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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Shamim Sarif

Das Leben, von dem sie träumten

Roman

 

 

Aus dem Englischen
von Andrea Krug

K+S digital

Für Hanan, Ethan und Luca – für die Erkenntnis, die Ihr mir beschert habt:
dass jeder Augenblick des Lebens wundersam und wunderschön sein kann.

Danksagung

Die folgenden Menschen waren für den Entstehungsprozess dieses Buches von unschätzbarem Wert:

Meine Schwester Anuschka, die mich nach Moskau begleitete und mir Nazim Walimohamed vorstellte, der mir großzügig seine Zeit schenkte und mir wichtige Kontakte vermittelte. Marina Rabinskaja übernahm die Rolle der Fremdenführerin und erwies sich als eine großartige Übersetzerin. Sie half mir außerdem, Menschen zu finden, die mich an ihren Erinnerungen an die Zeit unter Chruschtschow teilhaben ließen. Galina Dronova, Juri Bichkow und Zinaida Gurewitsch unterstützten mich mit ihrem detaillierten Wissen über die fünfziger Jahre, und ich konnte von ihrem Gespür für wichtige Zwischentöne und Details dieser Periode profitieren. Michael Weinstein half mir bei einigen Gläsern Wodka in Moskau, die Romanhandlung auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Ich danke außerdem Yasmine Naber, die mich hier in London mit Varvara Underwood bekannt machte, und Zinaida Chnitko, die sich die Zeit nahm, die im späteren Verlauf des Schreibprozesses auftauchenden Fragen zu beantworten.

Dank geht auch an meinen Agenten Euan Thorneycroft für seine ausgezeichneten richtungweisenden Kommentare und an Rosie de Courcy für ihr feinfühliges Lektorat. Ebenso möchte ich David Pitblado und Katharine Priestley für ihr großartiges Endlektorat danken.

Meiner Partnerin Hanan Kattan gegenüber empfinde ich unendliche Dankbarkeit für alles und nicht zuletzt für ihre gründliche, scharfsinnige Lektüre. Ich schätze mich überaus glücklich, eine so engagierte, sensible Leserin an meiner Seite zu haben, die weiß, was ich sagen möchte und sich nicht scheut, es offen zu benennen, wenn ihr etwas nicht gelungen scheint. Es ist eine undankbare Aufgabe, aber ich danke ihr dafür!

Sie spricht zu ihrer Liebe halb im Schlaf,

In dunkler Stunde,

Im Flüstern halber Worte:

Die Erde regt sich im Winterschlaf,

Lässt Gras und Blumen sprießen

Trotz des Schnees,

Trotz des fallenden Schnees.

 

Robert Graves

KAPITEL 1

Boston, November 2000

Sie sitzt schon geraume Weile auf dieser Bank im Innenhof dieses Bürokomplexes – zwanzig Minuten, schätzt sie –, und einen Moment ist sie dankbar dafür, dass das große Karree ihr Schutz bietet vor dem eisigen scharfen Wind, der auf dem Weg hierher durch sie hindurchzufahren schien. Nur das zarte reine Blau des Himmels hält sich dort oben zwischen den Dächern der Gebäude. Der Platz ist einladend gestaltet, und doch empfindet sie die klobige Höhe der umgebenden Häuser als erdrückend. Die glänzend lackierten Sitzgelegenheiten, die unwirklich makellosen spätherbstlichen Blumenbeete, der plätschernde Springbrunnen als Sinnbild der Erholsamkeit – all das lässt sie diesen konzerneigenen Ruheplatz mit leichtem Widerwillen betrachten. Sie beschließt, nicht auf die Uhr zu gucken – noch nicht – und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Roman. Sie ist auf Seite fünf (von siebenhundertdreiundvierzig) und beschließt, die Seite noch einmal zu lesen, weil sie kein einziges Wort aufgenommen hat.

Beim zweiten Lesen ist es kaum spannender, und sie fragt sich, ob sie mit ihren einundsechzig Jahren nicht das Recht hat, Bücher, die sie nicht auf Anhieb fesseln, nicht weiterlesen zu müssen, schließlich hat sie selbst unter günstigsten Umständen nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt. Ihr Mann hat ihr unwirsch geraten, Proust zu lesen, um sich an seiner gedanklichen Raffinesse zu erbauen und seine Formulierkunst zu bewundern. Sie ist intelligent genug und feinsinnig genug, um beides zu schätzen, selbst in der kurzen Passage, die sie gelesen hat, aber etwas fehlt hier. Unwillkürlich legt sie die Hand aufs Herz. Vielleicht kommt es später noch, wenn sie dem Roman eine Chance gibt. Sie wirft einen kurzen, leicht schuldbewussten Blick auf ihre Handtasche, wie ein Kind, das versucht, nicht nach einem verbotenen Spielzeug zu schauen. Ihre Handtasche enthält zwei dünne Bücher: einen Roman von Hemingway und einen Band mit Erzählungen von Salinger. Ihr Mann hält von beiden nicht viel; Salinger insbesondere bringt er sarkastische Verachtung entgegen. Einerlei, ihr gefällt er, sie bewundert seine klaren einfachen Sätze. Sie hatte gezögert, die Geschichten erneut zu lesen, nachdem Professor Johnson vehement versichert hatte, sie besäßen keinen bleibenden Wert, doch zu ihrem Vergnügen stellte sie fest, dass sie es unbeschadet überstanden hatten und so packend und unpathetisch und sauber geschrieben waren, wie sie beim ersten Lesen gedacht hatte.

Ihr Blick kehrt zu dem vor ihr aufragenden Gebäude zurück. Die endlosen Vierecke aus dunklem Glas und blitzendem Stahl sind wenig einladend, undurchsichtig; sie verbergen alles, was hinter ihnen vorgeht. Sie hält sich selten im Geschäftsviertel auf. Dieser Teil der Stadt ist ihr nicht vertraut; er hat nichts mit dem Boston zu tun, das sie liebt. Ihr Boston ist die Welt der roten Backsteinhäuser und der Straßen, die von Bäumen gesäumt sind, die im Sommer kühlen Schatten spenden und im Winter nackt und stolz dastehen. Das ruhige, breite Glitzern des Charles River und die mitreißende Energie des Back Bay Bezirks. Die kleinen Fachgeschäfte in der Newbury Street, die kopfsteingepflasterten Straßen von Beacon Hill und das ferne Rauschen des Verkehrs, das den Kontrapunkt bildet zu der beschaulichen Stille der öffentlichen Grünanlagen. Die Cafés rund um die vielen Campusanlagen der Universitäten, in denen man unverhofft auf eine Lesung stößt oder ein Konzert. Sie löst den Blick von dem Gebäude vor sich, meidet noch immer das Buch in ihren Händen und schaut trostsuchend zu dem einsamen Baum, der aus dem Beton erwächst. Er hat die Hälfte seiner Blätter verloren, aber die verbleibenden weisen noch immer tiefdunkle Rot- und Brauntöne auf: die verbleichenden Farben des Herbstes in New England, der in diesem Jahr spät gekommen und nun fast zu Ende ist.

