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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Karin Kallmaker

 

Und auf einmal ist es Liebe

 

 

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Krug

 

 

 

K + S digital

Prolog

 

Ein weiterer Zug voller kreischender Menschen donnerte über Laura Izmanis Kopf hinweg. Fast hätte sie sich unwillkürlich geduckt. Dann wurde das verklingende Kreischen von dem schrillen metallischen Quietschen des Zuges auf den Schienen übertönt. Er war schon in der nächsten Kurve, als der Luftstoß in seinem Gefolge kleine Papierfetzen über die Holzplanken des Einstiegsbereichs wirbelte.

Endlich schob sich die langgewundene Schlange ungeduldiger Teenager und Erwachsener aus dem drückend heißen Zugangstunnel hinaus. Laura hieß die frische Luft, die saubere Meeresbrise willkommen, aber der fehlende Schatten machte sich sofort bemerkbar. Sie fuhr sich mit der Fingerspitze über das Ohrläppchen – dort war die zarte Haut bereits kurz vor einem Sonnenbrand. Sie hatte sich das Santa-Cruz-Basecap so tief wie möglich über ihr kurzgeschorenes schwarzes Haar gezogen, aber ihre Ohren waren dennoch ungeschützt. Aufgeben wollte sie jetzt trotzdem nicht. Dreißig Minuten stand sie jetzt schon an der Achterbahn an.

An diesem Tag nicht mit dem Giant Dipper zu fahren stand nicht zur Debatte. Es war der Jahrestag ihrer Rückkehr aus New York. Sie hatte einen Neuanfang gemacht – hier in der Stadt, in der sie wenige Jahre zuvor ihren Highschool-Abschluss erworben hatte. Damals war sie oft Achterbahn gefahren. Die Erinnerung daran war schön, unverfälscht und unbelastet. Das war vor dem Großen Fehler gewesen. Jetzt war sie wieder auf dem richtigen Weg, und am folgenden Morgen würde sie ein Flugzeug nach New York besteigen. Am darauffolgenden Tag würde sie zusehen, dass sie ihre Kochausbildung wieder aufnahm.

Wieder stieg eine Gruppe Fahrgäste aus einem eingefahrenen Zug, und die Schlange bewegte sich voran. Laura trat in den Weg einiger Teenager, die schon geraume Zeit versuchten, sich vorzudrängeln. Sorry, Leute, aber wenn man schon mal in New York U-Bahn gefahren war, wusste man, wie man Vordränglern ein Schnippchen schlug. Wofür gab es schließlich Ellenbogen.

Wenige Minuten später stand sie auf der obersten Treppe und hielt sich links, weil sie im ersten Wagen sitzen wollte. Das altmodische Bild an der Wand vor ihr, das eine Flutwelle zeigte, war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte, ebenso wie der leuchtendrote Schriftzug, der verkündete: »The Giant Dipper – die phantastischste Holzachterbahn der Welt! Einzigartig – nur in Santa Cruz!«

Schließlich fuhr der letzte Zug vor ihrem los und verließ die Plattform nach links. Laura liebte das Klack-klack-klack der Kette, die den anfahrenden Zug im Kampf gegen die Schwerkraft die erste Steigung hinaufzog. Zu ihrer Rechten erschallten die Schreie der Fahrgäste in dem nächsten Zug, der direkt vor ihr eine Vollbremsung hinlegen würde. Es war erst wenige Jahre her, seit sie das letzte Mal mit dem Giant Dipper gefahren war, und seitdem hatte sie sich sehr verändert – größtenteils zum Guten, wie sie fand –, aber sie war fest entschlossen, die ganze Fahrt über voller Hochgefühl die Arme hochzurecken.

Der sich nähernde Zug rauschte ratternd und mit quietschenden Bremsen um die letzte Kurve, als der Einweiser sie fragte, ob sie allein sei. Als sie nickte, rief er den hinter ihr Anstehenden zu: »Irgendjemand allein hier? Hier ist noch ein Platz frei!«

Laura hatte ihr Basecap bereits auf den Sitz geworfen und setzte sich darauf, als eine Frau einstieg und neben ihr Platz nahm. Wortlos sortierten sie ihre Gurte und schnallten sich an. Gleich darauf klappten sie den Schoßbügel herunter und ließen ihn einrasten.

Nachdem der Einweiser den ganzen Zug abgelaufen war und hie und da Schoßbügel heruntergeklappt hatte, verkündete eine Stimme über Lautsprecher knappe, unverständliche Sicherheitsregeln. Von früheren Durchsagen her reimte Laura sich zusammen, dass sie Hände und Füße während der ganzen Fahrt im Wagen lassen sollte.

Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung und erklomm die erste Steigung, den Tunnel, der aus überkreuzten Holzbalken und enggesetzten Latten bestand. Jede Verbindung war mit riesigen Nieten zusammengefügt.

»Nicht gerade gut gepolstert diese Sitze«, bemerkte die Frau. Sie umklammerte den Schoßbügel so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

»Die stammen vermutlich aus einer Zeit, als die Menschen noch härter im Nehmen waren.« Laura schenkte ihr ein abwesendes Lächeln. Sie tauchten aus dem Tunnel auf, und Laura merkte, wie sie bei dem atemberaubenden Blick auf den quirligen Santa Cruz Boardwalk und die weite Bucht dahinter anfing zu strahlen. Sie hörte, wie die Frau neben ihr ebenfalls die Luft anhielt.

»Los jetzt – Arme hoch!« Laura warf die Arme in die Luft, ihr Magen machte einen Satz in Erwartung des Scheitelpunkts, an dem die Schienenspur ins Nichts zu stürzen schien. Für einen Moment war allein der Himmel vor ihr – dann schoss der Zug so scharf nach rechts, dass die Räder auf den Schienen kreischten. Laura schrie vor Entzücken, als die Schwerkraft sie ergriff.

Wendungen, kurze Anstiege, ein enger Abwärtswirbel, dann eine lange steile Auffahrt über die ganze Länge der Achterbahn, ein zweiter Anstieg, ihr Schwung kurz von einer Zugkette gebremst, dann schossen sie plötzlich wieder abwärts, und die ganze Zeit über schrie Laura, die Arme hoch über dem Kopf.

Ein Jahr. Ein ganzes Jahr sauber! Ein Jahr harte Arbeit, gutes Essen, ohne jede Versuchung, und sie wusste, dass keine Droge der Welt je eine aufregendere Wirkung entfalten würde. Die Fahrt war genau so phantastisch, so prickelnd, so atemberaubend, aufwühlend und wundervoll, wie sie sie in Erinnerung hatte. Und es war noch nicht vorbei – sie erklommen die dritte Steigung, ruckten scharf und wurden von der letzten Kette zurückgehalten, was ihre Fallgeschwindigkeit dann noch steigern würde. Sie stiegen gut halb so hoch wie bei ihrem ersten Anstieg. Laura holte tief Luft, gönnte ihren Stimmbändern eine kurze Pause. Vor ihnen lagen die steilste Abfahrt und die letzten scharfen Kehren, bevor sie wieder am Ausgangspunkt ankommen würden. Klack-klack-

Mit einem markerschütternden Ruck hielt der Zug wenige Meter vor dem höchsten Punkt.

