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Frauen im Sinn

Verlag Krug & Schadenberg

 

 

 

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Literatur deutschsprachiger und internationaler Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane, historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen rund um das lesbische Leben.

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de

 

 

Cynthia Kear

 

In deinen Armen tanzt mein Herz

 

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch

von Andrea Krug

 

 

 

K&S digital

 

 

Für Pegie Connaughton

1962-2002

Ewig geliebt

Danksagung

 

 

Die Ermutigung durch verschiedene frühe Leserinnen, allen voran meine Mutter, Joan Lyons Kear, hat mich beflügelt.

Michael Mannion hat mich großzügig von seiner beruflichen Erfahrung und seinem Rat profitieren lassen. Dieses Buch wurde auf unseren Spaziergängen durch sein New York zum Leben erweckt.

Karin Evans, Susan Hogeland, Michael Murphy und Kathleen Taggart haben mich individuell wie kollektiv reich beschenkt – mit ihrer Intelligenz, ihrer Einsicht und ihrer Freundschaft.

Meine Schwester, Pegie Connaughton, versorgte mich mit einem nie versiegenden Strom liebevoller Unterstützung.

Andrea Krug hat mich gesucht und gefunden. Eine glückliche Fügung.

Allen Genannten gilt mein herzlicher Dank.

Fahles Sonnenlicht,

fahl die Wand.

 

Die Liebe geht,

das Licht wechselt.

 

Ich brauche mehr Gnade,

als ich dachte.

 

Rumi

 

Erster Teil

Der Landrover folgte der holprigen Straße, eine Staubwolke im Schlepptau, und durchquerte die weite Fläche der goldenen Landschaft. Die drei Insassinnen wurden ordentlich durchgerüttelt. Sie fuhren von Nairobi aus südwärts und hatten soeben die Grenze nach Tansania überquert. Bei Sonnenaufgang waren sie aufgebrochen; jetzt stand die Mittagssonne direkt über ihnen.

»Also – warum um alles in der Welt hast du ihn eingeladen?« Roz warf Mead einen scharfen Blick zu.

Mead hielt den Blick aufs Fenster geheftet, während sie antwortete. »Ich habe ihn nicht eingeladen. Er hat sich selbst eingeladen.«

Roz’ Hände lagen fest auf dem Lenkrad, das auf der schlechten Straße kaum stillzuhalten war. »Aha«, erwiderte sie zweifelnd.

»Glaub mir, Roz, ich habe ihn nicht eingeladen.«

Vom Rücksitz rief Linda: »Worüber redet ihr da vorn?«

Roz rief über die Schulter zurück. »Wir reden von Lover Boy, der im Begriff ist, sich uns bei unserem Kilimandscharo-Trip aufzudrängen, der, wie ich dich erinnern darf, von uns als reiner Frauenausflug geplant war.«

»Was?«, rief Linda.

Roz schüttelte den Kopf und rief zurück: »Die Landschaft.«

»Ja!«, erwiderte Linda. »Seit wir in Makuyuni die Asphaltstraße verlassen haben, ist es wie in einer anderen Welt. Großartig, nicht?«

Mead wandte sich Roz zu, die ein amüsiertes Lächeln aufsetzte. »Großartig«, stimmte sie trocken zu und meinte dann: »Nun, Mead, wenn er sich selbst eingeladen hat, warum in Gottes Namen hast du ihn dann nicht ausgeladen?«

»Es ist nicht so einfach, Peter abzuweisen.«

»Oh, sind wir seinem animalischen Magnetismus wehrlos ausgeliefert?«, spottete Roz.

Linda, deren gelöstes Haar ihr ums Gesicht peitschte, meldete sich wieder von hinten. »Wie weit ist es noch bis zum Eingang des Parks?«

Roz war von der erneuten Unterbrechung genervt. Sie blickte auf den Tachometer. »Zwanzig Kilometer«, rief sie kurzangebunden zurück. Im Spiegel auf der Rückseite der Sonnenblende sah Mead, wie Linda zusammenzuckte. Mead warf Roz einen vorwurfsvollen Blick zu, den diese vollkommen ignorierte.

»Also?« Roz war beharrlich. »Sind wir? Wehrlos?«

»Hör mal, es tut mir leid. Du bist genervt. Das wäre ich auch.«

»Das ist eine ziemlich dürftige Entschuldigung.«

»Ich weiß, dass wir gesagt haben, wir wollten unter uns sein. Aber es ging nicht. Es ist kompliziert. Eine dieser schrecklich langen, langweiligen Geschichten. Außerdem – wenn du ihn kennenlernst, wirst du es schon sehen.«

»Hätten wir Keuschheitsgürtel einpacken sollen?«

Mead stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte sich von Roz’ Enttäuschung und Sarkasmus ab. Durch das geöffnete Fenster ließ sie den Blick erwartungsvoll über die tansanische Landschaft schweifen. »Wart’s ab und sieh selbst.«

 

Elizabeth sah von ihrem Bildschirm auf und blickte zum Fenster hinaus in die stahlblaue Dämmerung des Winternachmittags. Die Straßen dort unten waren von den grauen Überresten des Schneefalls der vergangenen Woche gesäumt. Der Central Park war von einer harten, dünnen weißen Schicht bedeckt, die nur von den Felsformationen durchbrochen wurde und von den Stellen, an denen die Kinder den Hügel durch ihr Schlittenfahren in Matsch verwandelt hatten. Als Elizabeth die Fifth Avenue entlangblickte, über das Plaza Hotel hinaus, registrierte sie die Weihnachtsdekoration der verschiedenen Geschäfte und Hotels. Ein Schauder überlief sie, während sie nachspürte, wie der Tag durch die Doppelfenster drang und die Scheiben an den Rändern beschlugen, als die verstohlene Kälte auf die zischende Wärme ihres Arbeitszimmers traf. Von ihrem Aussichtspunkt aus sah der Abend trotz der bitteren Kälte einladend aus: das Gewusel in der Dämmerung; die Taxis Stoßstange an Stoßstange, die gelbe Blöcke in den schwarzen Straßen bildeten; die Menschen, die die Gehwege füllten und in alle Richtungen eilten. Sie konnte ihr glücklich-erleichtertes Lachen nahezu hören.