Sie vernimmt ein surrendes Geräusch und blickt sich um, kann aber die Quelle nicht ausmachen. Außer ihr ist niemand in diesem Innenhof. Dann spürt sie das Vibrieren zu ihren Füßen. In ihrer Handtasche. Sie greift hinein, holt ihr Handy heraus und schlägt den Proust zu. Das Telefon zuckt in ihrer Hand wie etwas, das sich in Schmerzen windet. Sie konzentriert sich darauf – keines der Symbole auf den Tasten erschließt sich ihr. Sie drückt eine schwarze Taste, dann eine grüne, dann hält sie es ans Ohr. Nichts.

»Sie kennen sich nicht damit aus, stimmt’s?«

Sie wendet den Kopf. Neben ihr steht Alexander Iwanow und schaut sie an. Er ist sorgfältig gekleidet; er trägt einen teuren, aber dezenten Cashmere-Mantel und einen rostroten Schal, der sein silbergraues Haar unterstreicht. Er lüftet den Hut, als sie sich ihm zuwendet, doch sie ist viel zu überrascht, um die höfliche Geste zu bemerken.

»Für mich sehen die Tasten alle gleich aus«, entgegnet sie. Sie lässt das Handy zurück in ihre Tasche fallen.

»Sie sollten Ihre Tochter bitten, es Ihnen zu zeigen, Estelle.«

»Vielleicht heute beim Mittagessen«, sagt sie. Er erwidert nichts daraufhin, und sie fragt sich, ob sein Schweigen etwas zu bedeuten hat, schließlich knüpft es an die Tatsache an, dass von Melissa keine Spur zu sehen ist. Sie rückt ein Stück beiseite, als sie merkt, dass sie die ganze Bank in Beschlag genommen hat, und er setzt sich, in gebührendem Abstand, und lächelt sie an. Seine Augen sind groß und dunkelbraun und altersweich – die warmen Farbbrunnen besitzen eine gewisse Stofflichkeit, denkt sie, wie alter Samt.

»Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagt er. »Bei unserer ersten Begegnung hatten wir keine Gelegenheit, uns länger zu unterhalten.« Er hat einen leichten Akzent und spricht mit einer Präzision, die klar definiert und zugleich musikalisch ist. Der Buchstabe L erhält ein besonderes Gewicht, bemerkt sie, wenn er ihren Namen ausspricht.

»Es war sehr freundlich von Ihnen, mich neulich in Ihrem Büro warten zu lassen«, erwidert sie.

»Warum haben Sie heute nicht vorbeigeschaut? Es ist kalt hier draußen.«

»Ich bin gern an der frischen Luft«, antwortet sie schlicht. Sie versucht nicht, die vage Abneigung, die sie dem Gebäude entgegenbringt, zu erklären – sie ist diesem Mann erst ein Mal begegnet, und es ist unwahrscheinlich, dass er ihre wunderlichen Anwandlungen versteht, zumal er der Besitzer des betreffenden Gebäudes ist. »Außerdem – wenn die Sitzung vorbei ist …«

»Sie ist noch in vollem Gange. Ich bin ausgebüxt.«

Sie fragt sich, wie jemand aus den Verhandlungen, die sich um den Verkauf seines eigenen Multimillionendollar-Imperiums drehen, ausbüxen kann, als sein Telefon klingelt.

»Das sind sie vielleicht«, sagt Alexander. Sie blickt wieder zu dem Baum hinüber, um etwas zu tun zu haben, während sie versucht, der klaren Stimme am anderen Ende der Leitung nicht zu lauschen. Es geht um abschließende Fragen und ob er nicht an den Verhandlungstisch zurückkehren wolle. »Nein, eigentlich nicht«, antwortet er. »Warum legt ihr nicht eine Mittagspause ein? Ich glaube, Melissa hat eine Verabredung.«

Stille am anderen Ende, Beratschlagung wahrscheinlich, dann ist die metallische Stimme wieder da. »Sie sagt, es sei nichts Wichtiges. Sie würde lieber die Sache hier zum Abschluss bringen.«

Sie sieht, dass er das Telefon fest ans Ohr gepresst hat, um zu verhindern, dass die Worte durch die kühle Luft zu ihr durchdringen.

»Na schön. Ich bin in zwei Stunden zurück«, sagt er kurzangebunden. »Seht zu, dass ihr bis dahin fertig seid, ja?« Er klappt das Telefon zu und schaltet es aus. Er sieht Estelle an, und einen Moment lang verständigen sie sich stumm miteinander. Sie weiß, was geschehen ist, und sie möchte es ihm ersparen, taktvolle Worte finden zu müssen, um ihr zu sagen, dass ihre Tochter sie versetzt.

»Ich habe letzte Woche den Artikel in der Business Week gelesen«, sagt sie. »›The King of Catering‹.«

»Schlagzeilen …« Er schüttelt den Kopf.

»Ich fand es interessant«, erwidert sie. »Vor allem Ihren Hintergrund. Ihr Leben in Russland.«

Er nickt kurz und höflich, sagt aber nichts weiter. Estelle überlegt, das Thema weiterzuverfolgen, denn die wenigen Sätze über Alexanders früheres Leben wiesen auf eine Geschichte hin, die spannend zu sein versprach. Sie entscheidet sich dagegen – schließlich kennt sie ihn nur flüchtig. Sie holt ihren Hut aus der Tasche. Gleich wird sie gehen.

»Es tut mir leid, dass Ihre Verabredung mit Melissa geplatzt ist«, sagt er. Er zögert, dann huscht ein rasches Lächeln über sein Gesicht, das ansonsten leicht besorgt, ja nervös ist. »Hätten Sie Lust, stattdessen mit mir zu Mittag zu essen?«

Estelle hält inne, und während sie noch überlegt, beschließt sie, nicht zu versuchen, den Hut vor seinen Augen aufzusetzen. Stattdessen benutzt sie ihn, um ihre Hände darunter zu wärmen. »Sollten Sie nicht lieber wieder hineingehen?«

»Wozu? Sie alle wissen, was zu tun ist.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Das hoffe ich. Sie mag meine Tochter sein, aber ich muss zugeben, dass Melissa einem Piranha in nichts nachsteht, wenn es darum geht, ein Geschäft unter Dach und Fach zu bringen.«

Er lacht. Die ungeschminkte Beurteilung ihrer Tochter überrascht ihn, und er versichert ihr, dass ihm das nichts ausmache und dass hartes Verhandeln zum Geschäft gehöre.

Ein kurzes Schweigen entsteht zwischen ihnen – ein Augenblick, in dem er zu überlegen scheint, ob er etwas enthüllen oder erklären soll. Er schaut an der gläsernen Fassade des Gebäudes hoch. »Dort oben sind sie. Im fünfundzwanzigsten Stock.«

Wieder blickt sie nach oben. Es handelt sich um genau die Art von abweisendem Gebäude, das sie gewöhnlich mit ihrer Tochter in Verbindung bringt: schlicht, sauber, funktional.

