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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Astrid Wenke

Eine Milliarde für Süderlenau

Roman

K+S digital

Für meine liebe Mutter

 

 

 

Der Wille einer einzelnen Frau gegen die rollenden Räder der rasenden Maschinerie – so war das gewesen.

Ich saß mit Silvia am Bahnhofsvorplatz von Süderlenau auf der Terrasse unseres Stammcafés ATEMPAUSE, als es mit einem Mal gewaltig kreischte und quietschte. Aufstöhnend presste ich die Hände auf die Ohren. Lärm ist mir eine Qual.

Der Zug, der mit seiner Vollbremsung die Geräusche verursachte, kam allmählich hinter dem Bahnhofsgebäude zum Stehen. Die runde Schnauze und einige Waggons in Fahrtrichtung lugten dahinter hervor – putzig, als wäre er ein lebendes Wesen, das versuchte, sich zu verstecken und der verdienten Strafe zu entgehen: Es war nicht vorgesehen, dass ein ICE in unserem unbedeutenden Süderlenau hielt.

Ich freute mich an dem Bild des ebenso aufsässigen wie beschämten Fahrzeugs. Auf meinem Milchkaffee lag noch Schaum, und während ich genüsslich löffelte, grinste ich in mich hinein.

»Jemand muss die Notbremse gezogen haben«, schlussfolgerte Silvia, der die Vorstellung eines ICEs mit freiem Willen fremd war. Nicht zum ersten Mal staunte ich, wie anders sich die Welt von ihrer nüchternen Warte her betrachtet darstellte, aber natürlich hatte sie recht. Wie immer.

Am Nebentisch hörte ich Britta reden. Sie hatte diese stählerne Stimme, die ich aus Millionen herausgehört hätte. Britta und ich kannten uns, solange ich denken konnte, auch wenn wir beide taten, als kennten wir uns nicht. Wir hatten uns wie üblich nicht gegrüßt, doch nun horchte ich, was sie zu sagen hatte.

»Wie sie es angekündigt hat. 11.23 Uhr!«

Es war eine abrupte und gnadenlose Konfrontation mit der Uhrzeit. Überhaupt ist Britta eine gnadenlose Person. Ich spürte Mutlosigkeit mein Blut verdicken, als würde jemand Grieß in kochende Milch einrühren: Nur noch zwanzig Minuten, dann ging es zurück in die Mühle.

Silvia hatte mir einmal erklärt, dass die Tretmühlen seit dem sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert in Armenhäusern eingesetzt worden waren, um das bürgerliche Leistungsprinzip in der Schicht der Bettler und Landstreicher durchzusetzen. In einem berüchtigten Arbeitshaus in Amsterdam, so Silvia, waren Arbeitsunwillige in einen Raum gesperrt worden, in den ein leichter steter Strom Wasser floss. Wer sich in diesem Raum nicht überwinden konnte, seinen adeligen Lebensstil abzulegen und unermüdlich das Rad zu treten, welches die Pumpe antrieb, ertrank.

Zugegeben, so schlimm stand es nicht um mich und meinen Arbeitsantrieb.

Ich lugte zu Silvia hinüber. Sie lebte noch jenseits der tickenden Uhr, schien Britta nicht gehört zu haben, wohl weil sie wie ein Luchs zum Bahnhof hinüberstarrte. Der ICE fuhr an, jaulte einmal klagend auf, bevor er sich routiniert säuselnd mit großer Geschwindigkeit entfernte. Währenddessen trat eine kleine Frau mit zögerlichen Schritten auf den Platz. Sie zog einen schwarzen Rollkoffer hinter sich her – neben ihr ein Bahnbeamter in Uniform, der in jeder Hand einen Koffer trug.

Mein Herz geriet ins Stolpern, nicht gefährlich, so hatte mir die Ärztin versichert, aber doch unangenehm und angsterregend drängten sich die Extraschläge, Extrasystolen, in seinen Rhythmus: Margot Krause war zurück!

»Dürrenmatt«, stellte Silvia fest, »Der Besuch der alten Dame.« Ich warf einen zweiten Blick hinüber zu dem Pärchen. Er hatte die Koffer abgestellt. Sie stand aufrecht, den Kopf erhoben, den Arm in seinen gehakt.

»Natürlich«, sagte ich, die Hand an mein Herz gepresst, »wie recht du hast.«

Ich war mir sicher, dass Margot die Situation genoss: war ein enormer Auftritt, das Ganze.

Britta erhob sich am Nebentisch.

»Das wird sie Tausende kosten«, bemerkte Wolfgang, der ebenfalls aufstand.

