicht …? Wie war doch gleich ihr Name? Ein bisschen Henna Goldkastanie wird das Problem lösen.

Ich gehe ins Bad, wasche meine Haare und reibe anschließend die Tönung hinein. Dann setze ich mich auf den Rand der Wanne und warte. Die Farbe muss einwirken. So schnell geht das nun auch wieder nicht. Vielleicht hat die Täterin mir einen Gefallen getan. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem sich das Innehalten nicht länger vermeiden lässt, und diese Einsicht erleichtert mich auf wundersame Weise. Die Fraktion müht sich nach Kräften, alle Abstimmungen, deren Ausgang eng werden könnte, vertagen zu lassen, bis ich zurück bin. Sie werden sich gedulden müssen. Noch immer sehe ich den feinen Riss in der Decke über dem Krankenhausbett, wenn ich die Augen schließe. Er war das einzig Stetige nach dem Erwachen. Die Blumen wechselten und die Menge der Flüssigkeit im Tropf, das Fenster stand offen oder war geschlossen, junge Gesichter beugten sich über mich und alte, ihre Hände zogen meine Decke zurück und spritzten vorsichtig in meinen Bauch oder rabiat, redeten dabei oder schwiegen. Ich wusste gar nicht, was eigentlich geschehen war. Meine Mutter kam und mein Vater. Sie blickten sorgenvoll auf mich herab. Jetzt ist es aus mit mir, dachte ich, aber meine Mutter sagte: Die Zeit heilt alle Wunden. Da fielen mir all ihre Sprüche wieder ein, das ganze Repertoire der Weisheiten, die sie mit sich herumzuschleppen schien wie einen Köcher auf dem Rücken, aus dem sie für jede Gelegenheit den passenden Pfeil zu ziehen vermochte. Ich erinnerte mich an die gesamte Palette, und als ich wieder allein war, sagte ich sie mir auf, von früh bis spät und bei Tag und Nacht, und der feine Riss in der Decke hörte zu. Wie man sich bettet, so liegt man, murmelte ich. Wer die Wahl hat, hat die Qual und ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Frauke kam und Frauke ging. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Krankenschwester brachte das Frühstück. Morgenstund hat Gold im Mund und der frühe Vogel fängt den Wurm. Der feine Riss in der Decke verzog sich zu einem Lächeln und antwortete mir. Jeder ist seines Glückes Schmied. Eleni schickte Blumen mit Fleurop. Sie schrieb, dass sie unbezahlten Urlaub genommen habe, um ihren Vater nach Samos zu begleiten, wo er sich von den Strapazen seiner Herzoperation erholen wolle. Gute Besserung wünschte sie mir. Kein zärtliches Wort, kein Zeichen von Sehnsucht. Über verschüttete Milch lohnt sich nicht zu weinen, grummelte ich, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Die Journalisten riefen an, denn wo das Aas ist, sammeln sich die Geier. So ging es immer weiter, bis die Erinnerung an das Geschehene sich zwischen die Wortgebilde schob, unscharf und nicht zu halten, aber schließlich wurde die Decke um den feinen Riss herum zur Leinwand. Ich sah, wie die Frau auf mich zukam, wie sie ihre Handtasche öffnete und hineingriff. Politik verdirbt den Charakter und Lügen haben kurze Beine. Das Bett begann sich zu drehen. Ich krallte meine Finger in die Matratze neben mir, und der Vorhang zog sich wieder zu.

Sie sagten, ich müsse das Trauma verarbeiten, und so fuhren sie mich direkt vom Krankenhaus in die Reha-Klinik. Herr Doktor Schneider hatte schütteres Haar und trug einen weißen Kittel. Er fragte. Nach dem Moment, in dem ich das Messer erblickte. Nach dem ersten Einstich, bei dem mir schwarz vor Augen wurde. Nach dem zweiten, den ich von oben sah. Die Täterin hatte Zacken in ihrem Scheitel. Ich fiel nach hinten und schlug mit dem Kopf gegen die Sitzfläche des Stuhles, auf dem ich noch eine Minute zuvor gesessen hatte. Das tapfere Schneiderlein schaute auf die Uhr, während ich es ihm erzählte. Es sprach von der Angst, die es zu besiegen galt. Ich sprach davon, dass ich mir das Genick hätte brechen können.