Laura brauchte einen Moment, bevor sie ausatmete. »Was ist denn nun los?«

Sie merkte, dass die Frau neben ihr die Augen zusammengekniffen hatte und den Schoßbügel noch immer umklammerte, als hinge ihr Leben davon ab. Sie war ein wenig älter als Laura, aber nicht viel, und für eine weiße Frau war sie reichlich blass, doch jetzt war ihre Blässe so augenfällig, dass Laura zunächst fürchtete, sie sei ohnmächtig geworden.

Dann setzte die Frau an zu sprechen, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern: »Bitte, lieber Gott, sag, dass wir nicht tot sind.«

»Geht gleich weiter«, sagte Laura. Sie hatte noch nie erlebt, dass eine Achterbahn mittendrin anhielt. Aber es würde bestimmt nicht lange dauern. Sie warf ihrer Nachbarin einen weiteren Blick zu. »Alles in Ordnung?«

»Nein.«

»Wenn du Angst hast, Achterbahn zu fahren, warum tust du es dann?« Und warum, zum Teufel, steigst du dann auch noch in den ersten Wagen?

Nach einem verkrampften Schlucken kam die Antwort: »Ich habe keine Angst vorm Achterbahnfahren. Ich habe Höhenangst.«

»Okay. Und warum musste es dann die größte Herausforderung des ganzen Parks sein?«

»Das ist mein Abschlusstest. Ich glaube, ich werde ihn nicht bestehen.«

Laura war froh zu sehen, dass ein wenig Farbe in die Lippen der Frau zurückkehrte, aber die Augen waren nach wie vor geschlossen. »Du bist nicht hysterisch und du kotzt nicht – wieso solltest du also durchfallen?«

»Gib mir noch eine Minute – und beides könnte passieren.« Ihre Lippen verzogen sich. »Sie hat gesagt, ich soll zur Strandpromenade gehen und ein paar Kirmeskarussells und so ausprobieren – es würde mir Spaß machen.«

»Klingt, als würdest du für diesen Rat am liebsten jemanden umbringen.«

»Meine Therapeutin. Sie wollte mich desensibilisieren.« Sie sprach den Fachbegriff aus wie beim Buchstabierwettbewerb.

Laura schaute über den Wagenrand hinunter. Sie standen jetzt schon mindestens drei Minuten. »Es hätte schlimmer kommen können. Nur ein paar Sekunden später und wir würden nicht an die Rücklehnen gepresst, sondern würden in den Gurten und im Schoßbügel hängen.«

Die Frau atmete zittrig ein. Dann sagte sie: »Das ist nicht sehr tröstlich.«

»Ich heiße übrigens Laura.«

»Helen. Helen Baynor.« Im Ton leicht geistesabwesender Routine fügte sie hinzu: »Merk dir den Namen! Eines Tages werde ich berühmt sein. Wenn ich das hier überlebe.«

»Irgendwo habe ich gelesen, dass es in Vergnügungsparks jedes Jahr drei Tote gibt.«

Helens Augen öffneten sich ein klein wenig, dann kniff sie sie wieder zusammen. »Oh, danke vielmals!«

»In demselben Artikel hieß es, dass jedes Jahr neunzig Millionen Menschen einen Vergnügungspark besuchen. Du hast eine größere Chance, den Jackpot in der Powerball Lottery zu gewinnen, als in einem Vergnügungspark zu sterben.«

»Sehr unwahrscheinlich.«

»Meine Rede.«

»Wir hängen am seidenen Faden hoch oben in der Luft – wie kommt es, dass du keine Angst hast?« Helen klang, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen.

»Es ist kein seidener Faden. Es ist Stahl auf Stahl.« Warum muss ausgerechnet ich neben einer Irren sitzen, die unter Höhenangst leidet? »Und die da unten können eine Menge unternehmen. Es gibt Bremsen an den Wagen, die sie daran hindern, zurückzurollen. Sie können sie lösen, und wir würden auf dem Weg zurückrollen, auf dem wir hochgefahren sind. Wir kommen dann …« Laura beugte sich über den Rand des Wagens und spähte die Schienen entlang nach hinten. »Wir kommen dann bei einer Leiter an.«

»Erschieß mich auf der Stelle!«

»Vermutlich wirst du die Augen öffnen müssen.«

»Um erschossen zu werden?«

»Um die Leiter runterzuklettern.«

»Auf keinen Fall. Ich hatte die Augen offen, als wir das erste Mal nach oben gefahren sind. Das hat mir gereicht.«

Laura überlegte, welches Thema sie anschneiden könnte, das nichts mit Höhen, Tod oder Achterbahnen zu tun hatte. »Ich mache eine Ausbildung zur Köchin.«

»Ach ja? Du kochst gern?«

Laura warf Helen einen funkelnden Seitenblick zu. »Nein, aber die Glamourjobs in der Spülküche waren schon vergeben.«

Helens Lippen verzogen sich fast zu einem Lächeln. »Dumme Frage. Tut mir leid.«

Laura beschloss, es durchgehen zu lassen. »Ich habe meine Ausbildung in New York begonnen, bin aber letztes Jahr heimgekommen. Nun, soweit das hier mein Zuhause ist. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich ein paar Jahre hier bei entfernten Verwandten gelebt, um meinen Highschool-Abschluss zu machen.« Unnötig zu erwähnen, dass ihr Vater dieses Arrangement widerstrebend für sie getroffen hatte, nachdem er sich mit der unangenehmen Realität konfrontiert sah, dass eine Tochter von halb schwarzer, halb weißer Herkunft bei ihm auf der Matte stand. Laura hatte sich so schnell wie möglich auf eigene Füße gestellt. Sie war ihm peinlich gewesen? Tja, er war ihr noch weitaus peinlicher.

»Wo hast du davor gelebt?«

»In Jamaika. Meine Mutter hat in Florida studiert, als sie mit mir schwanger wurde. Ich bin in Florida geboren, und dort haben wir gelebt, bis ich acht war und ihr schließlich das Geld ausging. Dann sind wir nach Jamaika zurückgekehrt.« Die Menschen neigten dazu zu glauben, dass sie an einem exotischen Ort gelebt hatte, aber der einzige Unterschied zwischen den Behausungen am Rande von Kingston und einem Slum in Manhattan war das bessere Wetter.

»Ich wunderte mich schon über deinen Akzent – er ist schwach, aber an der Betonung höre ich es.«

»Tatsächlich? Ich hätte nicht gedacht, dass ich immer noch einen Akzent habe. Bist du ein weiblicher Professor Higgins?«

»Nein, aber ich habe Elizas Rolle mehrfach einstudiert.«

»Ah, dann bist du also Schauspielerin.« Helen war vermutlich sehr attraktiv, wenn sie nicht gerade aussah, als würde sie sich jeden Moment übergeben. Gutes Aussehen war zweifellos von Vorteil, und ein Gutteil ihrer Attraktivität verdankte sie ihrem schwarzbraunen Haar, das ihr bis über die Schultern ging. Es war zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, aber einzelne Strähnen hatten sich während der Fahrt gelöst und ringelten sich jetzt um Hals und Schläfen. »Und du wirst eines Tages berühmt sein, also sollte ich mir deinen Namen besser merken – eine Schauspielerin mit Starpotential.«

Helen nickte.