»Sie hat’s ja«, bügelte Britta ihn ab. »Ich frage mich allerdings, warum sie sich derart in Szene setzt, statt den Regionalzug zu nehmen, wie sonst. Sie hat etwas vor, dafür garantiere ich.«

Brittas flinke Beine transportierten ihren kompakten Körper zielstrebig über den Platz hinüber zu Margot, die dort stand, gelassen, so schien es, und mit nichts beschäftigt als zu atmen.

Es hat mich immer schon fasziniert, wie Britta sich bewegte – das genaue Gegenteil zu meiner Art, mich durchs Leben treiben zu lassen. Wolfgang folgte ihr wie gewöhnlich, groß, schlank, ruhig. Drüben Händedrücken. Wolfgang nahm die Koffer.

Nun fragte ich mich ebenfalls, was Margot zu uns trieb. Sie hatte sich seit Jahren nicht blicken lassen. So lange ich mich zurückerinnere, ist es so gewesen: Alle Jubeljahre tauchte Margot auf und versetzte die Stadt in helle Aufregung. Grund dafür war ihr Geld. Margot war reich, stinkreich, wie man so sagt. Bei jedem ihrer Besuche ließ sie einen guten Batzen ihres Vermögens in der Stadt, begleitet von genauen Anweisungen, was damit zu tun wäre.

Britta versuchte regelmäßig, das Geld in die von ihr gewünschten Kanäle zu lenken. Sie mochte Margot nicht, verabscheute sie geradezu. Oft genug hatte ich sie mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln über ›die Alte‹ herziehen hören. Trotzdem hofierte Britta Margot, holte sie wie heute von der Bahn ab, um sie zu Margots Süderlenauer Wohnung chauffieren zu lassen. Silvia zuckte die Achseln, wenn ich mich darüber ereiferte. Das sei eben die Macht des Geldes. Mag sein, aber warum spielte Margot mit? Warum informierte sie von allen Menschen in Süderlenau ausgerechnet Britta über ihre Besuchspläne? Das kratzte an mir. Ich hatte zuweilen richtige Striemen an den Unterarmen. Silvia hatte versucht, mich zu beruhigen: Letzten Endes bliebe Margot unbestechlich; sie investierte ihr Geld, wie sie es für richtig hielte. Das stimmte allerdings. Margot unterstützte vor allem die Kunst und die Musik. Mir kam das entgegen, denn ich bin die Musiklehrerin von Süderlenau.

Die Liebe zur Musik ist wohl der Grund gewesen, weshalb es zwischen Margot und mir immer etwas Besonderes gegeben hat. Die Begegnungen mit Margot gehören zu meinen eindrücklichsten Kindheitserlebnissen. Wann immer sie sich in jenen Jahren in Süderlenau aufgehalten hat, hatte sie meine Schule besucht und mich aus dem Unterricht rufen lassen, um zu erfragen, wie das »musikalisch hochbegabte Kind« sich entwickelte.

»Man könnte meinen, sie fördere die Stadt nur deinetwegen«, meinte der Zahnarzt, der mein Vater war, und fragte mich: »Na, wie wäre das?«

Die Frau, die ich Mutter nannte, schnaubte verärgert und verließ geräuschvoll den Raum. Merkwürdig hatte ich das gefunden und verwirrend.

Auch an jenem Tag, an dem der ICE in Süderlenau hielt, war ich mir gewiss, dass Margot mir in den folgenden Tagen noch einmal und wie zufällig über den Weg laufen würde. Sie würde stehenbleiben und mir Fragen stellen. Sie würde mich ansehen und mir zuhören mit einem Interesse und einer Anteilnahme, die ich sonst nirgends erfuhr.

Ich saß in der Sonne eines warmen Herbsttages neben meiner Freundin Silvia im Café ATEMPAUSE, senkte den Kopf in beide Hände, legte ihn schief und ließ das Glück in meinen Körper. Ich lächelte.

Inzwischen hatte Wolfgang Margots Gepäck im Kofferraum einer Taxe verstaut. Formvollendet öffnete er die Beifahrertür, um die alte Dame einsteigen zu lassen. Dann duckte er sich zu Britta auf die Rückbank. Der Fahrer war derweil auf seinem Sitz kleben geblieben. Jedenfalls hatten wir nichts von ihm zu sehen bekommen. Ich stellte mir vor, wie er nun, während er die Kupplung kommen ließ, mürrisch Mund und Stirn verzog. Der Wagen wendete, fuhr wenig später an uns vorüber, und für einen Moment trafen mich Margots Augen, nachdenklich und interessiert, um mir gleich darauf zu entgleiten; die Taxe brauste weiter, nur noch die Hinterköpfe der Insassen waren zu sehen.