Die Reha-Klinik war von einem Park umgeben. Nicht immer wagte ich mich aus dem Haus, aber wenn ich es tat, wurde ich des Frühlings gewahr, roch den Duft der Narzissen und vergewisserte mich, dass die Hornveilchen wieder ein Stück gewachsen waren. Es gab gute Tage, an denen ich mich auf einer freien Bank niederließ, das Gesicht den Sonnenstrahlen entgegenreckte und das Gewusel auf den Wegen beobachtete. Es gab andere, an denen jeder Blick, der mich traf, ein feindlicher war und ich kaum atmen konnte, nicht allein sein und nicht in Gesellschaft. Dann pulsierte die Narbe, und die Erschütterung schwang in mir nach, ermüdete mich ebenso wie das tapfere Schneiderlein mit seiner Uhr. Sie haben fünfzig Minuten. Sie werden verarbeiten und verdauen und schließlich vergessen. Loslassen. Und dann kommt die Kraft zurück.

Aber sie kam nicht. Ich fand keinen Schlaf, obwohl ich todmüde war und leer. Jeder Morgen begann mit Übelkeit, als wäre ich schwanger. Vielleicht trug ich tatsächlich etwas aus. Ich vermisste nicht die Pressekonferenzen, nicht die Glocke des Bundestagspräsidenten und nicht die Mikrofone am Rednerpult. Ich vermisste Eleni.

Eine letzte Stunde in der Atemtherapie, ein abschließendes Gespräch in allen Abteilungen, dann durfte ich nach Hause. Meine Putzfrau hatte sechs Wochen lang die Post aus dem Briefkasten geholt und sie auf meinen Küchentisch gelegt. Die Menge dessen, was sich da angesammelt hatte, glich einem weiteren Hieb in meine Seite. Ich schaltete das Handy wieder ein und auch meinen Computer. Nicht nur die Presse fragte nach, wann ich an die Arbeit zurückkehren würde. Auch die Fraktion ermunterte mich. Sie schickte Jan Grabowski vor, einen erfahrenen Kollegen, mit dem ich wie mit Frauke schon seit vielen Jahren im Parlament zusammensaß. Sein Haar war licht geworden und gelb. Er kämmte die verbliebenen Fusseln vom Rand seines Kopfes über die Glatze in der Mitte, eine vergebliche Mühe. Seine Haut war glanzlos und die Augen trocken, aber noch immer arbeitete er voller Eifer. Er riet mir zum Aufsteigen auf das Pferd, das nottat, wenn man heruntergefallen war. Aber ich wollte nicht reiten. Da hatte etwas in mir lange auf die Chance gewartet, gehört zu werden. Jetzt bestand es auf seiner Redezeit. Ich bat Frauke um ihr Haus, und sie war einverstanden. Wenn es dir hilft, sagte sie. Ich war sicher, das würde es. Die Wirtschaftskrise war in aller Munde, die Politik der neuen Bundesregierung glich einem Desaster, aber ich wollte Blumen gießen. Wochenlang. Unbedingt.

Nach einer halben Stunde spüle ich die Tönung aus und prüfe das Ergebnis im Spiegel. Die Farbe wirkt eine Spur heller als auf der Verpackung, aber die Veränderung ist groß genug. So wird mich im Dorf niemand erkennen. Die Leute achten nicht auf Details in Gesichtern, die sie in ihrer Nähe nicht erwarten. Zufrieden kämme ich die nassen Strähnen aus der Stirn, das Wasser tropft auf mein Schlüsselbein, das zu deutlich sichtbar ist. Ich hatte keinen Appetit im Krankenhaus, und das Adrenalin in meinem Blut unterspült mich noch immer wie ein Fluss die Uferböschung. Meine Brüste sind flacher geworden. Den Verschluss meiner Armbanduhr habe ich enger gezogen. Mein Hals ist zu schmal, das Kinn ist zu spitz, die Wangen zu hohl und die meergrünen Augen zu weit aufgerissen. Ich sehe aus wie der Vogel auf dem untersten Ast des Baumes, unter dem die Katze streunt. Ich sollte mich aufplustern. Ich sollte mehr essen.

Tatsächlich verspüre ich jetzt Hunger. Das Fischrestaurant fällt mir ein, in dem ich im vergangenen Sommer mit Frauke, Carsten und Eleni gewesen bin. Es hat eine Terrasse mit Blick auf den See und frischen Zander auf der Speisekarte. Ich löse mich von meinem Spiegelbild und verlasse das Bad. Wenn ich zu Fuß gehe, wird mein Haar getrocknet sein, bis ich angekommen bin. Aber der Wanderweg führt quer durch den Wald. Es sind noch keine Ferien, die Zahl der Touristen ist spärlich, und die Einheimischen haben an einem Freitagmittag anderes zu tun als spazieren zu gehen. Kaum jemand wird mir unterwegs begegnen. Zwanzig Minuten des Alleinseins liegen zwischen mir und meinem Ziel, zwanzig Minuten begleitet vom Klopfen der Spechte, vom Knirschen der eigenen Schritte auf sandigem Grund und vom Anblick frischbelaubter Buchen, in denen der Wind sich fängt. Und von meiner Fantasie.