»Wo hast du mitgespielt?«

»Ich war fast in Rain Man.«

»Oh, ein toller Film!«

»Und in Stirb langsam wäre ich beinahe als Geisel genommen worden.«

»Yippiee-yippiee-yay –«

»Nicht!«, sagte Helen. »Ich habe schon Freunde, die das ausgesprochen lustig finden und mich für die perfekte Geisel halten.«

»Und jetzt studierst du die Rolle der Eliza Doolittle aus Pygmalion ein?«

»Ich habe ein Angebot für eine Spielzeit in einem Off-Broadway-Theater. Aber dazu müsste ich L.A. verlassen. Ich würde mich von dem Gedanken verabschieden müssen, ein großer Filmstar zu werden.«

»Wäre das wirklich schlimm?«

»Mir gefällt die Bühne besser. Immer schon. Aber meine Agentin meint, wenn ich groß rauskommen will, geht das nur im Filmgeschäft.«

»Dann soll doch deine Agentin Filmstar werden.«

Der Anflug eines Lächelns glitt über Helens Lippen. »Mein Freund sagt, ihm ist es egal, wo wir leben.«

»Warum bleibst du dann hier? Zwingst du dich, Achterbahn zu fahren, um eine Rolle in einem Actionfilm zu bekommen?«

»Ja. Meine Agentin meint, ich brauche den großen Durchbruch.«

»Eine namenlose Geisel ist der große Durchbruch?«

»So funktioniert das Showbusiness nun mal.« Jetzt, wo sie einmal angefangen hatte zu reden, war Helen nicht mehr zu stoppen. Sie hatte wieder Farbe im Gesicht und schien nicht zu merken, wie die Zeit verstrich. Laura schätzte, dass es inzwischen acht oder neun Minuten sein mussten. Glücklicherweise hatten sie die Sonne im Rücken, sonst wären ihre Ohren mittlerweile zu Asche verglüht. Doch sie würde einen Sonnenbrand im Nacken bekommen.

»Aber du könntest tatsächlich auf der Bühne stehen, wenn du nach New York gehst – du könntest als Schauspielerin

arbeiten?«

Helen nickte. »Ich müsste meine Agentin abservieren – sie kennt sich in der Theaterwelt nicht besonders gut aus.«

»Sie hat dich also hergeholt, um dir Zutritt zu der Welt zu verschaffen, die sie kennt. Du klingst nicht so glücklich da­rüber.«

»Zwei Jahre ohne Arbeit – bis auf eine Statistenrolle in einem Werbespot. Zum Glück hat mein Freund Geld. Seine Familie lebt oben im Norden. Rinderzüchter und Goldschürfer, sehr altes kalifornisches Geld.«

Wenn ich jemanden hätte, der mich finanziert, dachte Laura, würde ich mit beiden Händen nach meinem eigenen Chez Panisse greifen, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Helen schien nicht mehr zu wissen, als dass sie Schauspielerin sein wollte, was etwa so war, als würde Laura sagen, sie wollte Chef de Cuisine werden. Welcher Art, wie, wo, für wen – das waren die wichtigen, die entscheidenden Fragen. Im vergangenen Jahr hatte sie sich jede einzelne davon gestellt.

»Wie auch immer – ich muss jedenfalls meine Höhenangst überwinden«, fuhr Helen fort. »Eine Balkonszene – ein Produzent hat mich direkt angerufen, um zu fragen, ob ich Interesse an einer Off-Broadway-Produktion von Romeo und Julia hätte, aber ich fand, ich müsste in L.A. bleiben und habe abgesagt.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Gott, war das ein Fehler? Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«

»Also hast du beschlossen, zumindest mal Achterbahn zu fahren.« Laura ließ den Blick zu den palmengesäumten Straßen wandern.

Wieder verzog sich der ausdrucksvolle Mund zu einem raschen Lächeln. »Das ist nicht verrückt, oder?«

»Da fragst du die Falsche.«

»Ich konnte es nicht länger geheimhalten, und heutzutage gibt es immer mehr Wire Work, also kabelgesicherte Einsätze. Also habe ich eine Desensibilisierungstherapie gemacht, die auch erfolgreich war. Heute kann ich beispielsweise gläserne Fahrstühle benutzen, in denen ich früher kalte Schweißausbrüche gekriegt und gekotzt hätte. Aber die Angsttherapeutin hat gemeint, wenn ich mal in einem Vergnügungspark wäre, würde ich einen großen Sieg erringen, wenn es mir gelänge, Achterbahn zu fahren.« Ihre Augen öffneten sich einen Spalt breit.

»Und dein Freund ist wirklich bereit umzuziehen, wenn deine Arbeit es erfordert?« Normalerweise hätte Laura nicht nachgebohrt, aber sie wollte nicht, dass Helen sie nach ihrem Liebesleben fragte. Frauen, die in einer Beziehung lebten, fragten immer danach. Es war eine Frage von: »Ich zeig dir meins und du zeigst mir deins.«

»Er sagt, er würde mitkommen. Er möchte mich heiraten. Ich glaube, ich werde ja sagen.« Endlich lächelte sie – ein echtes Lächeln, und ihre Augen öffneten sich ganz. »Ich bin genauso verrückt nach ihm. Es hat mich einfach gepackt. Und er möchte, dass ich berühmt werde und so reich wie er, und er sagt, dass ihm nichts Besseres passieren könnte, als Mr. Helen Baynor zu werden. Also muss ich es schaffen. Ich will ganz nach oben.«

Die unverblümte Brando-Pose ließ Laura grinsen. »Ich werde eines Tages mein eigenes Restaurant besitzen. Ich habe das vergangene Jahr in verschiedenen Lokalen in San Francisco geschuftet. Schälen, hacken, anbraten. Ich habe ein bisschen Geld zurückgelegt und kann mir jetzt weitere Fortbildungen leisten.« Und ich werde sparsam leben, fügte sie innerlich hinzu. Und mit wenig Geld zum leben, bleibt mir keines für Dinge, die schlecht für mich sind.

Helen wandte den Kopf, und zum ersten Mal begegneten sich ihre Blicke.

Sie hatte erstaunliche Augen – das war das Erste, was Laura dachte, und einen Moment lang merkte sie nicht, dass sie Helen anstarrte. Helens Augen waren aber auch außergewöhnlich – sie waren groß und ausdrucksvoll und von der Farbe her zwischen blau und grau. Das Zusammenspiel ihrer Wimpern, ihrer Lippen und Augenbrauen unterstrich den raschen Wechsel von Angst zu Humor zu warmer Zuneigung und wieder zurück zur Angst. Dann blinzelte sie, und das brachte Laura mit einem Ruck wieder in ihre gemeinsame missliche Lage zurück, und sie vernahm Helens Stimme.

»Du klingst nicht so jung, wie du bist. Von deiner Stimme her dachte ich, du wärst in meinem Alter.«

»Ich werde nächsten Monat zweiundzwanzig.« Laura war nicht sicher, ob sie beleidigt sein sollte. Ihre Stimme klang also älter?