»Da habe ich vor fünfzehn Minuten noch gesessen, nach außen hin abgekapselt und zum Fenster hinausgeschaut wie ein rastloser Schuljunge, der sich nicht auf den Matheunterricht konzentrieren kann. Ich habe nichts als den Himmel gesehen und da hinten die Stadt und Back Bay. Als ich schließlich in die Gegenwart zurückkehrte, hatte mir jemand eine Frage gestellt. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Es war mir auch egal. Also habe ich mich entschuldigt und bin gegangen.«

»Es ist wohl nicht einfach, mitanzusehen, wie jemand anders die Leitung der eigenen Firma übernimmt.«

»Gut möglich, dass es damit zu tun hat. Aber es tut mir nicht leid, meinen Abschied zu nehmen. Es ist an der Zeit.« Er reibt sich die Hände, um sie zu wärmen, und sieht Estelle verschmitzt an. »Also, kommen Sie zum Essen mit zu mir? Melissa hat mir letztes Mal schon versprochen, wir würden zusammen essen. Sie können mir beim Ausbüxen Gesellschaft leisten.«

»Das ist nett von Ihnen, aber es ist nicht nötig …«

»Martha, meine Haushälterin, ist da, falls Sie eine Anstandsdame für nötig erachten«, fährt er fort.

»Glauben Sie mir, es ist Jahrzehnte her, dass ich mir Sorgen gemacht habe, Männer könnten bei meinem bloßen Anblick von unkontrollierter Leidenschaft überwältigt werden«, versichert sie ihm. »Seien Sie unbesorgt – ich habe keine Angst vor Ihnen.«

»Gut. Dann also abgemacht?« Er steht auf, als wäre es keine Frage mehr.

Sie verspürt einen feinen Stich bei dieser Anmaßung, doch ihre Neugier, was diesen Mann angeht, ist gewachsen. Sie liebt nichts mehr als eine gute Geschichte. Außerdem ist ihr kalt, und sie ist hungrig, und ihr steht nicht der Sinn danach, in die trostlosen Räume ihrer Wohnung zurückzukehren oder allein in einem Restaurant zu sitzen.

Wieder zückt er sein Telefon. »Ich kann Melissa anrufen und sie bitten, sich zu uns zu gesellen, wenn sie fertig sind.«

Sie ist ihm dankbar für sein Einfühlungsvermögen – dass ihre Tochter weiß, wo sie ist und sich später vielleicht zu ihnen gesellt, gibt ihr ein gewisses Maß an Sicherheit, den letzten Anstoß, den sie braucht. Sie brechen gemeinsam auf, überqueren die Sonnenflecken, die in den Innenhof fallen. Einige goldbraune Blätter schweben vor ihnen zu Boden, und die Art, wie Alexander nach einem von ihnen greift, hat etwas Anrührendes, der Anblick seiner Hand – ein wenig gekrümmt und gezeichnet vom Alter und den Bostoner Wintern, vermutlich auch von den Wintern in Russland –, die sich unwillkürlich danach streckt, ein vereinzeltes Blatt zu grüßen, das vor seinen Augen herabschwebt. Er sieht zu, wie es sich auf dem Boden niederlässt, leicht wie eine Feder. Dann führt er Estelle zum Haupteingang des Gebäudes, wo der Türsteher sich an den Hut tippt und ein Taxi heranpfeift.

Sie gleitet auf die rote Vinylbank, und auch Alexander ist schon halb im Wagen, hält dann jedoch inne, um dem Türsteher ein Trinkgeld zu geben. Er öffnet seine Brieftasche – eine weiche braune Ledermappe, die die ersten Spuren der körnigen Weichheit aufweist, die das Alter mit sich bringt. Er nimmt einen Geldschein heraus und reicht ihn dem Mann, doch Estelles Aufmerksamkeit gilt einer Fotografie in der offenen Brieftasche. Sie sieht sie nur eine Sekunde lang, vielleicht zwei. Es ist eine alte Schwarzweißaufnahme, vielleicht sogar ein wenig unscharf, aber die Frau auf dem Bild ist faszinierend – und sie ist jung und sehr schön. Das zumindest kann Estelle erkennen, auch wenn die Frau blinzelt, weil die Sonne sie blendet. Das Foto hat etwas – etwas Verführerisches, etwas, das sie in diesem kurzen Moment weder ergründen noch benennen kann, doch es kommt ihr vor wie eines jener Bilder, die eine ganze Haltung und Atmosphäre einfangen und einen jeden innehalten lassen, um nach Möglichkeit einen zweiten Blick darauf zu werfen. Als Alexander schließlich einsteigt, streicht sein Daumen rasch und leicht über das Bild, dann fällt sein Blick auf Estelle, und die Brieftasche klappt zu, und die Frau ist fort.

Er nennt dem Fahrer die Adresse, und Estelle räuspert sich, zögert aber, die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge liegt. Alexander sieht sie an, erwartungsvoll, ein offener Blick aus diesen höflichen braunen Augen, denen sie nichts entnehmen kann. Sie lehnt sich zurück, richtet den Blick nach vorn, und das Taxi fährt los.

Sein Haus ist ein altes rotes Backsteingebäude aus einer Zeit, als hohe Decken und großzügig geschnittene Zimmer üblich waren. Aus einer Zeit, in der eine wachsende Stadt es sich erlauben konnte, sich Raum zu nehmen.

»Es ist schön, ein Haus wie dieses zu sehen, das nicht in einzelne Wohnungen aufgeteilt wurde.«

»Viele Stufen«, erwiderte er. »Hält meine alten Knochen geschmeidig.«

»Wir wohnen gar nicht so weit voneinander entfernt. Wir leben in einem Sandsteinhaus – einem wunderschönen Gebäude, in dem wir allerdings bloß eine Wohnung haben. Klein, aber dafür mitten in der Stadt.«

Das versteht er – er hat immer mitten in der Stadt gelebt, selbst in Moskau besaß er dieses Privileg. Die meisten Menschen, die sich eine größere Wohnung wünschten – oder überhaupt eine eigene Wohnung –, waren gezwungen, in Chruschtschows neue Mietskasernen zu ziehen – hastig hochgezogen, grau und hellhörig, in den Außenbezirken der Stadt. Und viele Menschen waren glücklich damit: Diese Wohnblocks verschafften ihnen mehr Raum, als sie je zuvor gehabt hatten. Im Zentrum von Moskau waren die Zimmer winzig und überfüllt, es sei denn, man erwarb sich Parteiverdienste oder arbeitete für die Regierung.

Er hält Estelle die Tür auf, und sie betritt eine holzgetäfelte Eingangshalle, die sie augenblicklich an ein englisches Landhaus erinnert. Doch statt Ahnenporträts an den Wänden findet sich eine Auswahl an Kunstwerken, einige abstrakt, andere figurativ, alle relativ modern. Sie ist halb auf das Erscheinen eines Butlers gefasst, aber das einzige Lebenszeichen ist das gedämpfte Brummen eines Staubsaugers im oberen Stock. Während Alexander ihre Mäntel und Schals aufhängt, betrachtet sie die Kunstwerke. Es gibt einige Gemälde, von denen sie sich sofort angezogen fühlt. Seltsamerweise sind es abstrakte Bilder, die Art von nichtgegenständlicher Kunst, die sie normalerweise nicht anspricht. Doch diese Bilder hier rufen eine seltsame Stimmung in ihr wach, ein Gefühl von verlorener Liebe oder tiefer Trauer, das sie verstört. Sie betrachtet die Gemälde genauer und versucht zu ergründen, auf welche Weise es ihnen gelingt, solche Empfindungen zu wecken. Sie will sich an Alexander wenden, als er zurückkehrt, findet aber nicht die richtigen Worte, um auszudrücken, was sie denkt, ohne prätentiös oder wirr zu klingen.