Eine Sehnsucht zerrte plötzlich an Elizabeths sonst so unerschütterlichem Herzen. Sie wünschte, sie hätte all ihre Kinder für einige Tage zusammenrufen können, wünschte, sie wären eine eng verwobene Gruppe, die frohgemut auf dem Weg zu einem gemütlichen Restaurant war oder zum Lincoln Center. Doch Avery war auf einer Hundeschlitten-Tour in Kanada, Rand und Tricia hatten sich darauf verständigt, dieses Jahr Tricias Eltern zu besuchen, Luce war in San Francisco und Mead war in Afrika. Mit einem halben Seufzen, bis zu dem Punkt, an dem sie den Schmerz spüren, aber nicht loslassen konnte – denn das wollte sie keinesfalls –, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm.

Sie sollte ihren Abschweifungen mehr Aufmerksamkeit schenken; diese kleinen mentalen Exkurse konnten ziemlich kostspielig werden, wenn sie wie gerade jetzt online war. Ja, dachte sie, ich bin online, ich surfe durch das Internet, sause über den Daten-Highway, hole eine E-Mail von Mead ab, meiner jüngsten Tochter, die sich mit einem Forschungsstipendium in Afrika aufhält. Nein, nein, sie holte keine E-Mail ab. Sie lud etwas herunter. Sie, Mrs. Walter William Bennett, Gattin des distinguierten Dr. Walter William Bennett, eines Chirurgen im Ruhestand, der durchaus über eine gewisse Reputation verfügte, saß in ihrem Arbeitszimmer in ihrer Eigentumswohnung in Manhattan und lud sich Meads letzte E-Mail aus Nairobi herunter. Siebzig Jahre war sie alt, und sie suchte sich ihren Weg durch das World Wide Web. In dem Blaugrau ihres Bildschirms, in dem Blaugrau der winterlichen Dämmerung erfüllte ein unstrittiges Funkeln ihre immergrünen Augen, als sie mit einem Gutmaß an Befriedigung lächelte.

Sie war keine schöne Frau. Das würde niemand, der sie betrachtete, behaupten. Viele sagten, sie sähe wunderbar aus, aber Elizabeth schrieb das entweder deren Manieriertheit zu oder ihrer Überraschung darüber, dass sie überhaupt noch am Leben war. Doch ein jeder würde zustimmen, dass sie von einer lebhaften Intelligenz beseelt war, und die meisten bescheinigten ihr ein einnehmendes Wesen und fanden sie stets auf dem Laufenden. Sie stand in dem Ruf, gelegentliche Ausbrüche von Ehrlichkeit zu haben, die ziemlich entwaffnend, für gewöhnlich unverhohlen und zumeist amüsant waren. In meinem Alter kann ich mir einiges erlauben, dachte sie. In der Tat.

Ein gewisser gebändigter Puritanismus zeichnete sich in ihren kantigen Gesichtszügen ab, trotz ihres Aufwachsens im Mittleren Westen, trotz ihrer atheistischen Grundhaltung. Vielleicht war das ihrem blassen Teint geschuldet, ihren schmalen Lippen, ihrer geraden Nase und ihrer flachen Stirn – Züge, die allesamt von einem praktischen Wesen, harter Arbeit, Sparsamkeit und Disziplin zeugten. Selbst mit dem feinen Netz von Falten war ihr Gesicht keineswegs schlaff. Es wies eine Straffheit auf, die auf ein kontrolliertes, maßvolles Leben hindeutete, nicht auf Besorgnis oder Nervosität. Diese Eigenschaften hatte Elizabeth Jahrzehnte zuvor abgelegt, weil sie sie letztlich für vollkommen nutzlos hielt. Ballast, hatte sie damals leichthin gesagt, in einem Ton, den sie stets anschlug, wenn sie ihrer Familie eine bedeutsame persönliche Entscheidung kundtat.

Auf dem Bildschirm erschien eine weitere Fortsetzung von Meads Kenianischen Briefen. »Mutter«, hatte Mead in die Tasten getippt, und noch Tausende von Kilometer entfernt konnte Elizabeth ihre Gereiztheit vernehmen, »Mutter, dies sind schlicht kurze Notizen, Briefe, die ich Dir auf elektronischem, statt postalischem Wege schicke. Mach nicht mehr daraus, als es ist.« Das war an jenem Tag ihr einziger Eintrag gewesen; sie wollte ihre Botschaft weder verwässern noch ihrer Mutter die Gelegenheit bieten, sie unter mehreren Gedanken zu übersehen.

Elizabeth verstand die Botschaft natürlich, ebenso wie sie sie verstanden hätte, wenn Mead sie in wortreichen Absätzen verborgen hätte. Sie beschloss, sie zu ignorieren; sie kannte die Neigung ihrer Tochter zur Genüge, ihre Verdienste zu schmälern, sich selbst herabzusetzen. Dabei konnte jeder die Bedeutsamkeit der Ereignisse, die Mead aufzeichnete, ermessen. Eine vielversprechende junge Ärztin, spezialisiert auf Infektionskrankheiten, die einer renommierten Klinik in Chicago angehörte und sich im Rahmen eines Forschungsstipendiums und somit voll finanziert an einem Krankenhaus in Nairobi aufhielt. Knapp fünfunddreißig Jahre alt. Und neben ihrer wichtigen Arbeit hatten sie und einige Kolleginnen aus dem Gesundheitswesen beschlossen, den Kilimandscharo zu erklimmen. Bedeutsame Arbeit kombiniert mit einem Abenteuer, aus der Sicht einer Medizinerin auf der Überholspur. Nun, man muss nicht ihre Mutter sein, dachte Elizabeth, um die Notwendigkeit zu erkennen, diese Zeit, diese Erfahrungen festzuhalten und zu bewahren. Und wenn sie ihren Teil dazu beitragen konnte, indem sie den Prozess editorisch begleitete, würde sie das nur zu gerne tun.