»Ich werde im Herbst siebenundzwanzig.«

»Wieso klinge ich so alt?«

»Oh, ich weiß nicht. Du bist so ruhig, während ich jedes Mal, wenn der Wind ein bisschen zunimmt, fürchte, wir werden von den Schienen gepustet.«

»Sie hatten hier schon stürmischen Wind, ohne dass was passiert wäre.«

»Die Leute fahren bei Sturm Achterbahn?«

»Nun, das nicht gerade …«

Helen hob eine Augenbraue. »Außerdem sagst du nicht in jedem zweiten Satz ›und so‹ und ›irgendwie‹.«

»Das ließe sich irgendwie ändern und so.«

Helen schenkte ihr ein Lächeln, das verflog, als jemand in einem Wagen hinter ihnen anfing zu schreien. Als ob jemand am Boden sie hören könnte. Laura beugte sich über die Seite und spähte nach unten, konnte aber keine neuen Aktivitäten ausmachen. Vielleicht zehn Minuten inzwischen? Oder vielleicht auch schon fünfzehn? Ihre Uhr war in ihrem Rucksack unten auf der Startplattform.

»Es kann nicht mehr lange dauern.«

Das Geschrei hinter ihnen hielt an. Laura wusste, wie die Bahn hinter ihnen aussah und versuchte nicht daran zu denken, wie sie von hier oben herunterkamen, falls die Fahrt nicht weiterging. Auf diesem Teil der Bahn gab es keine Leitern, keinen Notausgang. Also mussten die Betreiber in der Lage sein, den Zug zurückrollen zu lassen – bis zu einer Stelle, an der sie aussteigen konnten, oder? Sie mussten einen Plan haben, wie sie sie zu einer sicheren Stelle bringen konnten, von wo aus sie gefahrlos hinunterklettern könnten. Laura öffnete den Mund, um genau das zu sagen, aber dann begriff sie, dass sie Helen damit nur noch mehr ängstigen würde. Sie behielt ihre Überlegungen besser für sich. Vorerst zumindest.

»Wo in New York hast du gewohnt?«

»In Queens«, antwortete Laura. »Ich bin mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Zu einem Bistro in der Nähe der Wall Street. Ich habe gut verdient und durfte mehr machen als Gemüse schnippeln.«

»Und dann?« Helen schloss die Augen wieder, aber das schien mehr der sengenden Sonne geschuldet als aufkeimender Panik. »Was ist dann schiefgelaufen?«

»Wie kommst du darauf, dass etwas schiefgelaufen ist?«

»Das höre ich dir an. Irgendwas ist schiefgelaufen.«

Wenn du deine Abhängigkeit leugnest, räumst du ihr Macht über dich ein, rief Laura sich in Erinnerung. Doch einer Fremden in der Achterbahn davon erzählen? War das wirklich nötig? Aber dies ist ein Jahrestag, sagte sie sich, ein Neuanfang, und du solltest den Rest deines Lebens so angehen, wie du es fortsetzen möchtest. Es scheint sie wirklich zu interessieren, also erzähl ihr die Wahrheit.

»Ich habe eine Dummheit gemacht. Ich war zu naiv, um mich zu wundern, warum dort so viel Geld im Umlauf war. Restaurants sind gewöhnlich knapp bei Kasse, und bei den Mieten in New York – das ist brutal. Aber dort gab es eine Menge Kohle. Manchmal wurde ich bar auf die Hand bezahlt. Ich hatte einen besseren Arbeitsplatz als meine Mutter in ihrem ganzen Leben, und ich war auf dem Weg, Küchenchefin zu werden. Dann habe ich herausgefunden, woher das viele Geld stammte, und ich hielt mich für unverwundbar und für eine der wenigen wirklich Coolen. In meiner Familie in Jamaika nehmen einige Drogen, aber ich hielt mich für schlauer als sie – ich dachte, ich wäre irgendwie gefeit gegen die Tatsache, dass eine Linie Koks zur nächsten führt und wieder zur nächsten. Ich nahm eine Gratis-Kostprobe, und schon war ich drauf.« Sie hielt inne, um Luft zu holen. Ihr war fast ein wenig schwindelig.

Helen hatte die Augen geöffnet. »Ich kenne Leute – talentierte, gefestigte Menschen –, die sich mit Kokain zugrunde gerichtet haben. Intelligente Menschen. Einige sind über Kokain bei Crack gelandet. Und du hast aufgehört?«

Laura schaffte es nicht, Helens Blick zu erwidern. »Nachdem ich alles verloren hatte, was ich besaß. Keine Schule mehr, und das Restaurant wurden natürlich irgendwann hochgenommen – die Besitzer haben direkt an der Bar gedealt. Ich war nicht dort, als die Razzia stattfand, und ich bin nicht in die Sache reingezogen worden, was mein Glück war. Ich hätte mir eine Vorstrafe einhandeln können.« Sie beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, dass jemand mit ihrer Hautfarbe bei einer Anklage wegen Drogenmissbrauchs ganz schlechte Karten gehabt hätte. Während ihres Zwölf-Schritte-Programms hatte sie sich immer wieder in Erinnerung gerufen, dass sie es allein der Gnade Gottes zu verdanken hatte, keine Vorstrafe wegen eines Drogendelikts am Hals zu haben.

»Und dann musste ich raus aus New York … wegen meines Geruchsinns.« Sie musste kurz innehalten, um zu schlucken, denn beim Erzählen wurde die Erinnerung wieder wach – an den Duft von Öl, Knoblauch, gebräuntem Zucker und gegrilltem Kalbsfleisch, der sich mit dem Geruch der U-Bahn und – an vielen Abenden – dem feuchtschweren Geruch von Regen auf den dreckigen Gehwegen mischte. »Restaurantküchen in New York riechen auf ganz eigentümliche Weise.«

»Du meinst, anders als mit der Nase?«

»Schlaubergerin.«

»Ich kann’s nicht lassen. Hat mir in der Schule einige Probleme beschert. Jedenfalls …«

»Jedenfalls – vielleicht liegt es an ihrem Alter. Heute erinnert mich dieser Geruch daran, wie toll ich mich gefühlt habe, wenn ich auf Drogen war, nicht welch schrecklichen Weg mein Leben wegen der Drogen genommen hat. Ich war nicht anders als meine drogensüchtige Verwandtschaft. Aber hier geht es mir gut. Die Welt riecht anders hier. Mein Sponsor hat mir erzählt, dass es Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Geräuschen sowie Gerüchen und Triggern gibt, und von daher fand ich es eine gute Idee, all das hinter mir zu lassen. Ich werde leicht nervös, wenn ich daran denke, wieder zurückzugehen …«

Helen löste widerstrebend eine Hand von dem Schoßbügel und legte sie leicht auf Lauras Arm. »Du bist stärker als die Drogen. Du hast es ein Jahr geschafft, und du flippst nicht aus in dieser verdammten Achterbahn.«

»Tatsächlich besteht der erste der zwölf Schritte darin anzuerkennen, dass man nicht stärker ist als seine Sucht. Das ist allein Gott.«

»Quatsch mit Soße.«

»Quatsch mit Soße?« Laura sah sie schockiert an. Zum einen weil Helen über einen der großen Schritte, ganz zu schweigen von der göttlichen Macht, zu spotten schien, und zum anderen weil sie »Quatsch mit Soße« gesagt hatte, und wer sagte das heutzutage schon noch?