»Dieser Altersunterschied!«

Unter Silvias schriller Stimme zersprang das Bild von Margots ruhigem Blick.

Wenn nur diese Stimme nicht wäre – das hatte ich schon oft gedacht in dem Vierteljahrhundert, das ich mit Silvia befreundet war.

»Das kann auf Dauer nicht gutgehen.«

Dieses Gespräch gehörte zu unserem eingeübten Repertoire, zu dem ich widerwillig und gelangweilt meinen Text lieferte: »Immerhin sind sie seit vierzehn Jahren verheiratet.«

»Trotzdem – er sieht zu gut aus für sie.«

»Solange Britta Firmeneigentümerin ist und das Geschäft gut läuft, wird er bei ihr bleiben.«

Die Worte verließen ohne mein Zutun meinen Mund. Ich fragte mich zum wiederholten Male, was Silvia an der Ehe dieser Leute interessierte.

»Die Firma!« Silvia lachte auf. »Du solltest endlich anfangen, Zeitung zu lesen.«

Irritiert holte ich meine Augen aus der Ferne zurück und stellte auf Silvia scharf, die so unerwartet aus unserem üblichen Gesprächsverlauf ausgebrochen war.

»Novacrem steht vor dem Aus.«

Vergnügt nahm Silvia einen Schluck aus ihrer Tasse. Dann verzog sie den Mund und fügte hinzu: »Das behauptet zumindest Britta. Sie überlegt, das Werksgelände zu verkaufen und die Firma an einen anderen Ort zu verlegen, wo Arbeitskräfte billiger zu haben sind. Allerdings frage ich mich, warum sie öffentlich darüber räsoniert, statt es zu tun.«

»Novacrem verlässt Süderlenau!«

Silvia hörte das Entsetzen in meiner Stimme.

»Dich schockiert das. Das hätte ich mir denken können! Mach dir keine Sorgen, Katharina. Vermutlich handelt es sich um einen der Schachzüge von Britta, mit denen sie die Stadt unter Druck setzt.

Übrigens findet am Samstag eine große Kundgebung statt. ›Novacrem muss bleiben!‹ Die ganze Stadt ist aus dem Häuschen. Du solltest hingehen.«

Missbilligend sah sie mich an.

Silvia litt geradezu verzweifelt an dem Unrecht auf der Erde und an den Grausamkeiten der Menschen. Wenn Silvias Welt ein Puzzle war, so war »Gewalt« das Teilchen, das sich beim besten Willen nirgends einfügen ließ. Sie hatte früh vor der furchtbaren Frage gestanden, ob das Bild einer wahrhaft menschlichen, einer gewaltfreien Gesellschaft, wie sie es sich zum Trost erschaffen hatte, tatsächlich unmenschlich war, da es die Möglichkeiten der Menschen überstieg. Allerorten stellten Verbrechen gegen die Menschlichkeit Silvias Hoffnung in Frage, summierten sich zu der Behauptung, das Gewalttätige, die Verachtung und Erniedrigung von Menschen müsse als Bestandteil des Menschseins angenommen werden.

Um diesen Konflikt zu lösen, das hatte Silvia mir vor langer Zeit anvertraut, hatte sie Geschichte studiert. Irgendwo dort, zwischen den Ruinen untergegangener Städte, unter den Werkzeugen und Waffen aus Bronze und Stein, unter Moorleichen und den Skeletten von Wollnashörnern und Mammuts hoffte sie Klarheit zu finden über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer Gattung. Inbegriff des Unmenschlichen war ihr die Fabrik in Süderlenau geworden.

Eben zu der Zeit, als Silvia vierundzwanzigjährig nach Süderlenau kam, um an der hiesigen Gesamtschule ihr Referendariat anzutreten, war Novacrem in die Schlagzeilen geraten. Das Mittel, um das es anno dazumal ging, hieß Fairytale, ein Hautaufheller, den Novacrem auf dem afrikanischen Markt vertrieb. In einer massiven Werbekampagne hatte Novacrem die Möglichkeit, zu Wohlstand und Erfolg zu gelangen, mit der Aufhellung der afrikanischen Haut verknüpft und war mit dieser Strategie vor allem in den größeren Städten Afrikas erfolgreich gewesen.

Der Wirkstoff von Fairytale war Hydrochinon, das die Bildung von Melanin und damit ebenso das Dunkeln der Haut wie den Schutz vor der UV-Strahlung der Sonne unterdrückte. In der Presse waren bald kritische Berichte erschienen und Fotos veröffentlicht worden: Nach der Anwendung des Mittels waren bei vielen Menschen schwere Hautverbrennungen aufgetreten. Schon nach einem knappen Jahr stellten Statistiken einen Zusammenhang zwischen der Verwendung von Fairytale und dem Auftreten von Hautkrebs fest.