»Die afrikanische Sonne ist ganz schön trügerisch«, schrieb Mead. »Sie scheint lediglich warm zu sein, aber wenn du nicht an sie gewöhnt bist, hat sie dich im Nu verbrutzelt. Ohne all die Abgase von den Autos und Lastwagen und Bussen wäre die Luft ziemlich mild, aber der Verkehr bringt alles zum Ersticken. All die Menschen vom Lande, die ihre Erzeugnisse, ihr Gemüse des Nachts in die Stadt schaffen, machen einen höllischen Lärm. Wie im antiken Rom. Ich freue mich auf eine Dosis Hochgebirgsluft. Auf Ruhe. Und darauf, einfach mal fortzukommen.

Das Leid hier ist so unvermittelt. Die Verheerung nicht zu leugnen. Jeden Tag strömen Hunderte von Flüchtlingen in die Stadt – aus Uganda, Ruanda, Burundi, dem Sudan. Ohne Unterlass. Ihr Leben ist so primitiv, besonders im Schmerz. Führt mich zu der Erkenntnis, wie privilegiert ich bin in meiner Arbeit im Krankenhaus und im Labor.

Obwohl ich die Zahlen kannte, bevor ich hier ankam, überwältigen mich die Gesichter, die unendlich vielen Gesichter dieser Statistiken nahezu. Die Hochrechnungen besagen, dass in Subsahara-Afrika in naher Zukunft einunddreißig Prozent aller HIV-Infizierten und Aids-Kranken leben. Und die Menschen dort bilden nur zehn Prozent der Weltbevölkerung. Die Quote der Männer-Frauen-Ansteckung ist eins zu eins, und hier leben neunzig Prozent aller infizierten Kinder. Bereits anderthalb Millionen Kinder sind im Rahmen dieser Pandemie zu Waisen geworden.

Die Bevölkerung von Nairobi liegt bei über einer Million, obwohl niemand über genaue Zahlen verfügt. Der letzte Zensus erfolgte in den späten achtziger Jahren. Doch mit einer jährlichen Wachstumsrate von über vier Prozent und mit all den Menschen, die fortwährend dazuströmen, wer weiß? Selbst wenn es nur eine Million sind, kommt es mir vor, als hätte ich bereits jeden zweiten Menschen gesehen. Und die andere Hälfte hat entweder versucht, mir etwas zu verkaufen oder wollte mich bewegen, ihnen etwas zu kaufen. Es ist eine vollkommen surreale Umgebung – in der Schönheit, Unschuld, Unwissenheit und Plage zusammenspielen. Vermutlich zusammengehalten durch Schlafmangel.«

 

Elizabeth hielt in ihrer Lektüre inne, um sich Mead vor Augen zu führen, Mead ganz in Khaki, bis auf ihren weißen Laborkittel, völlig erschöpft aussehend, umgeben von still flehenden, fliegenbedeckten Gesichtern, und Mead wie immer ruhig, beharrlich vorgehend.

Die Wohnungstür ging auf und wieder zu. Walter hing seinen Mantel auf, nahm die Post an sich und die Abendzeitung, alles ordentlich von ihr auf dem Flurtischchen zurechtgelegt, und rief: »Lizbeth?« In dem blauen Licht des Bildschirms schüttelte sie sich sachte aus ihrer Träumerei und zog den Rollkragen ihres Pullovers bis an ihr Kinn hoch.

 

Die Halogenlampe auf dem Sideboard hinter Jacob Malowitz warf einen Schimmer wie ein Ganzkörper-Glorienschein. Luce saß ihm auf einem edlen schwarzen Lederstuhl am Schreibtisch gegenüber und fand, dass sie sein Porträt malen sollte. Galerist mit Glorienschein?, überlegte sie. Gute Fee, erleuchtet? Sie kicherte innerlich, während sie Jacob weiter zuhörte.

»Wirklich, Luce, die letzten Bilder, die du mir geschickt hast, sind unglaublich. Der Artikel in Art World war natürlich förderlich, klar, aber kaum habe ich ein Bild aufgehängt, ist es auch schon verkauft.«

»Jetzt bin ich also auch bei den Kritikern ein Erfolg?«, fragte Luce leichthin, doch mit einer Spur Sarkasmus.

»Die Kritiker lieben deine neuen Arbeiten.« Er lächelte komplizenhaft. »Und sie verkaufen sich. Das macht doppelten Erfolg.«

»Meine neue spirituelle Ausrichtung erweist sich als der Hit«, bemerkte Luce ironisch.

»Diese Kunstkritiker – scharfsichtig und scharfsinnig wie eh und je. Entschuldige bitte.« Jacob nahm einen Anruf auf seiner Direktleitung entgegen, dann einen weiteren, und die ganze Zeit über sah er Luce von glücklicher Zuversicht erfüllt an.