»Sorry, ich meinte nicht Gott damit«, sagte Helen rasch. »Ich wollte sagen, wenn du stark genug bist, dich der Fürsorge Gottes anzuvertrauen, dann bist du bereits stärker als die Sucht. Es ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche, wenn man sich eingesteht, Hilfe zu brauchen und darum bittet.«

»Stammt das aus einem Stück?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht«, erwiderte Helen unerwarteterweise. Sie strich sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. »Aber ich glaube, es ist stimmt. Natürlich habe ich nie in deiner Haut gesteckt, also was weiß ich im Grunde schon?«

»Glaub mir, viele Menschen, die nie das geringste Suchtproblem hatten, wissen ganz genau, wie man von einer Sucht loskommt. Doch es gibt keine Heilung. Niemand ist je auf immer und ewig kuriert. Ich versuche, stark zu sein. Es ist eine Entscheidung, die ich jeden Tag neu treffe.«

Helen legte ihre Hand wieder auf den Schoßbügel und schloss die langen Finger fest darum. »Es klingt jedenfalls so, als hättest du die Sache gut im Griff. Warum bleibst du nicht hier in Kalifornien?«

Laura hatte viel darüber nachgedacht. »Weil ich Angst davor habe zurückzugehen – das zum einen. Es ist, wie wenn man Höhenangst hat und sich beweisen will, dass man sie überwunden hat, indem man Achterbahn fährt.«

Helen nickte ironisch. »Okay, Punkt für dich.«

»Ich habe Angst, dass ich, wenn ich nicht zurückgehe, ewig Angst haben werde, und das kulinarische Zentrum Amerikas ist nun mal New York, wenn man etwas lernen will, und das will ich wirklich. Und wenn ich merke, dass ich es nicht aushalte – wenn ich auch nur einen Funken Versuchung verspüre, bin ich wieder weg. Ich habe einen sehr guten Geruchssinn, und das ist ein weiterer Grund, die Finger von dem Zeug zu lassen. Ich hätte meinen Geschmackssinn verlieren können, und damit verdiene ich schließlich meinen Lebensunterhalt. Wie kann ich also Angst davor haben, dort zu lernen, dort in der Küche zu arbeiten? Wenn ich das nicht packe, wenn ich anfange zu denken, dass wir ein echt tolles Dinner hatten und ob das pudrige weiße Zeug nicht der beste Nachtisch wäre, dann komme ich hierher zurück. Ich könnte problemlos die rechte Hand von Alice Waters werden.«

Als Laura erklärte, wer Alice Waters und ihr Chez Panisse waren, merkte sie, dass sie von Dingen sprach, die sie nie außerhalb eines AA-Meetings erzählt hatte. Es tat wirklich gut, jemandem außer ihrem Sponsor von ihren Ängsten zu erzählen, und es war wunderbar, dass Helen weder geschockt noch angewidert wirkte. Ihre Reaktion war vermutlich untypisch – es gab sicher jede Menge Menschen, die nichts von ihr halten und ihr das auch sagen würden. Denen würde sie überall begegnen, auf Schritt und Tritt.

Sie hatte Fehler begangen. Sie hatte Wiedergutmachung geleistet, so gut es ging. Sie hatte die Lebensversicherung ihrer Mutter, ihren einzigen Notgroschen, vertickt, um sich Koks zu beschaffen. Die Ausbildung, die sie in drei Jahren hätte abschließen können, würde jetzt sechs bis sieben dauern, und Selbstmitleid, weil sie nun jeden Pfennig zweimal umdrehen musste, um für die Kochschule zu bezahlen, war nicht angesagt.

»Live aufzutreten ist etwas ganz Besonderes«, sagte Helen gerade. »Der Nervenkitzel … Backstage hat diesen gewissen Rhythmus – einen kontrolliert furiosen Energieschub, der auf das Publikum übergreift. Ich liebe es, hinter dem Vorhang zu stehen, bevor er sich hebt. Er senkt sich immer ein klein wenig – zur Warnung. Dann hebt er sich, und ich habe das Gefühl zu fliegen.«

»Klingt wie eine Art Droge.« Laura beschirmte die Augen mit der Hand. Der Himmel war sengend blau, obwohl sie die Sonne im Rücken hatten.

»Das ist es wohl auch.« Helen lächelte halb. »Ich brauche das – ohne Frage. Ich denke ständig daran, wann ich es wieder erleben werde. Ich lege es drauf an und setze alle Hebel in Bewegung, um es mir so oft wie möglich zu verschaffen. Und zwischen zwei Rollen habe ich das Gefühl, als fehle ein Teil von mir.«

»Ja, das sind die klassischen Anzeichen – aber es gibt eines, was du nicht tust.«

»Und das wäre?«

»Du machst es nicht heimlich und verleugnest es nicht.« Sie hatte viele Lügen erzählt, aber wenig im Verborgenen getan. Dazu hatte kein Anlass bestanden – man tat es in aller Öffentlichkeit im Lager des Restaurants. Sie war so dumm gewesen – die Zeiten waren schwer und keine Änderung in Sicht. Dafür sorgte erst die Ära Reagan, dann die Ära Bush. Aber ihre Gäste hatten nur allzu gern horrende Summen für einfache Cocktails bezahlt, und sie hatte sich schlicht geweigert zu sehen, was sich unter den Cocktailservietten befand, und zu begreifen, was das Geld, das von einer Hand in die andere wechselte, zu bedeuten hatte.

»Stimmt. Ich habe mindestens hundert Zeuginnen und Zeugen, wann immer ich es tue.«

Laura war nicht sicher, warum ihre Stimme plötzlich zitterte. »Ich werde nicht dahin zurückkehren. Auf keinen Fall.«

»Gut!«, erwiderte Helen. Sie öffnete die Augen, und Laura hatte das Gefühl, in tröstlichen blaugrauen Samt eingehüllt zu werden. »Ich bin überzeugt, dass du das schaffst!«

Laura wusste nicht, warum es ihr so wichtig war, aber sie sagte: »Du solltest zum Broadway zurückkehren. Heirate den netten Mann und verfolge das, was dir am Herzen liegt.«

»Ich weiß nicht, ob ich mutig genug bin.«

»Immerhin hockst du in dieser verdammten Achterbahn.«

Helen schüttelte den Kopf.

»Du hast das Geld zu leben, wo immer du willst. Was ist also der wahre Grund, es nicht zu tun?«

Helen holte tief Luft. »Ich habe Angst, dass ich nirgendwo berühmt werde. Wenn ich zurückgehe und hier in Vergessenheit gerate … dann habe ich überhaupt nichts mehr.«

»Außer dem netten Mann und einem Haufen Geld. Wenn du nicht gehst, dann hast du einen netten Mann, einen Haufen Geld und bereust es dein Leben lang.«

»Stammt das aus einem Stück?« Helen runzelte die Stirn.

»Nicht dass ich wüsste – Mist!«

Helen fluchte im selben Moment, weil sich ihr Zug ruckartig in Bewegung gesetzt hatte. Sie glitten rückwärts, und sie schrien beide, genau wie die Menschen hinter ihnen. Wieder kam der Zug kreischend zum Stehen.