Ich seufze. Was spielt die Einsamkeit im Wald für eine Rolle? Der Angriff ist geschehen, als ich ein Podium verließ. Das Publikum war noch im Saal. Wie von Ferne habe ich die Leute schreien gehört. Mit schnellem Eingreifen hätte vielleicht das Schlimmste verhindert werden können, aber niemand ist mir zu Hilfe gesprungen. So haben es die Zeitungen geschrieben, so erzählte man es mir. Ich wage nicht, es mir vorzustellen. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich auf der Straße umsehe. Ich belausche die Gespräche meiner Mitmenschen und beobachte, was sie in den Händen halten, wähne gar den Wahnsinn in ihren Blicken, den ich bei der Täterin gesehen habe. Die Polizei hat sie festgenommen, und sie hat nicht einmal versucht zu fliehen. Wie viele andere mag es da draußen noch geben, die mir nach dem Leben trachten? Weit weg oder ganz nah?

Was ich brauche, ist ein bisschen Optimismus. Ich versuche es mit Wahrscheinlichkeitsrechnung. Mir wird nicht zweimal hintereinander dasselbe passieren, denke ich und fühle mich nicht besser. Es gibt Nachahmungstäter. Und es gibt viele, denen ich mit meiner Arbeit auf die Füße getreten bin. Martin Luther King fällt mir ein, Benazir Bhutto und Anna Politkowskaja. Es ist gefährlich, für etwas einzustehen. Ich strecke den Rücken durch und hebe das Kinn. Glaubt man den Erkenntnissen sozialwissenschaftlicher Forschung, ist mein Auftreten entscheidend dafür, ob jemand mich töten will oder nicht. Es ist ganz wie im Reich der Tiere. Demnach ist es die Schuld der Schwebfliege, wenn sie es nicht schafft, als wehrhafte Hornisse zu erscheinen. Schnellt die Zunge des Frosches nach vorn, um sie zu fangen, ist es ihr nicht gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass sie einen Stachel hat. Ich halte nicht viel von derartigen Theorien, sind sie doch nicht mehr als ein Plädoyer für eben jenen großen Bluff, von dem ich im Bundestag mehr als genug zu sehen bekomme – oben die Brust so weit herausgestreckt, dass die Hemdknöpfe abzuspringen drohen, unten die Füße nach innen gestellt. Das aber bleibt hinter dem Rednerpult verborgen.

Ich steige die Treppe hinunter, gehe zum Wagen, hole das Pfefferspray aus dem Handschuhfach und stecke es in die Hosentasche. Ab morgen werde ich selber kochen, aber heute will ich mir den Zander im Restaurant schmecken lassen, und niemand, niemand, niemand soll mich daran hindern.

Die schwangere Frau arbeitet noch immer zwischen den jungen Trieben, als ich die Haustür abschließe und an ihrem Grundstück vorübergehe. Sie sieht nicht auf, sondern zupft an Blättern, die in ordentlich abgesteckten Beeten durch die Erde gebrochen sind. Es sieht behände aus, was sie tut, geschickt und selbstvergessen. Der Saum ihres weiten Rockes fällt hinter ihr auf den Boden, ihre nackten Füße stecken in neongelben Flipflops. Sie wirkt viel zu jung für ein Baby, sieht vielmehr aus wie ein Mädchen, das im Garten der Großmutter mit Pampe spielt. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich sie ansprechen soll, sie fragen, was sie da angepflanzt hat oder wann das Kind zur Welt kommen wird. Ich habe den Mund schon halb geöffnet, als ein schwarzer Vierbeiner von der Größe eines Schäferhundes aus dem Schuppen auf sie zu trottet. In seinem halbgeöffneten Maul blitzten spitze Zähne von der Art, die sich im vergangenen Herbst in der Auguststraße in der Wade eines Radfahrers verbissen haben. So verzichte ich auf die Plauderei am Gartenzaun und gehe weiter. Wenig später biege ich in den Waldweg ein.