Luce machte es nichts aus. Im Gegenteil, sie genoss die Unterbrechungen geradezu, das elektrisierende Summen geschäftlicher Angelegenheiten, vor allem wenn es um ihre geschäftlichen Angelegenheiten ging. Die fortwährenden Anrufe, das rege Treiben bildeten einen scharfen Kontrast zur Abgeschiedenheit und Stille ihres Ateliers, wunderbar in ihrer Unvorhersehbarkeit. Und sie mochte es, Jacob bei der Arbeit zuzusehen, dem meisterhaften Kunstkritiker, dem meisterhaften Kurator, dem meisterhaften Promoter, dem meisterhaften Verkäufer. Über all die Zeit, die sie beide unterdessen zusammenarbeiteten, seit er zehn Jahre zuvor auf ihre Arbeiten in ihrem Greenpoint-Atelier aufmerksam geworden war, hatte Luce beobachten können, wie seine Meisterschaft sich entwickelte.

Während sie jetzt in den Raum saß, der ihr so vertraut war, jedes Detail in ihr Gedächtnis gemeißelt, und Jacob zuhörte, wie er geschmeidig von echter Leidenschaft zum kühl kalkulierten tadellosen Abschluss überging, war Luce von genüsslicher Bewunderung erfüllt. Jacob verkaufte ihre Nachbarschaft-Serie, eine Sammlung von Gemälden, die sich mit kalifornischen Highway-Landschaften befassten, einem Pariser Galeriebesitzer. Jacob, dachte Luce und kehrte zu ihrem mentalen Porträt zurück, ein eleganter Panther, gekleidet in das obligatorische Schwarz der Kunstwelt, eine Studie in Schwarz mit seinem edlen Doppelreiher, dem schwarzen T-Shirt (durfte man etwas, das vermutlich hundert Dollar gekostet hatte, T-Shirt nennen?, fragte sich Luce), den erlesenen schwarzen italienischen Slippern, der schwarzen Designerdrahtbrille, dem graumelierten Haarschnitt, dessen Schlichtheit von teuer kündete. Abgesehen von seiner Persönlichkeit, die sie wahrhaft liebenswert fand, war er in ihren Augen ein wunderschöner Mensch, ganz Geschmeidigkeit und Fluss und Ebenmaß. Sein ganzes Gebaren zeugte von Sensibilität, Erfolg und Selbstsicherheit. Von der Arroganz, der Armut und Verzweiflung, die sie vage erschnuppert hatte, als sie sich kennenlernten, war nicht ein Hauch zurückgeblieben. In dem fensterlosen Büro, asketisch und rein, malte Luce in Gedanken seine tiefbraunen Augen, seine scharf konturierte, leicht hakenförmige Nase, seinen kleinen volllippigen Mund. Jüdischer Heiliger, titelte sie spielerisch. Und als sie ihn aus scharfkantigen Flächen zusammensetzte, die sie mit ihrem geistigen Spachtel auftrug, malte sie mit einer von Einsicht geprägten Palette, die sie in den Jahren ihrer Verbindung gewonnen hatte, einer Verbindung, die sowohl beruflicher wie persönlicher Natur war. Luce gestattete sich, an jenen Sonntagnachmittag zurückzudenken, an dem sie sich kennengelernt hatten, dem einzigen Lichtblick an einem Wochenende der offenen Ateliers. Es war ihr Atelier in Greenpoint gewesen. Ihr erstes Atelier. Ein kleiner trostloser Raum, an den sie stets gern zurückdenken würde, nicht das geräumige Atelier, das sie heute besaß, in einem Viertel, das sich zum trendigen Multimedia-Bezirk von San Francisco entwickelt hatte.

 

Jacob, ganz Kurator, hatte Luces Gemälde nachdenklich betrachtet. Nach quälend langem Schweigen hatte er mit ruhiger Stimme gesagt: »Gefällt mir. Gefällt mir, was Sie hier gemacht haben.« An jenem Wochenende hatte sie sich geschworen, nie mehr an einem Tag der offenen Tür teilzunehmen, und zum hundertsten Mal beschlossen, heimzugehen und die Stellenanzeigen zu lesen. Sie fühlte sich ganz wund von den geistlosen Kommentaren, die die Leute gedankenlos von sich gaben. Sie fühlte sich entblößt, ausgeliefert. Luce hatte den Atem angehalten und auf das übliche »Aber« gewartet. Doch es war nicht gekommen.

Luce, damals noch viel jünger, hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass ihre gegenständliche Malerei auf Herablassung stieß und von der zeitgenössischen Kunstelite als überholt betrachtet wurde. Seit sie die Kunsthochschule verlassen hatte, hatte sie einige Versuche in Richtung abstrakte Malerei und Expressionismus unternommen, sie hatte verschiedene Stilrichtungen kombiniert und sich alle Mühe gegeben, dem Zeitgeist zu entsprechen. Doch es war ihr alles nicht authentisch erschienen und hatte ihr Auge beleidigt. Ihre Arbeit war bemüht. Sie floss nicht vom Herzen in ihren Arm, erfüllte ihre Hände nicht, ließ den Pinsel nicht mit ihren Fingerspitzen verschmelzen. Schließlich verbrannte sie die halbherzigen Versuche, die auf Anerkennung zielten, und kehrte mit einer bis dahin ungekannten Gewissheit und Resignation zu ihrer gegenständlichen Malweise zurück. Sie kehrte zu ihrem Stil zurück wie zu dem Thema, das in ihr auf Widerhall stieß. Und so war es ein Bild ihres Vaters gewesen, das Jacob an jenem Wochenende betrachtet hatte.

Jacob hatte seinen eifrigen, durchdringenden Blick von der Leinwand auf Luce gerichtet. »Erzählen Sie mir etwas über dieses Bild.« Er trat zurück, damit sie den zentralen Platz vor dem Bild einnehmen konnte.