Helens Atem ging kurz und abgehackt. »Ich muss mich übergeben.« Sie warf Laura einen panischen Blick zu.

»Nein, musst du nicht!«, sagte Laura entschieden. »Erzähl mir von Julia. Von Eliza Doolittle.« Helen sah sie verständnislos an. »Erzähl mir von dem ersten Stück, in dem du aufgetreten bist.«

Helen gab sich alle Mühe, das sah Laura. Ihr Atem nahm einen erzwungen gleichförmigen Rhythmus an, und ihre Lippen bewegten sich, als rezitiere sie ein inneres Mantra. »Als Amateurin? Oder als Profi?«

»Als du das erste Mal dafür bezahlt wurdest.«

»Camelot. Als junge Komparsin. Eine Gesangsrolle, noch bevor ich irgendein Stimmtraining absolviert hatte.«

»Stimmtraining – hat das was gebracht?«

»Hat es. Aber damals … ›Wenn ein Amboss singen könnte, dann würde er klingen wie Helen Baynor.‹«

»Aua!«

»Aus einer Kritik in der Lokalzeitung.«

»Wie gemein.«

»Es war die Wahrheit, und es tat weh.« Helen schluckte hart. »Meine Freundinnen haben mir nicht die Wahrheit gesagt, und ich bin froh, dass jemand anders es tat. Ich habe sechs Jahre lang Stimmtraining gemacht. Meine Stimme wurde besser. Ich bin keine Glanznummer, die Sonderapplaus bekommt, aber im Ensemble erfülle ich meinen Part. Und mit Kritiken kann ich inzwischen auch besser umgehen. Manchmal treffen sie voll ins Schwarze. Manchmal sind sie völlig daneben. Manchmal schicke ich einen Kritiker zum Teufel.«

Laura nickte. »Ich weiß, was du meinst. Ich kann einen sogenannten Kritiker mit dem Hackebeil zerstückeln und im Knast landen oder ich lächele und lasse ihn an meinem Erfolg ersticken. Manchmal male ich mir aus, wie ich Leute Jahre später, wenn niemand mich mehr verdächtigt, vergifte. Netter Zeitvertreib.«

»Wenn ich jemals jemanden vergiften möchte, werde ich mich an dich wenden.«

Laura freute sich, dass Helens Gesichtsfarbe zurückkehrte. Sie weiter zum Reden zu bringen war also das Beste. »Und was hältst du von Cats?«

Helen gab einen erstickten Laut von sich, der einem Lachen vermutlich so nah kam, wie es ihr in der Situation möglich war. »Gutes Theater. Ich bin kein Snob – unterhält das Massenpublikum. Aber ich möchte nicht, dass der Broadway mit Cats gleichgesetzt wird. Es muss auch so was wie Tod eines Handlungsreisenden oder Engel in Amerika geben – das war phantastisch! Ich habe es gesehen, als sie es in L.A. einstudierten. Es wird an den Broadway kommen, ins Westend – es ist toll! Solches Theater brauchen wir. Plus Cats. Die Welt wäre ziemlich grau ohne das eine oder das andere.« Helen holte tiefer, gleichmäßiger Luft. »Ich habe wegen Drogen einige Menschen verloren, aber mehr noch wegen Aids. Nachdem ich hierhergezogen war, habe ich viele Leute angerufen, mit denen ich mal gearbeitet hatte, und sie haben mir lange Listen von Männern vorgelesen, die vor kurzem gestorben waren. All diese Beerdigungen. Und es geht immer noch weiter.«

»Niemand unternimmt wirklich etwas dagegen – zumindest nicht soweit ich weiß.« Laura überlegte, ob sie Helen auch ihr zweites Geheimnis anvertrauen konnte. Die Ironie, die darin lag, dass sie Helen ihre Drogengeschichte erzählen konnte, aber daran zweifelte, ob sie ihr erzählen konnte, dass sie lesbisch war, bewog sie zu einem schiefen Lächeln. Würde sich das je ändern?

Helen nahm den Faden wieder auf. »Engel in Amerika – das ist auch so ein Stück. Was, wenn ich der Engel wäre? Der wird verdrahtet, und wenn man Höhenangst hat, kann man die Rolle vergessen.«

»Du schlägst dich tapfer«, sagte Laura. »Das hier ist ein Riesenfortschritt. Sag deiner Agentin, dass du eine Nahtoderfahrung gemacht hast und dass du nach New York zurückgehst. Dein Herz sagt dir, was es möchte, und du wärst dumm, nicht darauf zu hören. Ich bin nie viel im Theater gewesen, aber ich habe Cats gesehen und Das Geheimnis um Edwin Drood.«

»Edwin Drood war großartig – Was war das jetzt?«

»Eine Lautsprecherdurchsage.« Laura beugte sich aus dem Wagen und lauschte angestrengt. »Ich glaube …« Die Durchsage wurde wiederholt. »Sie wollen die Fahrt fortsetzen.« Sie setzte sich auf ihren Platz zurück. »Sie wollen, dass wir Köpfe und Hände wieder reinholen.«

»Du meinst, wir fahren jetzt weiter?« Helen wurde wieder bleich. »Ich hatte mich gerade daran gewöhnt, hier oben zu stehen.«

»Keine Sorge.« Laura löste Helens Hand von dem Schoßbügel. »Halt meine Hand. Alles wird gut. Und das hier ist eine Achterbahn – da hat man eben Angst und schreit.«

Das Klack-klack-klack, mit dem sie hochgezogen wurden, klang unheilvoll.

Helen umklammerte ihre Hand so fest, dass Laura wusste, dass sie ihr später weh tun würde. Es war ihr egal.

»Wenn ich eine reiche, berühmte Theaterschauspielerin bin«, sagte Helen, »dann besuche ich mit meinen reichen, berühmten Freunden dein Restaurant, denn ich weiß, dass du eine reiche, berühmte Gastronomin werden wirst.«

»Ich werde euch ein phantastisches Mahl zubereiten«, versprach Laura.

Klack-klack-klack.

»Ich bin überzeugt, dass du das schaffen wirst.« Helen drückte Lauras Hand noch fester.

Laura war gerührt von Helens blindem Glauben. Sie war nicht sicher, wer hier wessen Rettungsleine war. Sie erwiderte den Händedruck. »Wir schaffen es beide.«

Die Kette löste sich, und der Zug schoss vorwärts. Laura schrie ebenfalls, damit Helen sich nicht so allein fühlte. Die Schwerkraft packte sie, und keine von beiden ließ die Hand der anderen los.

1

 

Dreiundzwanzig Jahre später

 

Bleib ruhig, bleib cool, bleib gelassen. Das Letzte, was Laura Izmani wollte, war, dass die Frau auf der anderen Seite des großen Mahagoni-Schreibtischs ihre Aufregung mitbekam.

Ihr Gegenüber überflog ihre Unterlagen noch einmal. »In Ihrem Lebenslauf finde ich es nicht – ich meine, dass Sie schon einmal als Privatköchin gearbeitet haben.«

»Faktisch habe ich das auch nicht.« Sie bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen und normal zu sprechen, aber ihre potentielle Arbeitgeberin wählte just den Moment, um erneut Blickkontakt aufzunehmen.