»Sind Sie sicher, was das Mittagessen angeht? Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten«, sagt sie. »Wir können genauso gut irgendwo ein Sandwich essen gehen.«

»Ich bin ganz sicher. Kochen ist eine Art Therapie für mich. Es wird nur etwas Einfaches geben.«

Estelle folgt ihm ins Wohnzimmer, einen großen hellen Raum mit Ledersesseln und -sofas, einer Bücherwand und einem Flügel. Wie aus einem Roman, denkt sie. Die Fenster erstrecken sich von der Decke bis zum Boden und gehen auf einen kleinen Garten hinaus. Sie schaut nach draußen, während Alexander aus der Küche nebenan eine Flasche Wein holt. Die Büsche und Bäume haben ihre Fülle selbst jetzt im Spätherbst noch nicht verloren, und sie erkennt, dass die üppige, romantische Anmutung des leicht verwildert wirkenden Gartens sorgsam kultiviert ist. Alexander kehrt mit einer Flasche zurück und öffnet sie geschickt, konzentriert. Estelle wirft ihm einen fragenden Blick zu und geht zum Flügel hinüber. Sie betrachtet die Fotos, die darauf stehen, und nimmt eines in die Hand. »Eine sehr attraktive Frau.«

»Lauren – meine Nichte«, sagt er. »Sie ist Malerin. In der Eingangshalle hängen einige Bilder von ihr.«

Estelle dreht sich um. Ihr Interesse ist geweckt. »Wirklich? Ich fand sie erstaunlich. Aber ich weiß nicht warum. Ich habe keine Ahnung von Kunst und was sie ausmacht und dennoch …«

»Ja?«

»Und dennoch … wenn ich mir meine Bestimmung hätte aussuchen dürfen, dann wäre ich gern Schriftstellerin geworden.«

So, nun hat sie ihn ausgesprochen, den Wunsch, den sie stets für sich behalten hat.

Er schnuppert kurz an dem Wein und konzentriert sich. Als er Estelle ein Glas anbietet, nimmt sie es, schwenkt es leicht, so wie er es gemacht hat, und atmet das Aroma tief ein. Das Bouquet ist weich und rauchig, ein zutiefst tröstlicher Geruch nach getrockneten Früchten, Gewürzen und warmem Tabak, kein Vergleich mit dem einfachen Tafelwein, den sie gewohnt ist.

»Was hat Sie daran gehindert?«, fragt er. »Ich meine, Schriftstellerin zu werden.«

Sie zuckt zusammen, dann trinkt sie schnell einen Schluck. »Sie haben gut reden. So einfach ist das nicht.«

»Warum nicht?«

Sie antwortet nicht sofort. Als sie dann leise zu sprechen ansetzt, merkt sie, wie er sich vorbeugt, um ihre Worte zu verstehen. »Wenn es so einfach ist, dann habe ich viel zu viel Zeit vergeudet.«

Es ist eine klare, offene Aussage, und sie ist ihr beinahe peinlich.

»Schreiben Sie jetzt?«

Sie hat sich wieder gefangen. »Ein wenig. Hin und wieder.« Sie klingt abschätzig. »Nicht genug, denke ich.« Ihr Blick kehrt zum Flügel zurück, und dann entdeckt sie sie. Die Frau, die ihr vorher schon ins Auge gefallen war, auf dem Foto in seiner Brieftasche. Estelle nimmt das Foto in die Hand. »Und das hier?«, fragt sie.

»Katja. Meine verstorbene Frau«, antwortet er. Sein Blick schweift unwillkürlich zum Garten, fort von dem Foto und fort von Estelles fragendem Gesicht; der Himmel zieht sich zu und erzeugt ein düsteres schweres Licht, das ihn an die Vergangenheit erinnert. Diese fahle, erdrückende Atmosphäre ist so sehr mit den Tagen unmittelbar nach Katjas Tod verknüpft, selbst jetzt noch, dass er sie nur schwer ertragen kann. Er geht zur Tür und fragt in munterem Ton: »Darf ich Sie bitten, mir in die Küche zu folgen?« Er verneigt sich übertrieben. »Und gibt es etwas, das Sie nicht essen?«

»Sauerkraut«, antwortet Estelle prompt. »Wenn ich eines nicht ausstehen kann, dann ist das Kohl. Insbesondere wenn er eingelegt ist und sich verkleidet und so tut, als wäre er ganz was anderes.«

»Das war’s dann wohl mit meinem Hauptgericht«, erwidert er.

Die Küche ist groß, wie es von jemandem in seiner Branche zu erwarten ist und verschafft ihr sofort ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Lackierte Holzschränke erzeugen eine heimelige Atmosphäre; sie umrahmen einen großen blitzenden Herd, der den Gutteil einer Wand einnimmt. Darüber befindet sich ein Gestell aus Holz und Stahl, an dem blitzblanke Töpfe und Pfannen und Durchschläge hängen. An der Wand direkt über dem Herd hängen große Kochlöffel und sonstige Utensilien an Metallhaken: winzige Pfannen und Siebe, Stampfer und Reiben und viele andere Gerätschaften, deren Verwendung ihr schleierhaft ist. Hier ist keine Spur von der nachlässigen Unordnung auszumachen, die sich bei ihr daheim ständig einschleicht, egal wie sehr sie sich bemüht, die Dinge an ihrem angestammten Platz zu halten. Hier herrscht wohlgeordnete Fülle. Mit schnellen Bewegungen bindet er sich eine halbe Schürze um. »Ich habe mir den ganzen Morgen gewünscht, hier in der Küche zu stehen. Danke, dass Sie mir die Gelegenheit bieten.«

»Gern geschehen. Ich wünschte, ich könnte Ihre Begeisterung fürs Kochen teilen, aber dem ist nicht so. Und deshalb habe ich mir immer geschworen, einen Mann zu heiraten, der kochen kann.«

Das ist die Gelegenheit, auf die er gewartet hat. Aus irgendeinem Grund hat er gezögert, sie direkt zu fragen, ob sie verheiratet ist. »Ihr Mann kann also kochen?«

»Nein«, antwortet sie lachend. »Das kann er nicht.«

Er wiegt die Tomaten in den Händen. Sie geben dem leichten Druck seiner Berührung ein wenig nach; die tiefrote Haut zeigt winzige Fältchen der Überreife. Zufrieden übergießt er sie mit kochendem Wasser, wartet einen Moment, bis die Haut platzt, um sie dann zu häuten und zu hacken. Er gibt sie in die Pfanne, in der bereits gepresster Knoblauch und feingehackte Zwiebeln schmoren und die Küche mit einem Aroma erfüllen, das Estelle augenblicklich hungrig macht. Sie sieht zu, wie die frischen Tomatenstücke in der Pfanne schmurgeln und sich mit den glasigen Zwiebeln mischen.

»Was kann ich tun?«, fragte Estelle.

»Sie können den Parmesan reiben.« Er reicht ihr ein großes Stück Käse mit grobem Anschnitt und kräftigem Duft.