»Es stellt meinen Vater da, wie er auf der Veranda unseres Sommerhauses an der Küste sitzt.« Ihr versagte die Zunge, als hätte sich ihr Gehirn plötzlich ausgeklinkt. Sie hatte nie zuvor mit jemandem über ihre Arbeiten gesprochen, von einigen Freundinnen und Freunden abgesehen. Jetzt fühlte sie sich befangen, der Aufgabe nicht gewachsen.

»Es ist erstaunlich, wie Sie die sengende Hitze jenes Tages mit einem deutlich wahrnehmbaren Raum um ihn herum kombiniert haben, der schreckliche Kälte ausstrahlt. Gefällt mir, wie beides nebeneinander existiert.«

»Auf der Leinwand ist die Dynamik schöner als im wahren Leben.«

Jacob hatte gelacht. »Familien – Gott sei Dank liefern sie uns zumindest guten Stoff.« Sein Ton nahm ihr die Befangenheit. »Die Proportion der Veranda, die weite See, das ist alles maßstabsgerecht, und dennoch erzeugen Sie den Eindruck, dass er das Bild dominiert. Trotz seiner Platzierung am fernen Ende der Leinwand habe ich beim Betrachten das Gefühl, als ziehe er mich wirbelartig an. Unfreiwillig. Die Spannung ist nahezu greifbar. Sie haben ziemlich viel Talent.« Er sah sie direkt an. »Ich möchte dieses Bild in meiner Galerie ausstellen.«

 

Damals befand sich Jacobs Galerie im dritten Stock eines heruntergekommenen Gebäudes in einer Nebenstraße der Prince Street. Heute nahm sie ein ganzes Gebäude ein, das er erworben, nicht gemietet hatte, Ecke Green Street und Broadway. Luce verfügte über eine Wand, die stets für alles reserviert war, das sie ihm schickte. So vieles hatte sich verändert, sinnierte sie.

»Luce, isst du heute mit mir zu Abend?« Er legte den Hörer auf und sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an. »Es gibt da jemanden, den ich dir vorstellen möchte.«

»Ah, verstehe. Und um wen handelt es sich?«

»Um eine Frau, die ich vor einigen Wochen kennengelernt habe. Sie heißt Jennifer. Sie ist wundervoll. Ich glaube, das könnte sie sein.«

Luce lächelte und biss sich auf die Zunge. Sie wollte Jacob nicht an die vielen Male erinnern, die sie genau diese Worte schon von ihm vernommen hatte. Nach all den Jahren hatte sie gelernt, seinen tiefverwurzelten Optimismus zu respektieren. Und über ihn zu staunen, manchmal sogar mit einer Spur von Neid.

»Heute nicht, Jacob. Ich treffe mich mit einer alten Freundin.« Jacob runzelte fragend die Stirn.

»Bloß eine alte Freundin, Jacob.«

»Hör mal, ich werde dich nicht durch das Netz flutschen lassen in den nächsten Tagen. Du kannst nicht einfach nur aus geschäftlichen Gründen kommen und bloß zur Eröffnung deiner Ausstellung erscheinen. Wie wär’s also mit morgen Abend?«

Luce schüttelte den Kopf.

»Übermorgen?«

»Gern. Ruf mich morgens in meinem Hotel an.« Sie trat um den Schreibtisch herum zu ihm. Das Telefon klingelte erneut, als er sich erhob. Sie drückte ihn sanft auf den Stuhl zurück, reichte ihm den Hörer und beugte sich hinunter, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken.

»Könnte ein wichtiges Angebot sein«, flüsterte sie.

Er lächelte, griff nach ihrer Hand, als sie von seiner Schulter glitt, und hielt sie kurz fest. »Bald«, formulierte er stumm, »Neuigkeiten austauschen.«

Luce ging durch den Hauptraum der Galerie, in dem es vor Geschäftigkeit summte. Jacobs Angestellte legten letzte Hand an ihre Ausstellung. Einige von ihnen lächelten sie unterwürfig an, und sie spürte, wie sie ein tiefer Schauer des Unbehagens überlief. Sie hielt ihren Blick geradeaus gerichtet und hoffte, dass ihre äußere Gelassenheit das Gefühl von Furcht, das sie empfand, verbarg. Durch die gläserne Eingangstür erblickte sie die sich herabsenkende Dunkelheit, die von den Lichtern der Stadt und namenlosen Menschen erfüllt war. Sie trat nach draußen, zog die Tür fest hinter sich zu und atmete die frische Winterluft und die Anonymität tief ein.

 

Linda beugte sich vor, wies mit der Hand und schrie über den Fahrtwind hinweg, der durch alle vier geöffneten Fenster des Landrovers hereinknatterte: »Lasst uns bei dem See dort drüben anhalten! Wir können uns umsehen und uns ein bisschen die Beine vertreten. Mir schläft mein Allerwertester nämlich allmählich ein.«

Der Landrover geriet in ein tiefes Schlagloch, und alle drei Frauen wurden nach oben geschleudert, wobei Linda mit dem Kopf an das Dach schlug.

»Mist!«, fluchte sie und rieb sich den Schädel.

»Ist wohl ein Zeichen dafür, dass es Zeit zum Mittagessen ist.« Roz lächelte hinterhältig und bremste abrupt. Linda wurde nach vorn geschleudert und knallte mit dem Kinn gegen die Rücklehne von Roz’ Sitz. »Tut mir leid«, meinte Roz und stieg lässig aus.

»Autsch!«, sagte Mead mitleidig. »Alles in Ordnung?«

»Ich glaube schon«, murmelte Linda.

»Wie gut, dass du mit fachkundigen Ärztinnen unterwegs bist, nicht?«, witzelte Mead lahm.