»Es war nicht der Arzneimittelskandal an sich, der mich empörte«, sagte Silvia stets an dieser Stelle ihres Vortrags. »Aber sie haben jeden Zusammenhang zwischen den Erkrankungen und ihrem Mittel abgestritten, haben ihre Kampagne fortgeführt, haben weiter verkauft und weiter verdient.«

Ich hatte mich damals mit den Grausamkeiten der Welt noch nicht beschäftigt und sagte nichts weiter als ›Hmh‹.

Silvia war eine Zugezogene. Sie konnte nicht begreifen, was Novacrem für die meisten von uns in Süderlenau bedeutete. Ich liebte diese Fabrik! Wenn es eine Verbindung von Süderlenau in die Welt gab, dann war es Novacrem. Sogar der Bahnhof war nur gebaut worden, weil Novacrem darauf bestanden hatte. Von Süderlenau fuhr die Bahn nach Klaschnitz, von dort zur Landeshauptstadt und von dort ging es weiter in die Welt, nach Hamburg, Köln, München und Berlin.

Vom Balkon der zahnärztlichen Familienwohnung, in der ich aufwuchs, sah ich direkt zur Fabrik hinüber. Gelegentlich stiegen Schwaden von Wasserdampf auf, und zuweilen wehte ein süßer Duft zu mir herüber. Ich war sicher, dass in jenem eckigen Backsteinbau mit dem Flachdach ungewöhnliche, geradezu zauberhafte Dinge vor sich gingen. Es gab kein anderes Flachdach in Süderlenau. Die Fabrik war eine Geheimschachtel. Es lockte mich, sie aufzureißen und ihr Geheimnis zu enthüllen.

Gewaltige Fenster, von geschmiedeten Verstrebungen in eine Vielzahl von Rechtecken zergliedert, verführten zum Spionieren. Vier dieser Fenster reichten bis nah an den Boden. Darüber durchbrach eine weitere Fensterreihe die rote Hausmauer. Zwischen den inneren und den seitlichen Fenstern des beinahe quadratischen Gebäudes waren lange Backsteine eingefügt worden, die hervortraten und sich als Schmuckband bis zur Oberkante der zweiten Fensterreihe hinaufzogen. Diese Steine nutzte ich als Leiter. Ich weiß noch, wie ich mich festkrallte, den Körper stets dicht an der Mauer. Meine Füße tasteten nach Halt. Ich stemmte mich hoch, bis ich den Stein, an dem ich klammerte, loslassen musste, um nach dem nächsten Vorsprung zu greifen.

Am gefährlichsten war es, wenn ich oben angekommen war. Dann musste ich mich seitlich hinüberlehnen und hielt mich nur noch mit einer Hand an einem herausragenden Ziegel fest. Mein Herz pochte in wilder Erregung. Angst hatte ich nicht, denn in jenen Zeiten war ich unsterblich. Wenn schließlich der Blick durch das Fenster gelang, lag tief unter mir die gewaltige Maschinerie: große eiserne Räder, Stangen und Kolben, lange Transportbänder, die durch die Halle liefen. Dazwischen standen mehrere silbern glänzende riesenhafte Behälter. Mittendrin schoben Menschen Lastkarren über den Betonfußboden der Halle oder hantierten an den Bändern. Wie unbedeutend sie schienen gegenüber der Macht der Gerätschaft!

Die Sahne auf der ganzen Szenerie war die Musik. Das Quieken, Brummen und Summen der Maschinen, ungeordnet, ein wildes Gerede, dann wieder im gemeinsamen Rhythmus, aus dem sich die Stimme mal der einen, mal der anderen Maschine hervorhob.

Natürlich konnte ich das Ganze ebenso gut auf festem Boden stehend durch die unteren Fenster betrachten. Dann hatte ich sogar die Hände frei, um die Spiegelung der Sonne abzuschirmen. Der wahre Genuss blieb jedoch der Blick von oben, in fünf Metern Höhe an der Hauswand hängend, erkauft mit Anstrengung und Gefahr.

Es war eine große Enttäuschung, als ich erfuhr, dass Britta, jenes große Mädchen, das ich auf dem Spielplatz traf und später auf dem Schulhof, die Tochter des Besitzers von Novacrem war. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass es eine Tochter des Besitzers geben könnte, aber wenn es sie gab, hätte sie eine Prinzessin sein müssen, zart und im rosa Kleid, umgeben von einem süßlichen Duft.