Sie schnuppert daran. »Mein Gott, wie köstlich. Und ich dachte, er käme fertig gerieben aus der Kuh …«

»Schämen Sie sich!«, erwidert er. »Hier.« Er schneidet ein Stück Käse ab und bietet es ihr an. »Kosten Sie.«

Sie nimmt es vorsichtig und steckt es in den Mund.

Dann ergreift er ihr Glas Wein. »Und nun trinken Sie einen Schluck dazu.«

Sie ist sich der Berührung ihrer Hände nur zu bewusst, als er ihr das Glas reicht. Der Käse schmeckt kräftig und würzig, mit Aromanuancen, die anders sind als alles, was sie je zuvor gekostet hat. Er wendet sich ab, als wolle er ihr Zeit und Raum geben, die Kostprobe zu genießen, und wäscht Basilikumblätter unter dem Wasserhahn. Der Wein legt sich weich über den Nachgeschmack des Parmesans in ihrem Mund, vertieft ihn und rundet ihn ab. Sie widersteht der Versuchung, die Augen zu schließen, um sich auf die übrigen Sinne zu konzentrieren, und sieht stattdessen zu, wie er das Basilikum zerpflückt und in die Sauce gibt. Er hält inne und hält ihr eine Handvoll Blättchen unter die Nase. Sie riecht daran und lächelt, bestätigt das Aufsteigen des Kräuterduftes. Sie sieht zu, wie er fortfährt und sich über die Pfanne beugt, trinkt einen weiteren Schluck Wein und ist dankbar, einen Moment für sich zu haben, um die Entdeckungen, die sie den ganzen Morgen über gemacht hat, auf sich wirken zu lassen.

Sie beginnen ihr Mahl mit gedünstetem Spargel. Sie essen mit den Fingern, nehmen die Stangen behutsam auf und tunken sie in die zerlassene Butter.

»Ich glaube, ich bin noch nie zuvor jemandem begegnet, dem Essen so viel bedeutet wie Ihnen, Alexander.«

»Es sind nur frische, einfache Zutaten«, sagt er. »In Russland war ich an fades Essen gewöhnt, zumindest zeitweise, aber hier gibt es keine Entschuldigung dafür. Und ich hatte Glück. Meinen ersten Job hier in Amerika fand ich im Lebensmittelladen meines Schwagers. Ich hatte also den ganzen Tag mit Nahrungsmitteln zu tun.«

»Dann haben Sie also wirklich mit nichts angefangen?«

Mit weniger als nichts, dachte er. Kein Geld und keine Aussichten waren noch das Geringste. Ein Herz, so tot wie ein vom Feuerbrand befallener Baum, war schwerer zu verwinden. »Ja«, antwortet er.

Sie sieht ihn mit durchdringendem Blick an, aber er will den Kummer in seinen Augen nicht in Worte fassen.

»Ich erinnere mich noch genau daran – bis heute«, fährt er fort. »Als Russe hatte ich noch nie so viel zu essen gesehen. So viele frische Lebensmittel. So viele wundervolle Brot- und Käsesorten und so viel Obst und Fleisch auf einmal. Sicher, im Vergleich zu den Feinkostläden und Supermärkten von heute war das gar nichts, aber damals … Ich dachte damals, wir hätten einfach alles. Mehl und Zucker kamen in großen Säcken und wurden in Papiertüten abgewogen.«

»Daran kann ich mich auch noch erinnern.« Estelle lächelt.

»Nach einiger Zeit habe ich angefangen, im Laden zu backen. Kuchen, Torten, Gebäck. Wir haben alles stückweise verkauft.«

Nach und nach hatten sie weitere Gerichte hinzugefügt –Fleischpasteten mit knuspriger Kruste, gehaltvolle Linsensuppen. Die Angestellten aus den umliegenden Geschäften und Büros fingen an, bei ihnen zu Mittag zu essen, und Alexander beobachtete sie von der Küche im hinteren Teil des Ladens aus und registrierte das Lächeln einer Verkäuferin, wenn ihr das Suppenaroma in die Nase stieg, oder den alten Mann, der nicht warten konnte, bis er draußen war, sondern noch im Laden genüsslich in seine Pastete biss.

»Von da an nahm es seinen natürlichen Lauf«, fährt er mit einem ironischen Lächeln fort, »und ich landete bei Catering und Canapés.« Er sprenkelt geriebenen Käse auf die heiße Pasta und trägt sie zum Tisch.

»Wer waren Ihre Kunden?«

»Überwiegend gutbetuchte Frauen. Viele Familien aus Beacon Hill.«

»Da habe ich auch mal gewohnt.«

»Tatsächlich?«

Sie macht eine wegwerfende Geste. »Das ist sehr lange her.«

Er beobachtet sie. Er kann nicht anders – sie hat etwas an sich, das ihn zwingt, sie anzusehen, selbst wenn sie schweigt. Er mustert ihr Gesicht – die hohen Wangenknochen sind klar konturiert, aber mit dem Alter ein wenig runder geworden. Ihre Augen sind von einem ungewöhnlichen Hellblau, so lebendig, dass sie knistern wie Neon. Das ist ihm schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen. Er hatte sie für einige Minuten in sein Büro gebeten, damit sie dort auf ihre Tochter warten konnte. Melissa war noch im Konferenzraum gewesen, wo die zähen Verhandlungen um die Bedingungen, zu denen sie seine Firma übernehmen würde, noch im Gange waren. Er hatte Estelle auf Anhieb gemocht. Ihre Unterhaltung war über den Austausch von Höflichkeiten nicht hinausgegangen, aber ihre rasche Auffassungsgabe, der ironische Unterton ihrer Antworten ließen auf eine lebhafte Persönlichkeit schließen, ein Eindruck, der von ihren ungewöhnlichen Augen unterstrichen wurde. Melissas Augen hingegen sind grau, vielleicht nach ihrem Vater. Er sucht in Estelles Gesicht nach dem kühlen, unergründlichen Ausdruck ihrer Tochter, findet jedoch keine Spur davon.

»Was ist?«

»Ich habe versucht herauszufinden, ob Melissa Ähnlichkeit mit Ihnen hat.«

Estelle zuckt die Achseln. »Keine große. Sie hat vielleicht meine Nase, aber der Rest kommt nach ihrem Vater.«

Die Pasta ist, wie alles, das sie bisher gekostet hat, eine Offenbarung. Die Bissfestigkeit der Penne unter der süßen, aromatischen Tomatensauce. Die Ausgewogenheit von frischem Basilikum und sämigem kräftigem Parmesan. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und kommt sich beinahe unanständig vor, so überwältigt ist sie von dem satten Genuss. Sie nimmt noch eine weitere köstliche Gabel voll, als Alexander sie fragt, ob sie je einen Beruf ausgeübt habe. »Erst als ich Mitte zwanzig war. Ich hatte es nicht nötig zu arbeiten. Mein Vater war wohlhabend, und damals war das nicht üblich. Man wartete einfach darauf zu heiraten.«

»Und das haben Sie dann getan?«

»Nicht gleich, nein.« Mit einem Stück frischer Brotkruste tunkt sie die restliche Sauce auf ihrem Teller auf. »All diese jungen Harvard-Absolventen, die zu uns zu Besuch kamen …« Bei der Erinnerung verzieht sie das Gesicht.