Linda war nicht zum Scherzen aufgelegt. »Ich begreife allmählich, warum die Todesrate runtergeht, wenn die Ärzte streiken. Ihr seid ein echtes Gesundheitsrisiko.«

Sie stieg aus, unterdrückte den Impuls, die Tür zuzuknallen, und stürmte in die entgegengesetzte Richtung davon, derweil Roz mit entschiedenen Schritten den Weg zum See eingeschlagen hatte. Mead lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Sie konnte es kaum fassen, dass sie sich tatsächlich auf Peter freute. Zumindest ist er eine bekannte Größe, dachte sie. Doch insgesamt ist das ein Gradmesser dafür, wie schlecht die Dinge wirklich stehen. Ich muss verrückt sein, einen einwöchigen Trip mit zwei Menschen zu unternehmen, die mir praktisch fremd sind.

 

Sie hatten sich auf der Cocktailparty kennengelernt, die zu Ehren der neuen Gruppe der westlichen Austauschmediziner stattfand. Roz war Hautärztin, die ihr Forschungsstipendium am Aga Khan Platinum Jubilee Hospital absolvierte. Sie besaß eine florierende Privatpraxis in Laguna Beach, Kalifornien. Der Großteil ihrer Arbeit bestand darin, die Filmgemeinde von Leberflecken, geplatzten Äderchen und Schwangerschaftsstreifen zu befreien und sonnengeschädigte Haut zu reparieren. Neben diesen lukrativen, wenngleich banalen Jobs, die Brot und Butter für ihre Praxis bedeuteten, hatte sie einige innovative Techniken entwickelt, um Melanome zu behandeln, insbesondere Plattenepithelkarzinome. Jetzt verbrachte sie einen Teil eines jeden Jahres in fernen, unter sengender Sonne leidenden Ländern, um die ortsansässigen Ärztinnen und Ärzte in ihrer Technik zu unterweisen. Mead respektierte ihre fachliche Kompetenz, zumindest den ernstzunehmenden Teil davon. Die Meinungen über Roz als Person gingen auseinander. Die Gemeinschaft der im Gesundheitswesen tätigen Menschen in Nairobi war klein, und an Klatsch und Tratsch herrschte kein Mangel. Manche empfanden Roz’ Auftreten als schroff und ihren Umgang mit ihren Patientinnen und Patienten als brüsk; den Krankenschwestern gegenüber galt sie als herablassend und den Kolleginnen und Kollegen gegenüber als arrogant. Andere wiederum, insbesondere die Angestellten aus der Verwaltung, brachten ihr hohe Wertschätzung entgegen. Sie war hart, doch das waren die Umstände auch. Abgesehen von der protzigen Zurschaustellung von Gold und Diamanten, von der Linda ihr regelmäßig abriet (»Lieber Himmel, Roz, lauf in dieser Stadt nicht unbegleitet mit einer Auslage wie ein Juweliergeschäft am Rodeo Drive herum!«), mochte Mead sie, ihre Intelligenz, ihr Engagement und ihr robustes Gebaren. Es waren ihr vertraute Eigenschaften.

Linda, die bereits einen Monat vor ihnen gekommen war, war leitende Schwester im New Jersey Children’s Hospital. Hier arbeitete sie im Mater Misericordia, einer Entbindungsklinik im Süden Nairobis. Sie war als Einzige der drei verheiratet. In beruflicher Hinsicht galt auch sie als Spitzenkraft, doch Mead konnte nicht umhin, ihr gegenüber gelegentlich insgeheim eine gewisse Herablassung zu verspüren, eine Herablassung, die Roz regelmäßig unverhohlen zum Ausdruck brachte. »Versteh mich nicht falsch, Mead, ich finde Linda großartig. Aber –«, sie hielt inne und trank einen Schluck Gin Tonic. Sie saßen auf der Veranda des Norfolk Hotels im Zentrum Nairobis. »Sie ist keine Ärztin. Und sie ist, nun ja, ein bisschen zu weich. Es ist ihr eben nicht gegeben. Ach, vergiss es. Im Grunde ist sie sehr nett. Wirklich nett.« Mead entnahm ihrem betont wohlwollenden Gesichtsausdruck, dass Roz »nett« für eindeutig verachtenswert hielt. »Das ist nicht fair«, entgegnete Mead. »Extreme Unterernährung. Mütter mit Aids. Babys mit Aids. Alle Viren, die wir kennen. Und dazu noch welche, die wir nicht kennen. Das lässt sich mit ›weich‹ kaum vereinbaren.«

»Du hast recht, Mead«, gab Roz zu, in einem Ton, der kaum eine Spur Herablassung enthielt. »Absolut. Wechseln wir das Thema.«

Doch auf der Cocktailparty hatten sie sich auf Anhieb gut miteinander verstanden, gut genug, um sich gelegentlich zum Abendessen oder auf einen Drink zu treffen, wenn es ihre jeweiligen Dienstpläne erlaubten. Gewiss trugen die Umstände, in denen sie sich befanden – drei Amerikanerinnen, die ihr berufliches Engagement und Know-how für einen dreimonatigen Einsatz in Nairobi zur Verfügung stellten, Tausende von Kilometer fern der Heimat, auf unbekanntem Territorium –, dazu bei, die ansonsten vermutlich nur flüchtige Bekanntschaft zu vertiefen. Als sich ihnen nach Meads erstem Monat, in dem sie pausenlos im Einsatz gewesen war, die Gelegenheit bot, fortzufahren, die Stadt zu verlassen, der berühmten Herausforderung des Landes zu begegnen und sie zu kosten, hatten sie die Chance begierig ergriffen und diese Reise geplant.