Britta war nichts davon, sie war grob und gemein und das insbesondere zu mir. Als ich in die Schule kam, sah ich sie gleich in meiner ersten Hofpause an einem Baum lehnen, als hätte sie auf mich gewartet. Ich weiß noch, wie ich sie vorsichtig anlächelte. Sie lächelte nicht zurück, sondern gab mir im Vorbeigehen einen kräftigen Tritt.

Ich erinnere mich heute noch an die Angst, die ich verspürte, sobald ich die Klinke an der Tür zum Schulhof herunterdrückte. Obwohl ich Britta seit jenem ersten Schultag aus dem Weg ging, erwischte sie mich wieder und wieder. Nicht dass sie mir nachstellte, das war ich ihr nicht wert – sie malträtierte mich beiläufig, wenn sich zufällig eine Gelegenheit bot. Einmal zeigte ich meiner Lehrerin die blauen Flecken an meinem Schienbein. Britta bekam reichlich Ärger. Danach hatte sie es bei verächtlichen Blicken belassen.

Silvia und ich konnten unseren Konflikt um Novacrem nicht lösen, das hatten wir nie gekonnt, und es war nun auch wirklich an der Zeit aufzubrechen. Wir atmeten tief – es half ja alles nichts – und standen auf.

Um die Schule noch rechtzeitig vor dem Klingeln zu erreichen, liefen wir im Sturmschritt los.

Ich eilte die Treppe hinauf in den dritten Stock. Die Kinder erwarteten mich fröhlich. Ich musste trotz allem lächeln, als ich ihre gespannten Gesichter sah. Ein kleiner Pulk sammelte sich um mich und drängelte: »Was machen wir heute, Frau Manthey?«

Thema ›Rhythmus‹: In Gedanken noch bei Novacrem ließ ich sie eine lebende Maschine bauen. Ein Kind begann: eine Bewegung und ein Geräusch. Das nächste Kind schloss sich mit einer weiteren Bewegung, einem zweiten Geräusch an. Es gab gemeinsame Rhythmen, allerdings ermutigte ich das Schräge, das dazwischenfuhr und aufrüttelte. Die Kinder mussten aufmerksam bleiben und horchen. Am Ende war es ein recht ordentliches Gekrähe und Geschnauf – und es war schön, denn es hatte Struktur und Sinn.

Der Lärm begann mit dem Pausengong: Geschnatter, Gekicher, Gerenne und Geschrei, Unordnung – Widerwille in meinem Ohr, der die Nerven bis in meinen Kopf hinein zucken ließ. Einige der Kinder schrillten wie Sirenen.

Ich war fehl am Platz, das wurde mir jeden Tag deutlicher. Ich sah mich selbst, wie ich die Ohren mit den Händen abschirmte und mich unter dem Geräuschpegel krümmte.

Auf dem Flur begegnete mir unser Rektor. Ich kannte seinen Vornamen, Burkhardt, doch ich nannte ihn Herrn Marx. Wenn ich an Burkhardt dachte, fielen mir seine leuchtenden Augen ein. Mit diesen Augen stand er auf den Gesamtkonferenzen vor uns, seinem Team, wie er sagte, und ließ uns an seinen Visionen von einer gesunden, anregenden Lernatmosphäre teilhaben. Meine Augen blieben stets matt. Ich hatte genug zu tun mit dem täglichen Überleben.

Silvia behauptete, Burkhardt und ich wären Seelenverwandte. Ich hätte ein ebensolches Leuchten, sobald meine Finger auf Klaviertasten lägen. Burkhardt schien ebenfalls eine Seelenverwandtschaft wahrgenommen zu haben. Mir war das von Anbeginn lästig gewesen, und ich hatte einige Kraft aufgewendet, um deutlich zu machen, dass ich keinen näheren Kontakt wünschte. Nicht einmal das hatte er mir übelgenommen.

»Katharina!«, strahlte er mich an. »Will sagen, Frau Manthey! Unsere Gönnerin, die alte Dame Krause, soll wieder in der Stadt sein. Nun kann es doch noch etwas werden mit dem Musikpavillon.«

Ich nickte höflich und distanziert im Vorübergehen. Nur wenige Meter trennten mich von meinem kleinen Kabuff. Noch einige schnelle Schritte, Tür auf, Tür zu, den Schlüssel umgedreht, aufatmen, Pause und Ruhe. Hierher wagte sich niemand. Die Kolleginnen saßen unten zusammen, wo sie Schulisches und Privates besprachen. Ich war nie dabei und wurde nicht vermisst. Einen Moment rutschte die Erkenntnis dick und schwer durch meine Adern. Ich schloss mich ein und schloss mich aus. Die Gemeinschaft der Menschen fand ohne mich statt. Wie oft ging mir ein Lied durch den Kopf und gab mir Worte für meine Gefühle und Gedanken.