Laura war nicht der Typ, der angesichts von schönen Augen errötete und anfing zu stammeln, aber dies waren keine gewöhnlichen Augen. Diese Augen hatten Laura in den zehn Jahren, in denen sie in Manhattan gearbeitet hatte, von Dutzenden Theaterplakaten angeblickt, und seit sie dem Big Apple vor mehr als einem Jahrzehnt den Rücken gekehrt hatte, von zahlreichen Internetseiten. In dem natürlichen Licht, das durch die zarten Gardinen des Arbeitszimmers hereinfiel, sah sie, dass die dichten dunklen Wimpern echt waren und dass das ständig wechselnde Farbspiel der Augen von himmelblau bis hin zu grau nicht getönten Kontaktlinsen geschuldet war. Diese großen, ausdrucksstarken Augen konnten Gefühle vermitteln und sie mit einem Wimpernschlag wieder ausschalten. Diese Augen hatten sich in den letzten dreiundzwanzig Jahren nicht verändert.

Jetzt blinzelte Helen Baynor, und ohne Blickkontakt überlief Laura absurderweise ein kühler Schauder. Atemlos wartete sie auf den nächsten Blick. Liebe Güte! Bring deine Antwort zu Ende, du Idiotin!

Sie verhaspelte sich, fing sich wieder, und dann strömten die Worte nur noch so aus ihr heraus. »Ich habe zehn Jahre in verschiedenen Sternerestaurants in New York gearbeitet und dann mehr als weitere zehn Jahre in den Resorts der Cunard Line.« Zum Glück war sie nun wieder ruhiger und konnte normal weitersprechen. »In der Zeit war ich für private Festessen zuständig und habe für hochkarätige Gäste speziell auf deren individuelle Wünsche abgestimmte Mahlzeiten zubereitet. Daneben habe ich hin und wieder auch Catering angeboten, aber Catering und Mahlzeiten für eine Familie zu kochen sind natürlich zwei völlig unterschiedliche Dinge, selbst wenn in vieler Hinsicht dieselben Fähigkeiten verlangt werden.«

Laura schickte ihren Worten noch ein spätes Lächeln hinterher, das gefror, als Helen Baynor ihr wieder in die Augen sah.

»Warum wollen Sie sich beruflich verändern? Das hier kommt mir – nun, mir scheint, dass die Arbeit als Privatköchin für eine Frau, die Küchenchefin in hochklassigen Restaurants gewesen ist, doch eine eher …« Die vollen, feingezeichneten Lippen verzogen sich zu einem erwartungsvollen Lächeln.

»… niedere Tätigkeit ist?« Auch auf diese Frage war Laura vorbereitet. Industriekapitäne konnten sich vielleicht nicht vorstellen, warum jemand arbeitsmäßig ein paar Stufen runterklettern wollte, aber Helen Baynor vermutlich schon. Laura ließ den Blick zu der bildschönen Bonsaipflanze auf der einen Ecke des fast leeren Schreibtisches schweifen. Der zweite Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war eine seltsam bemalte Skulptur aus ungebranntem Ton, die einen Menschen oder einen Gorilla darstellen mochte. Das Werk eines Kindes, vermutete Laura, vermutlich von einem der beiden Zwillinge, als sie noch jünger waren. »Es gibt einen Zeitpunkt im Leben vieler Küchenchefs, an dem sie das Geld, das sie so hart erarbeitet haben, in die Eröffnung ihres eigenen Restaurants stecken. Das könnte ich auch tun. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass ich dann alles verliere – so geht’s den meisten Gastronomen im ersten Jahr, selbst wenn die Wirtschaft boomt. So wie die Dinge momentan liegen, kann ich mir etwas Riskanteres kaum vorstellen.«

Helen Baynor nickte, und ihr Gesicht blieb aufmerksam. Das könnte gespielt sein, dachte Laura. Sie fuhr fort: »Oder aber ich arbeite am Ende noch härter als ohnehin schon mein Leben lang, um meine Ersparnisse nicht zu verlieren, und dann bin ich plötzlich fünfzig und frage mich, wo mein Leben geblieben ist.«

Endlich hatte sie eine Reaktion hervorgelockt: ein winziges Zucken um Helens Augen. Laura rechnete rasch – wenn sie fünfundvierzig war, dann würde Helen nächsten Monat fünfzig werden. Dümmer geht’s nicht, dachte sie, die potentielle Arbeitgeberin an ihr Alter zu erinnern. Doch in ihren Augen sah Helen fast noch genau so aus wie zwei Jahrzehnte zuvor. Makellos elegant, von natürlicher Schönheit, Jahr um Jahr. Die einzige augenfällige Veränderung war ihre Frisur – statt schulterlang trug sie ihr Haar nun viel kürzer, so dass es in leichten Wellen ihr Gesicht umschmiegte – besser für Theaterperücken geeignet, vermutete Laura.

»Ich habe beträchtliche Ersparnisse, und ich lebe ziemlich bescheiden – keine Zeit für ein ausschweifendes Leben«, fuhr sie fort. »Ich fühle mich schon seit einiger Zeit rastlos. Mein Repertoire ist zu nichts als langweiligen Tellergerichten geschrumpft, auch wenn ich sie aus hochwertigen Zutaten zubereite. Originelle Gerichte mit Flair, die aus dem zubereitet werden, was an dem Tag frisch im Angebot ist, stehen nicht auf der Wunschliste des Managements, und ein Wechsel in der Führungsspitze im letzten Resort hat mir den Impuls gegeben, den ich gebraucht habe. Ich wäre gern Teil einer Gemeinschaft von talentierten Kochprofis und möchte nicht jeden Abend mit den Menschen konkurrieren, mit denen ich gern befreundet wäre. Ich habe eine Handvoll Referenzen, und eine hat mich hierhergeführt, in diesen Teil Kaliforniens. Vor vielen Jahren habe ich in Santa Cruz gelebt, und von daher ist diese Gegend hier auch so etwas wie mein Zuhause.«

Helen warf einen flüchtigen Blick auf die zweite Seite der Bewerbung. »Ihre Referenzen sind beeindruckend. Ich kenne die Merchants, und David Connelly ist ein großer Freund des Theaters.«

Laura nickte. »Ich habe sie in Bali kennengelernt. Für Davids Familie habe ich das Basismenü entwickelt, damit sie alle das gleiche essen konnten und die Allergien seiner Tochter dennoch Berücksichtigung fanden. Es war ihm wichtig, dass sie sich bei den gemeinsamen Mahlzeiten nicht ausgeschlossen fühlt, die anderen aber wiederum nicht das Gefühl haben, sie bekämen nur noch Reis und Soja zu essen. Wenn sie auswärts speisen, können alle Milch- und Weizenprodukte essen, soviel sie wollen. Zu Hause jedoch gibt es weder Milchprodukte noch Gluten.«

»Ist das der Grund, warum David vor einigen Jahren so abgenommen hat?« Diesmal war das Lächeln echt, und plötzlich war Helen Baynor keine berühmte Theaterschauspielerin mehr, sondern die Art von Frau, mit der man im Coffeeshop ins Gespräch kam oder an der Supermarktkasse oder in der Schlange, die Tickets zum halben Preis kaufen wollte. Mit der man die Art von Gespräch führte, die dem restlichen Tag Glanz verlieh – die Art von Gespräch, die man nie vergaß. Tja, Helen schien es offensichtlich vergessen zu haben.