Ich laufe schneller als gewöhnlich und glaube trotzdem, nicht voranzukommen. Mit hochgezogenen Schultern eile ich vorwärts und lausche. Ich habe wohl die Hälfte der Strecke geschafft, als ich sehe, dass mir in der Ferne zwei Gestalten entgegenkommen. Sofort werde ich langsamer und lege die Hand um das Pfefferspray in meiner Hosentasche. Nicht noch einmal soll man mich überraschen. Nie wieder will ich unvorbereitet sein. Ich beobachte die Umrisse der Figuren genau. Sie werden größer, gehen dicht nebeneinander her und flüstern sich etwas zu. Ich bleibe stehen, während sie immer näher kommen, und in meiner Seite spüre ich den scharfen Schmerz der Stiche ein weiteres Mal. Mein Blick verengt sich. Ich wische die Erinnerungen fort, vertreibe den Schwindel, der mich wanken lässt. Wenn der Kampf beginnt, brauche ich einen festen Stand. Ich entferne die Verschlusskappe von der Dose. Gleich ist es soweit.

Und dann kann ich sie erkennen. Es ist eine Greisin am Arm ihres jungen Begleiters. Er mustert mich neugierig, während die Alte auf ihn einredet und mich überhaupt nicht bemerkt. Unerträglich langsam schlurfen sie vorbei. Ich lasse sie nicht aus den Augen. Erst als zweihundert Meter zwischen uns liegen, lockere ich den Griff um das Pfefferspray. Mein Atem geht flach. Ich reibe mir die Augen und hole tief Luft. Warum um alles in der Welt bin ich nicht mit dem Auto gefahren?

2

Der Morgen nach meiner Ankunft ist nass und kühl. Ich nutze das schlechte Wetter, um mich im Haus einzurichten, fahre mit dem Wagen ins nahe Templin und kaufe ein, was ich zum Leben brauche, dazu eine CD mit Chansons von Edith Piaf und einen Strauß Pfingstrosen, den ich ins Wohnzimmer stellen will. In der Auslage eines Schreibwarenladens entdecke ich ein in cremefarbenes Leder gebundenes Schreibheft. Es ist nicht größer als ein Terminkalender und unverschämt teuer, aber ich bleibe stehen. Seit ich im Bundestag sitze, habe ich nicht mehr Tagebuch geschrieben. Lange schon wollte ich meine alte Gewohnheit wiederaufleben lassen, aber außer flüchtigen Notizen auf Bahnreisen habe ich nichts zustande gebracht, und was ich auf diese Weise festhielt, kam zwischen Ausschussprotokollen und Fachzeitschriften abhanden. Ich gehe in das Geschäft und lasse das Heft aus der Auslage holen. Schon im Auto schlage ich es auf und schreibe die ersten Sätze hinein.

Alle sprechen jetzt von Griechenland. Jeden Tag sind die Zeitungen voll von den Meldungen aus Athen und von den Protesten der Bevölkerung. Ich frage mich, was Eleni denkt, was sie tut und wie es ihr geht. Ist ihr Vater wieder gesund? Ist sie noch auf Samos? Was reden die Menschen um sie herum über das Versagen der Politik?

Ich lege das Tagebuch beiseite, starte den Motor und bleibe in Gedanken. Wann die Fragen nach dem Sinn angefangen haben, weiß ich nicht mehr genau. Ich bin nicht naiv. Ich bin nicht dogmatisch. Kompromisse gehören zum Wesen der Demokratie. Wer regieren will, braucht Partner und muss bereit sein, auch Kröten zu schlucken. Doch des einen Kröte ist des anderen wunderschöner Ochsenfrosch. Es gibt ihn nicht, den einen Augenblick, der die Partei verändert hat. Der Wandel war ein Prozess. Alte Mitglieder haben uns enttäuscht den Rücken gekehrt, neue haben ihre Plätze eingenommen. Wir werden mehr. Wir haben Erfolg.

Und neuerdings haben wir Hendrik George.

Es war der Tag nach der Europawahl, als ich ihn persönlich kennenlernte. Wir waren im Fraktionsbüro verabredet, um gemeinsam mit unserem Pressereferenten Anthony Owusu einen Ausblick zu verfassen. Mit dem Fahrrad und mit gemischten Gefühlen machte ich mich auf den Weg, denn ich hatte Hendrik schon einige Male auf Parteitagen erlebt. Auch hatte ich ihn reden gehört, vor allem seit er über die hessische Landesliste für den Bundestag kandidierte. Sein Name stand auf einem Listenplatz, der für den Einzug ins Parlament nur reichen würde, wenn die Partei das Ergebnis der letzten Wahl verbessern konnte. Den Umfragen nach war das möglich, und so avancierte er zu einem umtriebigen Kämpfer, der mit seinem Aktionismus nicht selten über das Ziel hinausschoss.