»Wir sind ganz einfach anders als die Andern …«

Es waren die Anfangszeilen des Lila Liedes. Die erste deutsche Homosexuellenhymne fügte sich in den Maschinenrhythmus der vergangenen Unterrichtsstunde, und in meinem Kopf formte sich eine Ode an die Arbeit und die Verbindungen unter Menschen.

»Ich hätte Musikerin werden sollen«, nörgelte es in mir, »das wär’s gewesen.«

Ich hörte den Zahnarzt spotten, der mein Vater hatte sein sollen. »Dann willst du Noten essen und im Violinschlüssel wohnen.«

Das hört sich schön an, hatte ich gedacht.

Natürlich war es nicht so gemeint gewesen.

»Du willst wohl deiner Mutter nacheifern, aus allem ausbrechen, aber so was ist schwer, mein Kind!«

Er war verärgert gewesen. Ich hatte verwirrt meine Mutter angestarrt. Sie war doch Zahnärztin wie er! Mutter hatte die Lippen aufeinandergepresst und war meinem Blick ausgewichen. Das war wieder so etwas gewesen, das ich nicht verstanden hatte.

Ich hatte früh die Vermutung gehabt, dass ich nicht wirklich ihr Kind sein konnte, es gab Hinweise, sie verplapperten sich. Aber zugegeben hatten sie es nie. Ich zuckte die Achseln. Jedenfalls war ich dann Musiklehrerin geworden.

Ich bin ein ruhiger, zurückgezogener Mensch, dachte ich in meiner kleinen dunklen Kammer, völlig ungeeignet für diese Arbeit. Ich war schon immer ruhig gewesen, geradezu autistisch, und meine große Leidenschaft, die Musik, hatte die Kinder nie wirklich interessiert. Sie wollten Spaß – die Tiefe der Empfindungen entging ihnen. Was sollte ich auch groß erwarten. Es waren Kinder.

Seufzend ließ ich mich auf dem Klavierhocker zwischen den Trommeln nieder und pellte meine Apfelsine. Mein Blick fiel auf meine Bluse, und ich stellte fest, dass sie schlecht gebügelt war. Missbilligend schüttelte ich den Kopf.

Warum war ich nicht wie die anderen, saß dort bei ihnen und sprach über das Wetter, den Garten, den Haushalt, neue Anschaffungen und die mangelnde Anerkennung des Lehrerberufs?

»Weil ich nicht weiß, was ich mit ihnen reden soll«, murrte ich, »weil ich andere Probleme habe.«

Geldprobleme, Ärger mit dem Partner, Raten für ein Haus, das ich abbezahlte, ein schlechter Friseur – so was kannte ich nicht. Ich hatte nur wenige Probleme. Als ich sie zählte, kam ich auf genau fünf: mein Arbeitsleben, mein Sozialleben, mein Familienleben, mein Liebesleben und dass ich eigentlich gar keine Lust mehr hatte auf mich und mein Leben. Aber ich hing an beidem, und aus diesem Widerspruch ergab sich mein eigentliches Dilemma.

Es klingelte, gerade als sich die Tragik meines Seins wie ein Schlund vor mir auftat.

Ich riss mich zusammen; die Apfelsinenschale legte ich ordentlich in ein Regal. Ich sah in den Spiegel, der zu diesem Zweck an der Innenseite der Tür klebte, übte den entschiedenen Blick, der sich nach fünfundzwanzig Jahren Berufsleben noch immer nicht in meinen Augen verankert hatte, bevor ich aufschloss und in den Flur trat.

»Was haben Sie denn da drinnen gemacht?«, fragte Lisa aus der Sechsten. Sie hatte sich in einer Fensternische versteckt, um die Pause im Schulgebäude verbringen zu können. Ich antwortete nicht. Eine Treppe tiefer kamen mir die Kinder der 2b entgegengelaufen.

»Machen wir die Musikmassage? Bitte!«

Einige zupften an meinem Ärmel.

Ich bin ein ruhiger, zurückgezogener Mensch, dachte ich.

Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich ausgelaugt. Doch kaum trat ich in die ersehnte Stille meiner Wohnung, da schlug mir die Einsamkeit entgegen. Zum Glück hatte ich noch immer den Rhythmus im Ohr, das half. Ich dachte an Amalia, die nichts hatte als ihren eigenen Atem, ihr Herz und die Bewegung der Planeten, und begriff, dass es schwer war.

Ich hatte immer die Musik gehabt, meine Höhle, in der ich mich versteckte und die mich mit allem verband, sogar mit den Mücken, den Fröschen und dem tropfenden Wasserhahn.

Amalia war mit der übrigen Menschheit nur verbunden, weil sie auf ihre Kosten lebte.