»Also haben Sie angefangen zu arbeiten?«

»Ja, zum Entsetzen meines Vaters. Ich hielt es nicht mehr aus, herumzusitzen und Tee zu trinken und mich für Dinnerpartys zurechtzumachen. Also habe ich mir eine Stelle besorgt. Weiß Gott, wie mir das gelungen ist. Ich konnte weder Maschineschreiben noch ein Diktat aufnehmen … Ich konnte nichts von all den Dingen, die junge Frauen damals brauchten, um Arbeit zu finden, obwohl ich ziemlich schnell gelernt habe. Ich habe an der Universität von Boston gearbeitet. Als Sekretärin für verschiedene Professoren. Die meisten im Fachbereich Anglistik.«

»Warum im Fachbereich Anglistik?«, wirft er ein.

Sie zögert. »Ich glaube, weil ich Bücher schon immer geliebt habe. Ihren Geruch, das Gefühl, über ihre Seiten zu streichen, die Vorstellung, dass ganze Welten, in die ich nie zuvor eingetaucht war, zwischen ihren Seiten enthalten wären. Ab und zu hatte ich einen Aufsatz oder einen Artikel zu tippen und las etwas vollkommen Unerwartetes über ein Buch, das ich kannte. Oder zu kennen meinte. Wegen dieser Aufsätze habe ich viele Romanklassiker ein weiteres Mal gelesen.«

»Wann haben Sie aufgehört zu arbeiten?«

»Nach meiner Heirat. Mein Mann war der letzte Professor, für den ich gearbeitet habe. Irgendwann war er ständig auf Reisen, und er wollte mich dabeihaben.«

»Hätten Sie es vorgezogen weiterzuarbeiten?«

»O nein.« Sie lacht und spürt eine Wärme in den Wangen, die hoffentlich nicht zu sehen ist. »Damals nicht. Ich war dermaßen verliebt in ihn. Ich konnte den Gedanken, von ihm getrennt zu sein, nicht ertragen. Außerdem habe ich ihm noch eine ganze Weile bei seiner Forschung geholfen und seine Texte für ihn getippt … Und dann kam Melissa, und ich habe aufgehört zu arbeiten. Als sie älter war, habe ich wieder angefangen, ein bisschen für ihn zu lesen und zu tippen, was ich bis heute tue. Es war ein ganz gewöhnliches Leben.«

»Keineswegs. Sie hätten gleich nach dem College einen passenden vielversprechenden jungen Mann heiraten können. Stattdessen haben Sie gearbeitet, was damals, wie Sie sagen, nicht selbstverständlich war, und am Ende haben Sie einen Professor geheiratet. Ich vermute, aus Leidenschaft, nicht um gut versorgt zu sein. Klingt, als hätten Sie sich keineswegs an die gesellschaftlichen Regeln gehalten.«

Estelle errötet. Es macht sie verlegen, dass sein Interesse an ihr groß genug ist, um ihr Leben auf diese Weise zu deuten. Gleichzeitig freut sie sich darüber. Sie selbst hat ihre Entscheidungen nie in dem unkonventionellen Licht betrachtet, das er darauf geworfen hat.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Schreiben.«

»Ach, das«, sagt sie, und zum ersten Mal bemerkt er eine gewisse Schüchternheit bei ihr. »Ich bin nichts als eine aufstrebende Romanschreiberin. Auf der Suche nach einer wirklich interessanten Hauptfigur.«

»Ich dachte, Autoren wären immer auf der Suche nach einem guten Stoff, einem guten Thema.«

»O nein«, erwidert sie, diesmal mit einer gewissen Überzeugung. »Die Themen sind fast immer dieselben, meinen Sie nicht? Liebe, Leidenschaft, Tod, Verrat.«

Sie nimmt das winzige Zögern wahr und fragt sich, ob sie etwas Falsches gesagt hat, aber dann blickt er auf und lächelt zustimmend.

Sie kehren ins Wohnzimmer zurück, nehmen in tiefen weichen Ledersesseln Platz, jeder ein zweites Glas Wein neben sich, und Estelle überlegt, wie sie das Gespräch wieder auf sein Leben in Russland lenken kann. Er hat sie während des Essens mit freundlichen Fragen bombardiert, aber irgendetwas in seinem Blick oder seiner Haltung lässt sie zögern, es ihm gleichzutun. Schließlich weist sie auf das Foto auf dem Flügel. »Ihre Frau war sehr schön.«

»Finden Sie?«

»Finden Sie nicht? Diese lebendigen Augen.«

»Ich bin in meinem ganzen Leben nie wieder jemandem wie ihr begegnet.«

Er wendet sich – wie günstig, denkt sie – der Dessertplatte zu, auf der sich ein Rest aufgebackener Aprikosenkuchen vom Vortag befindet.

»Sie sieht sehr glücklich aus. Auf dem Foto.«

War sie glücklich gewesen? Er überlegt. Vielleicht, zeitweise. Aber bei Katja war Glück kein anhaltender Zustand gewesen. Es war mehr ein flüchtiges Gefühl gewesen, eine Folge von kleinen Fluchten aus der Welt, in der sie lebte. »Ihr Leben war ziemlich schwierig«, sagt er unverbindlich. Mag sein Gast, die aufstrebende Romanautorin, auch auf der Suche nach einer interessanten Hauptfigur sein – er fühlt sich nicht verpflichtet, sie ihr zu liefern. Er schneidet zwei großzügig bemessene Stücke Kuchen ab.

»Ich sollte wohl an meine Figur denken und höflich ablehnen«, sagt Estelle, »aber in meinem Alter – was soll’s?« Sie dankt ihm und nimmt wieder Platz, den Teller auf den Knien balancierend. »Sie sprachen gerade von Ihrer Frau …«

»Katja. Ja. Wir sind in den letzten Jahren von Stalins Herrschaft aufgewachsen, wissen Sie. Er starb dreiundfünfzig. Es gab heftige innerparteiliche Kämpfe, viele wollten das Sagen haben, aber Ende der fünfziger Jahre kam Chruschtschow an die Macht.« Wohl wahr, wenn es auch nicht viel besagt, ein Ablenkungsmanöver, um den Fokus zu verschieben.

Estelle beugt sich interessiert vor. »Erzählen Sie mir von Stalins Gewaltherrschaft. War das nicht die Zeit, als Tausende von Menschen verhaftet und ermordet wurden?«

»Als die Wellen der Verhaftungen vorüber waren, ging es in die Millionen. Zig Millionen sogar, wenn man die Menschen mitrechnet, die auf dem Land verhungert sind. Vollkommen unnötig, nach politischen Vorgaben mit entsetzlichen Auswirkungen.«

»Aber aus welchem Grund?«

Alexander schüttelt den Kopf. »Das ist ja das Schreckliche. Es gab keinen wirklichen Grund. Verfolgungswahn vielleicht. Der Wunsch, Macht und Kontrolle um jeden Preis zu erhalten. Stalin war ein grausamer Mann, und er regierte mit Hilfe von Angst. Wer sich ihm widersetzte, starb. Unter solchen Umständen widersetzen sich die wenigsten.«

»Aber wenn so viele Menschen sterben, wenn so viele ohne Grund ihre Familie verlieren … Hat das die Menschen nicht aufgestachelt, sich zur Wehr zu setzen?«

Alexander überlegt. Seine Augen sind fast geschlossen, so sehr bemüht er sich, sich in die damalige Zeit zurückzuversetzen. Er war noch ein Kind gewesen, in den schlimmsten Jahren zumindest. Warum hatten die Menschen sich nicht zur Wehr gesetzt? Wie viel Leid muss ein Volk erdulden, bevor es revoltiert? Diejenigen, die sich zur Wehr setzten, und viele, die es nicht taten, wurden ins Gefängnis gesteckt, gefoltert, getötet. So oder so. Er wendet den Kopf ab.