Laura nickte, verhalten hoffnungsvoll. »Eine Diätassistentin hat die Grundnahrungsmittel zusammengestellt, und ich habe daraus einen Grundstock an Rezepten entwickelt, den ihre Köchin verwenden und variieren kann. Bisher finden sie ihren Speiseplan noch nicht langweilig. Aber die Art zu kochen erfordert Zeit und Aufmerksamkeit. Ihre Tochter hat vor allem ein Problem mit Konservierungsmitteln und Farbstoffen, stimmt’s?«

Falls Helen überrascht war, dass Laura über diese vertraulichen Informationen verfügte, ließ sie es sich nicht anmerken. Laura hatte sich daran erinnert, dass es Ende der neunziger Jahre in einem Interview im Parade Magazine erwähnt worden war.

»Zusatzstoffe und Konservierungsmittel sind ein echtes Problem. Sie lösen Schuppenflechte und manchmal auch Migräne aus. Meine Tochter hat monatelang kein Problem, und dann rutscht plötzlich doch was durch. In letzter Zeit war es ziemlich übel. Die letzte Köchin war nicht so sorgsam, wie sie versprochen hat. Wir brauchen einen gemeinschaftlichen Bioanbau.«

»Das wäre großartig – aber dafür benötigen Sie Land.«

»Land abzugeben – dazu sind hier in der Gegend nur wenige bereit.« Helen lächelte und fügte hinzu: »Auch wenn sie alle Bio einkaufen.«

Laura grinste. »Jede Gemeinde, die es seit Jahren schafft, Steve Jobs daran zu hindern, sein Haus abzureißen und auf seinem eigenen Grund und Boden ein neues zu bauen, hat einen tiefverwurzelten Sinn für … Stadtästhetik.«

»Sehr diplomatisch ausgedrückt«, sagte Helen trocken.

»Stimmt es, dass es im Internet keine anständige Karte von Woodside gibt, weil ein Google-Milliardär in der Gegend die Satellitenaufnahmen manipuliert?«

Helen lachte. »Wenn das jemand könnte, dann der, denke ich. Wir hier schätzen unsere Privatsphäre.«

»Es ist bestimmt nicht so einfach«, erwiderte Laura und wählte ihre Worte sorgfältig, »im Licht der Öffentlichkeit zu stehen und dennoch die Familie weitgehend davor zu bewahren.«

»Stimmt. Deshalb würde ich dieses Haus niemals aufgeben. Psychologisch könnte es nicht weiter vom Broadway entfernt sein. Als meine Kinder alt genug waren, um zu begreifen, dass ich berühmt bin, habe ich beschlossen, aus Manhattan wegzuziehen. Ich habe einen irrwitzigen Terminkalender, wenn ich dort bin, aber das hier ist unser Zuhause. Auch wenn ich nicht ständig hier bin – für die Kinder ist es sieben Tage in der Woche ihr Heim. Und aus dem Grund brauche ich eine Köchin – vier Abende in der Woche – eine Frau, die jeden Aspekt der Küche genauestens im Blick hat und die Vorräte auffüllt, so dass wir für uns kochen können, wenn ich daheim bin. Ich muss wissen, dass ich in die Speisekammer, die Gefriertruhe, den Kühlschrank greifen kann, ohne auf der Hut sein zu müssen. Meine Zeit ist kostbar, und ich möchte sie mit meinen Kindern verbringen und kochen können, ohne Nahrungsmittelbestandteillisten studieren zu müssen. Julies Attacken sind einfach schrecklich.«

»Ich möchte bestimmt nicht die Köchin sein, die ihr etwas Unbekömmliches vorsetzt.« Laura erwog, was Helen gesagt hatte. Es genügte, den Eingangsbereich und dieses Arbeitszimmer zu sehen, um zu wissen, dass Helen Baynors Haus ein echtes Anwesen aus den zwanziger Jahren war. Als es gebaut wurde, war Woodside ein abgeschiedener kleiner Ort, der ein ganzes Stück von dem verschlafenen kleinen San José entfernt war. Es hieß, Woodside sei einst das heimliche Liebesnest von Jo DiMaggio und Marilyn Monroe gewesen. San José und die Ausläufer von Silicon Valley gingen nun fast ineinander über, aber Woodside war noch immer abgeschieden.

Laura hatte den Glamourstar einer äußerst erfolgreichen Polizeiserie auf dem Wochenmarkt einkaufen sehen, die berühmte blonde Lockenpracht unter einem abgetragenen Panamahut verborgen. Sie hatte mit ihrem Mann, einem ebenso berühmten Filmstar, die Vorzüge von nordamerikanischem Maismehl versus italienischer Polenta erörtert. Hätte es sich nicht um zwei Berühmtheiten gehandelt, hätte Laura wahrscheinlich ihren Senf zu dem Thema beigesteuert: Maismehl ist fast überall auf der Welt das gleiche, während es sich bei Polenta um einen aus Maisgrieß gekochten festen Brei handelt, der traditioneller Bestandteil beispielsweise der italienischen Küche ist. Aber die beiden genossen ihre Debatte, und niemand sonst schenkte ihnen die geringste Aufmerksamkeit, also überließ Laura die beiden sich selbst.

Sie hätte die Begegnung beinahe erwähnt, doch dann befürchtete sie, es klänge vielleicht, als hätte sie Stars begafft. Die Begegnung machte Laura einmal mehr deutlich, was die alte, hermetisch abgeschlossene Enklave von Woodside ihren Bewohnerinnen und Bewohnern bot. Ein Star wie Helen Baynor konnte in Manhattan keine zwei Schritte tun, ohne von Kameras und Autogrammwünschen bedrängt zu werden. Laura begriff allmählich, dass die Menschen in Nordkalifornien, völlig anders als im südlichen Teil des Landes, stolz darauf waren, sich nicht einmal von einer Lady Gaga gaga machen zu lassen. Es ging das Gerücht, dass Paris Hilton San Francisco besucht habe und umgehend wieder abgereist sei, weil ihr niemand Beachtung geschenkt hatte.

Laura kehrte abrupt in die Gegenwart zurück. Das hier war kein nettes Plauderstündchen, das sich ergab, weil sie zwanzig Meter hoch über dem Boden in der Luft feststeckten. Sie musste diesen Job erst noch bekommen, und der Job war der einzige Grund, warum sie sich für die Stadt interessierte. Sie war nur zufällig auf Helen Baynors Namen gestoßen – David Connelly hatte ihn ihr zusammen mit mehreren anderen genannt. Es war ihr nicht wie ein Wink des Schicksals vorgekommen …

»Ich koche, damit sich die Menschen wohlfühlen, nicht krank«, sagte Laura dann. »Wenn ich meistens nur für Ihre Kinder und die Haushälterin kochen würde und außer auf mich auf niemanden sonst aufpassen müsste, dann würde ich die Küche sozusagen als mein Reich betrachten. Und da redet mir niemand rein.«

Helen Baynor nickte, und diesmal verspürte Laura eine leichte Ungeduld, das Gespräch zu beenden. »Meine Hauswirtschafterin ist auch noch nicht lange bei mir –