»So denken die anderen«, behauptete sie.

»Oder du«, schlug ich vor – und um sie aufzumuntern, gab ich ihr einen Tipp, wie mit dem selbstgerechten Teil der arbeitenden Bevölkerung zu verfahren wäre: »Wenn dir jemand frech kommt, fragst du, warum er mit seinem lustlosen Hintern einen kostbaren Arbeitsplatz besetzt. Andere würden gern dort sitzen. Soll er doch das glückliche Leben im sozialen Netz an ihrer Statt genießen.«

Es war schön gewesen, Amalia lachen zu hören. Ich überlegte, welche Noten ich für ihr Lachen wählen könnte. Das tiefe Lachen im ruhigen Rhythmus des Herzens.

Den Herzschlag würde ich über mein Musikstück legen, das ohne mein Zutun in meinem Inneren weiter wuchs und sich formte. Am Herzschlag bewies sich der Arbeitsrhythmus. Der hektische Puls der Arbeit würde am menschlichen Herzen scheitern. Er weigerte sich, sich ins menschliche Maß zu fügen und schlug gegenan. Es war das Herz, das sich angleichen musste. Mir fiel es wie Wattestopfen aus den Ohren: »Daher die Herzrhythmusstörungen!«

Ich griff mir einige Blätter Notenpapier aus der Schreibtischschublade und legte los.

Es war das Telefon, das alles zerstörte. Ich hätte es längst abgeschafft, wäre da nicht die trügerische Hoffnung gewesen, die Liebe könnte mich anrufen wollen. Die Liebe hätte eine tiefe, ruhige Stimme und viel Stille. Ich sagte mir, dass Amalia geeignet wäre, die Rolle der Liebe zu spielen. Die real existierende Stimme am Telefon war eindeutig fehlbesetzt. Es war Heidrun. Heidrun hatte die große Liebe längst gefunden, sogar geheiratet. Sie liebte Hilmar, den Zahnarztsohn, meinen Bruder.

»Hallo, Heidrun«, sagte ich. Ich bereute meine Trägheit, die mich seit Jahren davon abhielt, mir zumindest ein moderneres Gerät anzuschaffen, mit Display, auf dem die Nummern der Anrufenden erschienen. Da hätte ich gar nicht erst abgenommen. Andererseits wäre es vermutlich vergebene Mühe gewesen. Ich hielt Heidrun für ausgefuchst genug, ihre Nummer zu unterdrücken.

»Hallo, Schwägerin! Wie geht es dir?«

»Och«, sagte ich.

»Da kommst du wohl gerade aus der Schule?«

Ich spürte, wie sie lächelte. Heidrun war schon eine Nette, erinnerte ich mich. Es war kein leichter Job für sie, die Beziehungsarbeit in unserer Familie zu erledigen. ›Nein‹, meinte Heidrun stets, ›leicht ist das nicht, aber es lohnt sich.‹

Jetzt tönte sie im Dienst dieser höheren Aufgabe: »Josefa freut sich schon sehr auf den Geburtstagsbesuch ihrer Lieblingstante.«

Mir weitete sich der Gehörgang. Daher kam der Sirenengesang. Josefas Geburtstag! Heidrun wollte sicherstellen, dass ich kam. Ich hatte die Einladung bereits vollständig vergessen gehabt und mich frei gefühlt.

»Ja«, antwortete ich gepresst, »wir sehen uns Samstag. Bis dann, Heidrun.«

Sie lachte.

»Wir freuen uns«, schallte es aus dem Hörer, während ich ihn zurück auf die Gabel legte.

Meine Zähne mahlten hinter verschlossenen Lippen. Freie Zeit zerbröselte unter meinen Gedanken. Es war Freitag, und ich sollte abends zum Elternsprechtag anwesend sein. Völlig überflüssig – wer wollte schon mit der Musiklehrerin reden, aber Burkhardt hatte mit strahlenden Augen den Plan gefasst, unseren Musikbereich aufzuwerten. Mir wäre meine Ruhe lieber gewesen. Hätten sie mir zur Aufwertung besser meinen Raum zurückgegeben. Die Schule platzte aus allen Nähten, und der Musikraum war vor einem Jahr ein Klassenraum geworden. Das Klavier stand noch dort – wo hätte es hinsollen – und erinnerte an bessere Zeiten.

Am Elternabend sollte ich nun zum Schein in diesem Raum residieren. Ich dachte mir, dass wohl keiner kommen würde und ich mich ans Klavier setzen könnte. Das wäre dann fast wie zu Hause, besser sogar. Das Schulklavier war ein Geschenk von Margot und hatte einen fantastischen Klang. Beinahe freute ich mich darauf.