Mead hatte die Zeichen an der Wand sehr wohl gesehen. Linda hatte nach Lamu an der Küste fliegen, sich in einem Fünf-Sterne-Hotel einquartieren, an den Strand legen und lesen wollen. »Liebe Güte, da könnte ich ja gleich ins Hotel del Coronado in San Diego gehen!«, hatte Roz protestiert. »Was macht das für einen Unterschied? Außer dass die Beachboys hier sehr entgegenkommend sein sollen, wie ich hörte.«

»Moment mal«, hatte Linda entgegnet. »Die Stadt hat eine sehr interessante arabische Geschichte.«

Roz grinste, und sie setzten ihren Disput fort, Roz voller Verve, Linda eher quengelig. Schließlich hatte Roz sich großmütig bereit erklärt, Lamu als Ziel für ihren nächsten Trip in Erwägung zu ziehen, allerdings ziemlich unverbindlich, wie Mead sehr wohl bemerkt hatte. Linda hatte sich widerstrebend damit begnügt.

Mead wollte gern einen Wildpark besuchen und anschließend den Kilimandscharo besteigen. Als sie sah, dass der Wind günstig für Roz stand, hielt sie den Mund und mischte sich nicht weiter ein. Da sie ihren Willen ohnehin durchsetzen würde, konnte es nicht schaden, sich objektiv zu geben.

 

Mead rieb sich das Gesicht. Dann sammelte sie die Karten und Reiseführer, die auf dem Sitz zwischen Roz und ihr verstreut waren, zusammen, als ob das die gegenwärtige Situation richten könnte. Sie holte tief Luft und stieg aus.

»Kannst du nicht mal nett sein?«, flüsterte sie, als sie sich Roz näherte, die dahockte, konzentriert durch ihr Fernglas blickte und die gegenüberliegende Seite des Sees absuchte.

Ohne das Fernglas zu senken, fragte Roz: »Warum?«

»Weil wir noch siebeneinhalb Tage zusammensein werden.« Mead hasste es jetzt schon, sich zwischen den Fronten zu befinden.

»Ich habe sehr hart gearbeitet, um an den Punkt in meinem Leben zu gelangen, wo ich nicht nett sein muss. Linda muss einfach begreifen, dass es nicht persönlich gemeint ist.«

»Das ist doch lächerlich, Roz, zumal es durchaus persönlich gemeint ist. Du magst sie für weich halten, aber sie ist nicht blöd.«

»Ich amüsiere mich prächtig. Hey, guck mal da drüben auf der anderen Seite, in der Akazie da im Westen.«

Mead tat, wie ihr geheißen, und wurde mit dem Anblick einer Löwin belohnt – den Bauch dick und rund von der kürzlich verspeisten Beute –, deren Beine zu beiden Seiten eines kräftigen Astes herabhingen, während sie schlief. Linda gesellte sich zu ihnen. Sie hatte die Löwin von ihrem Aussichtspunkt weiter unten am See ausgemacht. Alle drei standen sie da und schauten und waren erfüllt von Ehrfurcht und Glück angesichts ihrer Entdeckung. Für den Augenblick vergaßen sie sich und ihre Unterschiede und sahen sich durch das Abenteuer Natur vereint.

 

»Walter, wir sollten endlich einen Plan schmieden, wie wir unseren Hochzeitstag begehen wollen.« Sie saßen im Wohnzimmer, nachdem sie ein leckeres, fettreduziertes Abendessen zu sich genommen hatten. Walter, dessen Ellbogen auf einem Stapel Zeitschriften neben sich ruhte, nickte hinter der neuen Ausgabe von Artificial Intelligence Quarterly. »Fünfzig Jahre sind schließlich eine lange gemeinsame Zeit«, fuhr Elizabeth fort. »Und die Kinder erwarten von uns, dass wir das feierlich begehen. Ihre Terminkalender sind alle gespickt voll. Wir müssen zeitig genug planen, wenn wir sie alle dabeihaben wollen.« Walter murmelte zustimmend.

Elizabeth hegte den Verdacht, dass Walters Zögerlichkeit, ein Familientreffen anzuberaumen, damit zusammenhing, dass er das letzte noch nicht verdaut hatte. Sie hatten sich im vergangenen August versammelt, um wie immer eine Woche im Strandhaus zu verbringen. Einige ihrer Diskussionen waren ziemlich hitzig verlaufen. Und die Kinder (Kinder! Also nein, Luce, die Älteste, wurde demnächst fünfundvierzig!) hatten Walters Verletzlichkeit gespürt, die, wie Elizabeth zugab, proportional zu den Jahren wuchs, die er im Ruhestand verbrachte. Bei der Erinnerung schüttelte sie missbilligend den Kopf. Sie alle waren in jener Woche zum Zug gekommen, hatten ihn herausgefordert, sein Wissen, seine Expertise, und hatten ihm schmerzlich klargemacht, dass sie die Spezialisten auf dem jeweiligen Gebiet waren, dass sie mitmischten und obendrein in der ersten Liga. Bis auf Luce, die auf ihre stille, aufmerksame Art dagesessen hatte, die Elizabeth wie Walter leicht aus der Fassung brachte. Was Luce anbetraf, so vertiefte der mangelnde Disput nur noch die beträchtliche Kluft, die sie alle ohnehin spürten.

Elizabeth konnte das Verhalten ihrer Kinder nur zu gut verstehen. Sie war dabei gewesen, in allen Schlüsselmomenten über die Jahre, bei jeder Gelegenheit, als Walter sie zum Arbeiten gedrängt und genötigt hatte, zum Lernen, zum Streben, den Abschluss zu schaffen, Preise einzuheimsen, Spitze zu sein. Es war ihre Aufgabe, das hatte er ihnen deutlich zu verstehen gegeben, sämtliche Fächer zu meistern und in den Naturwissenschaften zu brillieren. Wäre er wohl so hart und unnachgiebig gewesen, fragte Elizabeth sich jetzt, wenn er damals schon begriffen hätte, dass dies unweigerlich dazu führen würde, dass sie ihn übertrumpften?