»Ist es ihr so ergangen?«

»Katja? Nicht direkt. Wir waren noch Kinder, als Stalin an der Macht war. Chruschtschow war schon anders. Auch er machte, was er wollte, aber er legte nicht diese Willkür an den Tag. Es war möglich, Kritik zu äußern. Zumindest in gewissem Maße.«

Er steht auf unter dem Vorwand, Wein nachschenken zu wollen. Plötzlich kommt ihm die Langeweile der Geschäftsverhandlungen, aus denen er geflohen ist, tröstlich und ungefährlich vor. Seine Bewegungen sind sorgsam und gemessen, er spielt auf Zeit. Zeit, das Gleichgewicht zurückzugewinnen, in die Gegenwart zurückzufinden, fort von dem Ort, an dem Katjas Name wie von selbst auftaucht und viel zu häufig.

»Darf ich fragen, wann Ihre Frau gestorben ist?«

»Neunzehnhundertneunundfünfzig.«

»Ah. Das ist wirklich sehr lange her.«

»Sie war sehr jung. Wir waren sehr jung.«

»Haben Sie Kinder?«

Er schüttelt den Kopf.

»Bedauern Sie das?«

»Ich bedauere nichts. Nicht das Geringste.« Er lächelt, und sie sieht, dass sein Lächeln nur seine Lüge kaschiert.

Er setzt sich wieder. Er erinnert sich, wie er nachts neben seiner Frau gelegen hat, eingehüllt in die Dunkelheit, die nicht vom Licht der Straßenlaternen durchbrochen wurde, und sich ihr Kind vorstellte – ihr Baby –, und wie er begann, diese Vorstellung zu lieben, fast so, als hätte es tatsächlich existiert.

Er befürchtet, dass sie ihn fragen wird, was geschehen ist. Warum Katja gestorben ist. Selbst nach all diesen Jahrzehnten hat er noch keinen Weg gefunden, keine schlichte, dezente Weise, in beschönigenden Worten zu erklären, was ihr widerfahren ist. Es wäre um vieles einfacher, könnte er einen annehmbaren Grund anführen. Eine Krankheit, einen tragischen Unfall. Aber er weiß immer noch nicht, was man sagt, wenn es weder das eine noch das andere war.

Estelle ist im Begriff, ihn zu fragen, wie er und Katja sich kennengelernt haben, als sie seine fahrigen Bewegungen bemerkt und wie seine Augen ihren Blick meiden. Sie lehnt sich in ihren Sessel zurück. Es tut ihr leid, dass sie das Thema so beharrlich verfolgt hat. Es ist unhöflich von ihr, ihn als Gast in seinem Haus in Unbehagen zu versetzen. Sie überlegt noch, wie sie das Thema wechseln kann, als er das Wort ergreift.

»Es ist komisch«, sagt er. »Obwohl es so lange her ist, erinnere ich mich manchmal immer noch daran, wie ich mich in den ersten Wochen, nachdem ich Katja kennengelernt hatte, gefühlt habe. An die Aufregung, den Taumel, die süße Qual, jemandem begegnet zu sein, dessen Existenz man nie für möglich gehalten hätte. Es ist wundervoll, jemanden von Herzen zu lieben.« Er hebt den Kopf. »Das ist das, woran ich mich am besten erinnere, wenn ich an Katja denke: wie sehr ich sie geliebt habe.«

Das zumindest stimmt, denkt er. Alles andere, den Verrat, die Albträume, das böse Erwachen, die Schuldgefühle, all das hat er im Laufe der Jahre beiseite gepackt, in den hintersten Winkel seines Geistes verbannt. Kein Bedauern. Nicht das geringste.

KAPITEL 2

Moskau, März 1956

Es ist warm und voll in dem Raum. Die meisten von ihnen sind jung, ungefähr in seinem Alter, und ihr Stimmengewirr erfüllt die abblätternden hohen Wölbungen der Decke über ihren Köpfen. Da sind Lichter und Lachen und Gläser, die beim Anstoßen wie Musik klingen; ein unvertrautes Gefühl von Überfluss, ja Dekadenz, das an diesem Abend in gewissen Momenten eine willkommene Illusion erzeugt. In gewissen Momenten, aus gewissen Blickwinkeln, die Augen halb geschlossen, sieht er, dass der lange schmale Raum in dieser Wohnung, die Mischas Freunden gehört, ein wenig von der Eleganz und dem Leben zurückgewonnen hat, die ihn in einer anderen, einer vorrevolutionären Zeit vielleicht sehr oft erfüllt haben.

In seinem Rücken befindet sich ein kleines Fenster, und als er unter seiner Jacke einen kalten Luftzug spürt, dreht er sich um, und der unwirkliche Glanz des Schnees, der die Düsternis draußen erhellt, weckt seine Aufmerksamkeit und lässt ihn genauer hinschauen. Unten auf der Straße sieht er einen kleinen Jungen und eine alte Frau. Beide tragen große Bündel auf dem Rücken. Beide sehen klein und zerbrechlich aus unter ihrer Last, und er beobachtet sie wohl eine Minute, bis sie um die Ecke des Gebäudes biegen und aus seinem Blickfeld verschwinden. Vermutlich tragen sie Holz nach Hause, um ihre Wohnung zu heizen. Oder ihr Zimmer. Er sieht auf die Uhr. Es ist zehn.

Es wird heiß auf der Party. Alexander schiebt einen Finger unter Kragen und Krawatte und fährt an seinem schlanken Hals entlang.

»Du siehst aus wie ein Regierungsbeamter«, hatte Mischa mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus zu ihm gesagt, als er ihn abholte. »Hast du keine legere Kleidung? Wir gehen doch nicht zu einer Cocktailparty deines Außenministeriums.«

»Ich komme direkt von der Arbeit«, hatte Alexanders knappe Antwort gelautet, bevor er den Spott in Mischas Augen entdeckte. Dann hatte er gelacht. »Arbeiten wir letzten Endes nicht alle für die Regierung?«

Ein leichter Rauchschleier schwebt nach oben, angezogen von den gleißenden provisorischen Lampen, die in den Zimmerecken angebracht sind, und er beobachtet Mischa, der ihm gegenübersteht, wie er redet, auf seine eigenen Worte konzentriert und dann auf das, was die Umstehenden erwidern. Ein aufgeregtes Stimmengewirr herrscht im Raum, denn die ersten Einzelheiten von Chruschtschows Geheimrede sind in Moskau durchgesickert, sind durch die Ritzen in den Bürofenstern gekrochen, sind in Wohnungen gedrungen, in denen Nachbarn durch die dünnen Wände mitangehörte Bemerkungen weitererzählt haben. Die Rede war auf dem XX. Parteitag unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten worden, aber Alexander freut sich, dass die Menschen im Land von der schonungslosen schockierenden Anklage ihres neuen Staatsoberhaupts gegen seinen Vorgänger Stalin erfahren. Das Gefühl von Offenheit, von Freiheit, das in den vergangenen Wochen einige von ihnen auf der Arbeit beschwingt hat, wird sich bald auch auf andere übertragen. Wie kann das schlecht sein?