Es kam dann anders: Meine Finger bewegten sich in einem flotten Tastenlauf. Ich probte die Melodien, die ich auf die Arbeitsrhythmen legen könnte, als Kathrin Kienzle mit »Guten Abend, Frau Manthey« den Raum betrat. Ich sah auf die Uhr an der Wand. Wie erwartet war bis dahin niemand gekommen. Vielleicht hatten die Eltern mich spielen hören und beschlossen, nicht zu stören. Nun stand Kathrin Kienzle da. Langsam sog ich die Luft durch die Nase, lächelte und reichte ihr die Hand. »Guten Abend.«

Noras Freund Patrick hatte öfter von Frau Kienzle erzählt. Nora kannte ich aus dem Chor. Patrick war arbeitslos, und Frau Kienzle war die Dame von der Agentur für Arbeit. Sie hatte ihm einen gemeinnützigen Job verschafft, mit dem er seine Stütze um einige Euro ergänzte.

»Der Job ist in Ordnung«, hatte Patrick erklärt, »die Frau nicht.«

›Exemplarisch‹, wie er sagte, hatte er uns von einer sonntäglichen Begegnung im Stadtpark berichtet. Kathrin Kienzle hatte auf einer Bank gesessen – ›griesgrämig, wie immer‹. Patrick, der in der Nähe mit dem Müllpicker unterwegs gewesen war, hatte ihr höflich einen guten Tag gewünscht. Sie hatte die Hand gehoben – nicht zum Gruß, sondern um ihm die leere Bäckertüte entgegenzuwerfen. ›Damit Sie Ihren Job behalten können.‹

»Ich wusste wirklich nicht, wie ich reagieren sollte«, erzählte Patrick mit bewegtem Gesicht.

»Verteilen Sie besser nicht zu viele Ein-Euro-Jobs, sonst werden Sie am Ende alle Arbeitslosen und mit ihnen Ihre Arbeit los«, hatte er endlich geantwortet. So wie seine Brauen sich zusammenzogen und sein Atem stoßweise ging, als er uns an seiner Erniedrigung teilhaben ließ, hatte es ihm nichts genützt.

»Sie hält sich für was Besseres, die dumme Kuh.«

Frau Kienzle nahm auf einem der Schülerstühle Platz, ich ihr gegenüber. Ich hatte mich kaum niedergelassen, da legte sie schon los.

»Sie wissen, ich bin berufstätig und habe wenig Zeit für meine Tochter. Da nutze ich den Elternabend, um zu erfahren, wie Maja sich so macht.«

Ich dachte nach – Maja Kienzle, 6b …

»Nun«, sagte ich, »aus meiner Sicht brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie ist mit Freude im Unterricht dabei, kann gut mit den anderen Kindern zusammenarbeiten, und auch was die Einhaltung der Unterrichtsregeln angeht, gibt es keine Probleme.«

Sie seufzte.

»Mir tut es oft leid um das Kind, weil ich doch so eingespannt bin, und nach der Arbeit fühle ich mich erschöpft. Täglich gescheiterte Existenzen um mich herum. Nur Forderungen stellen, das können sie. Wenn ich deren Zeit hätte …«

Ich hörte sie ausatmen.

»Was dann?« Das interessierte mich. »Was würden Sie tun, wenn Sie Zeit hätten?«

Ihre Stimme klang kraftlos.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre ich dann glücklicher, hätte mehr Energie für alles. Ich bin so deprimiert, wissen Sie. Ich habe es mit dem neuen Produkt von Novacrem versucht – Johannisplus. Es hat nicht geholfen. Die ziehen den Leuten das Geld aus der Tasche. Man kann froh sein, wenn es nicht schadet. Na ja.«

»Novacrem soll schließen«, entfuhr es mir.

Sie hob abwehrend die Hände.

»Nur das nicht! Eine Katastrophe für unsere Stadt! Ich jedenfalls werde zur Kundgebung gehen.«

Ich dachte an Silvia und wandte ein: »Wenn Novacrem doch den Menschen schadet und ihnen das Geld aus der Tasche zieht …«

Sie lächelte. »Frau Manthey, wären Sie in meinem Beruf, würden Sie anders reden. Novacrem schafft Arbeitsplätze. Das ist das Entscheidende.«

Ich überlegte, ob ich damit bei Silvia durchkommen würde. Ich kannte ihre Erwiderung: ›In dieser Logik sollten wir Subventionen für Diebstahl und Vandalismus fordern, weil sie die Wirtschaft beleben. Menschen brauchen keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Menschen brauchen Betätigung.‹

Also sagte ich »hmh« zu Frau Kienzle und sah sie an.