Was das Miteinander betraf, so verhielt es sich in der Partei nicht anders als in einer großen Familie – es gab Abzweigungen mit Oberhäuptern und Abkömmlingen, mit Lieblingsonkeln, Erbtanten und Stiefkindern, es gab regelmäßige Treffen des gesamten Clans, auf denen der Zusammenhalt beschworen, aber auch heftig gestritten wurde. Man feierte gemeinsam, klopfte sich auf die Schultern und redete hinter vorgehaltener Hand. Und so hatte ich auch über Hendrik schon einiges gehört. Er war Mitte dreißig und lebte allein. Man munkelte über eine unglückliche Liebe, die sich von ihm getrennt hatte und der er noch immer nachhing. Man lästerte über ihn, weil er ungepflegt war. Sein Vollbart wuchs ihm über die Lippen, die Anzüge, die er bei offiziellen Anlässen trug, waren für seinen untersetzten Körper in der Breite zu knapp und in der Länge zu großzügig bemessen, und das dunkelbraune Haar fiel ihm in fettigen Strähnen in die Stirn. Das alles interessierte mich weit weniger als seine Ansichten. Als Wirtschaftswissenschaftler dachte er in Kategorien von Gewinn und Verlust und stellte ökonomische Erfordernisse ins Zentrum der Betrachtung eines jeden Problems. Diskutierten wir über die Wachstumschancen erneuerbarer Energien, war seine Stimme laut und sein Redeschwall nicht zu bremsen. Ging es aber um Sozialpolitik, Frauenförderung oder Minderheitenrechte, hielt er sich auffällig zurück. Auf seiner Homepage ließ er wissen, dass er das Regieren der Arbeit in der Opposition in jedem Falle vorzog. Er verwies auf seine Wurzeln, die in einer angesehenen Unternehmerfamilie aus dem Taunus lagen, und führte seinen persönlichen Werdegang in allen Einzelheiten auf; Internate, Bildungsreisen und Auslandssemester, das Engagement in der Jugendorganisation der Partei und im Studierendenparlament. Er vergaß nicht zu erwähnen, dass er in den Semesterferien regelmäßig Praktika in den Geschäftsstellen namhafter Naturschutzverbände absolviert hatte. Unbezahlt seien diese gewesen, ließ er wissen, ein Dienst an der Gemeinschaft und ein Ausdruck seiner Verantwortung für eine gesunde Umwelt. Am Kopf der Seite präsentierte er eine Diashow, die ihn im Kreise von Prominenten aus Politik und Kultur zeigte; Männer und Frauen, die steif und unwillig wirkten, während er sich gegen sie drängte. Ein Link führte zu allen Reden, die er im hessischen Landtag jemals gehalten hatte. Dazu hob er in einem Kasten hervor, warum er für den Bundestag kandidierte. Seine Sprache war salopp, sein Lächeln anbiedernd auf jedem der eingestellten Bilder.

Ich war um Viertel vor eins im Fraktionsbüro und damit fünfzehn Minuten vor der vereinbarten Zeit, aber Anthony war schon vor mir da. Ich schenkte ihm ein flüchtiges Hallo und zog meine Jacke aus.

»Und? Schon wieder munter?«, erkundigte er sich, ohne von seinem Computerbildschirm aufzusehen. Die Frage war berechtigt. Bis früh um vier hatten wir das Europawahlergebnis diskutiert. Eigentlich hatte ich gar nicht so lange bleiben wollen, aber nachdem die Presse ihre Interviews beendet hatte, begannen die Gespräche im kleinen Kreis. Wir tauschten die Anekdoten von den Wahlkampfständen aus und nahmen das Abschneiden der einzelnen Kreise unter die Lupe. Ich kannte sie alle, die da zusammengekommen waren, und viele von ihnen hatte ich seit Monaten nicht gesehen. Über das ganze Land waren wir ausgeschwärmt, um Stimmen zu sammeln. Nun fiel die Anspannung von uns ab. Das Warten hatte ein Ende. Jetzt hatten wir Gewissheit, dunkle Ringe um die Augen und halbvolle Gläser mit trockenem Wein in den Händen. Eleni war bis um zwei Uhr bei uns geblieben, aber dann hatte sie sich verabschiedet, wieder einmal sichtlich enttäuscht, dass ich nicht mit ihr kam.

»Munter ist etwas anderes«, antwortete ich Anthony und holte ein paar Sitzungsprotokolle aus meinem Fach. »Seit wann bist du denn schon wieder hier?«