Mischa wendet sich ihm zu, als hätte er die Gedanken seines Freundes gelesen. »Und was hältst du von der mutigen Rede des Genossen Chruschtschow, mein Freund? Dass dieser ›Personenkult‹ sich nie wiederholen dürfe?«

Er zieht an seiner Zigarette, bevor er fortfährt. »Dass der alte Stalin nichts als ein übellauniger, blutrünstiger Schlächter war?« Mischa lächelt dünn, legt den Kopf in den Nacken und stößt einen langen Rauchstreifen aus.

Alexander raucht nicht. Als Heranwachsender hat er geraucht, aber als junger Mann stört ihn der zurückbleibende Geschmack von Teer, der hartnäckige Geruch von Rauch in seiner Kleidung. »Ich glaube, es wird auch Zeit«, erwidert Alexander. »Die Menschen werden sehen, dass sich die Dinge jetzt ändern. Grundlegend ändern.«

Mischa klopft ihm auf den Rücken. »Du bist ein solcher Idealist, Sascha.« Wieder lächelt er, aber sein Lächeln ist gezwungen, und als er weiterspricht, ist seine Stimme so leise, dass niemand außer Alexander ihn versteht. »Hast du vergessen, dass unser geliebter Erster Sekretär Nikita Sergejewitsch während des Terrors die ganze Zeit dabei war und mitgemacht hat?« Der leise Tonfall ist eine Vorsichtsmaßnahme, die hier nicht nötig sein mag, aber Mischa kann sich, wie sie alle, nur schwer daran gewöhnen, laut zu sprechen, wenn von gewissen Themen die Rede ist.

Alexander zuckt die Achseln, wie um zu sagen: »Du hast mich schließlich gefragt«, und Mischa lacht. Jetzt lächeln auch seine Augen, nicht nur sein Mund: Er sieht glücklich aus.

»Spürst du den Wandel denn nicht, Mischa? Auf Regierungsebene, bei den Menschen, in der Luft? Es gibt Hoffnung. Vielleicht wird das Sowjetsystem jetzt so funktionieren, wie es sollte – wie es funktionieren kann. Und was immer er in der Vergangenheit getan haben mag, zumindest versucht er jetzt, all das zu ändern.«

»Aber kommen die Menschen mit dem Wandel klar? Die meisten von ihnen verehren den alten Mann immer noch – jetzt wo er tot ist, mehr denn je.«

»Für sie war er eben einfach unsterblich. Obwohl er ihnen die Männer, die Väter und Familien genommen hat, war Stalin ihr Gott, den sie angebetet und dem sie sich gefügt haben. Er selbst hat sich ja entsprechend stilisiert und sich jeglicher Kritik entzogen. Chruschtschow ist anders, das sieht man. Er versteht die Menschen. Jetzt wird alles anders«, sagt Alexander schlicht.

»Vielleicht. Vielleicht wird jetzt alles anders. Vielleicht spüre ich es tatsächlich.« Mischa hebt die Hände über den Kopf und deklamiert: »Hoffnung! Freiheit! Wahrheit!« Einige angetrunkene Gäste um ihn herum applaudieren, bevor sie sich wieder ihren Gläsern zuwenden. Er holt tief Luft und trinkt einen Schluck. »Ach, ich habe hart an dieser zynischen Maske gearbeitet, Sascha. Es wird mir leid tun, sie einfach so fallenzulassen. Zwing mich nicht dazu, es jetzt gleich zu tun.«

Alexander lächelt seinen Freund an. Er kann sich nicht an einen Mischa ohne die Maske des Zynikers erinnern – nicht einmal als sie noch Schuljungen waren. Schon als Jugendlicher hatte er sie stets sorgsam kultiviert, und in den Augen seiner Freunde verlieh sie ihm damals eine gewisse Reife. Selbst heute noch sichert sie ihm, zusammen mit seinem außerordentlich guten Aussehen, die Aufmerksamkeit einer Menge Frauen. Alexander dreht sich um, denn Mischas Blick gleitet über seine Schulter hinweg. Zwei junge Frauen stehen hinter ihm. Er tritt beiseite und erlaubt seinem Freund, sein Glück bei ihnen zu versuchen. Er selbst lässt den Blick durch den Raum schweifen, während Mischa und die beiden Frauen ins Gespräch kommen.

In einer Ecke des Raumes tanzen einige Paare zu der Musik dreier Männer, die eng beieinandersitzen, die Stirn konzentriert in Falten gelegt, mit wiegenden Köpfen, während die Finger alte überlieferte Weisen auf einer Gitarre, einer Fiedel, einer kleinen Flöte spielen. Die Musik ist schneller geworden im Laufe des Abends, sie hat langsam an Tempo gewonnen und besitzt jetzt einen Rhythmus, der mitreißt und ansteckend ist. Alexander bemerkt, dass fast alle Anwesenden im Takt der Musik mit dem Fuß wippen oder mit den Fingern schnippen, um das Fehlen von Schlagzeug oder Tamburin wettzumachen. Als sein Blick zu Mischa zurückkehrt, fällt ihm etwas ins Auge, und er sieht genauer hin.

Sie sitzt mit zwei weiteren jungen Frauen auf einigen Stühlen, die willkürlich an den Wänden aufgestellt sind. Alexander mustert sie aufmerksam – er versucht zu ergründen, warum sein Blick an ihr hängengeblieben ist. Sie ist wunderschön, gewiss, aber da ist noch etwas anderes, vielleicht die stolze Haltung von Kopf und Schultern, die sie von den Frauen um sie herum unterscheidet. Sie unterhält sich angeregt, erzählt einen Witz oder eine Geschichte, und ihre Freundinnen lachen, und sie lacht ebenfalls, aber ihr Lachen ist kontrolliert – sie beobachtet gleichzeitig die Reaktion ihrer Zuhörerinnen. Er bemüht sich, ihre Stimme herauszuhören, aber er ist zu weit weg, und die Menschen um ihn herum sind zu laut. Er blickt sich um, mit dem Ausdruck eines Menschen, der soeben erwacht ist, und er merkt, dass er nicht weiß, wie lange er sie angestarrt hat. Jetzt tritt ein junger Mann zu ihr und spricht mit ihr; er versucht sein Glück und nimmt Alexander die Sicht.

»Sascha! Wo bist du in Gedanken? Komm, wir holen uns noch was zu trinken.« Mischa klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter und folgt seinem Blick quer durch den Raum, um zu sehen, welcher Anblick seinen Freund in eine Statue verwandelt hat. »Die Blonde?«, fragt er verwundert. Er kennt niemanden, der, was Frauen anbelangt, so wählerisch ist wie sein bester Freund, und diese junge Frau sieht aus wie viele andere, die Alexander unweigerlich abweisen würde.