Was sie anbelangte, so hatte sie sich aus der Schusslinie herausgehalten. Vor langer Zeit schon hatte sie den Entschluss gefasst, dass dies die beste Vorgehensweise war, sowohl für den Augenblick wie auf Dauer. Ihre Loyalität galt in erster Linie Walter, und zwar seit den Anfangsjahren ihrer Ehe. Nach längeren Auseinandersetzungen hatte sie begriffen, dass sie ihre Dispute in Sachen Kindererziehung nicht gewinnen konnte. Die selbstgerechte Nachdrücklichkeit, mit der er in den Kampf zog, ließ ihn stets gewinnen. Das hatte schließlich zur Entzweiung zwischen ihnen geführt, und sie hatte ihn für fast ein Jahr verlassen, als Luce noch ein Baby gewesen war. Als sie schließlich einsah, dass er nicht nachgeben würde – und sie wusste, dass einer von ihnen würde nachgeben müssen, um ihre Ehe zu retten –, hatte sie eingelenkt.

Dementsprechend ergriff sie im Laufe der Jahre niemals Partei für ihre Kinder, mischte sich niemals ein. Wie hätte sie auch über die wahren Hintergründe ihrer Kabbeleien befinden können? »Ihr seid Geschwister. Ihr dürft nicht miteinander streiten. Ihr seid eine Familie. Und damit hat sich’s.« Das war der Refrain gewesen, den sie all die Jahre angestimmt hatte, trotz ihrer Zweifel, trotz besonderer Umstände, trotz aller Indizien, die das Gegenteil besagten, vor allem was Mead anbelangte. Sie wusste, es war hart, aber es war der einzige feste Boden, den sie sah, zumindest solange sie konsequent blieb. In erster Linie Mrs. Walter William Bennett, in zweiter Linie Mutter ihrer Kinder. »Ich liebe alle meine Kinder gleichermaßen«, entgegnete sie, wenn sich jemand darüber beschwerte, ihr Verhalten sei unfair. »Gleichermaßen«, würde sie wiederholen und das Zimmer verlassen. Hätte sie die Hierarchie, die sie errichtet hatte, fortgeführt, dann hätte Elizabeth sich selbst auf einen weit hinten angesiedelten Platz drei gesetzt.

»Walter, bitte.« Sie schlug den ungeduldigen Ton an, der gewöhnlich seine Aufmerksamkeit erregte.

»Ja, Lizbeth?«, sagte er abwesend und schrieb etwas in seine Zeitschrift.

»Was tust du da?«

Er zeigte ihr die Zeitschrift und blätterte die eingeheftete Postkarte um. »Ich fülle ein Abonnement aus.«

»Noch ein Abonnement?«

Er nickte, ohne aufzusehen. »Das hier klingt sehr spannend. Neural Engineering and Modular Robotics Design Newsletter. Ich frage mich, ob Rand davon weiß.«

»Walter, du hältst doch kaum Schritt mit all den Zeitschriften und Magazinen, die du jetzt schon beziehst.« Sie vernahm den Ärger in ihrer Stimme.

»Lizbeth, nun übertreib aber nicht. Außerdem macht mir das Lesen Spaß.«

»Ich übertreibe wohl kaum. Ich fürchte mich, die Tür zu deinem Arbeitszimmer zu öffnen, aus Angst, von einer Lawine ungelesener Zeitschriften erschlagen zu werden.«

Walter kicherte, während er die Karte zu Ende ausfüllte.

»Walter, ich weiß ja, dass du mit den Kindern Schritt halten möchtest.« Er warf ihr einen schrägen Blick zu. Sie wusste, sie befand sich auf dünnem Eis. »Ihre Fachgebiete sind faszinierend. Komplex. Und entwickeln sich rasant. Aber«, sie zögerte, »du arbeitest zuviel. Ich mache mir Sorgen um dich, wie du ewig in dieser verdammten Bibliothek hockst. Warum du überhaupt dort hingehst, wo du doch fast jede Zeitschrift, die hierzulande erhältlich ist, abonniert hast, werde ich nie begreifen.« Sie milderte ihren Ton und schlug einen anderen Weg ein. »So habe ich mir unser Leben nach deiner Pensionierung nicht vorgestellt.« Er sah sie ausdruckslos an. »Ich dachte ... nun, ich wünschte, wir würden mehr Zeit miteinander verbringen.«

Sein Gesicht verdüsterte sich. »Ich bin stets zum Abendessen zu Hause, Lizbeth. Außerdem bist du selbst doch auch sehr beschäftigt, mit deinem Computer. Und mit Meads Briefen. Von unseren finanziellen Angelegenheiten ganz abgesehen.«

»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Das ist richtig. Aber das alles nimmt nicht meine gesamte Zeit in Anspruch.« Sie holte langsam und tief Luft und sah zu, wie er die Artificial Intelligence beiseite legte und versuchte, sich hinter Developmental Psychobiology zu verschanzen.

»Wirklich, Walter.« Er reagierte auf die Schärfe in ihrem Ton, die sie selbst überraschte, und hob den Kopf. »Wir müssen Pläne schmieden. Für unseren Hochzeitstag«, erinnerte sie ihn, als er sie fragend ansah.

»Ja. Ja, natürlich. Nun, was würdest du gern tun?« Sie konnte es nicht leiden, wenn er seinen Unwillen durch den schleppenden Tonfall des Südens zum Ausdruck brachte, den er eigentlich schon vor Jahrzehnten abgelegt hatte.

»Nichts Aufwendiges. Etwas Intimes. Nur die Familie und unsere engsten Freunde.« Sie wartete auf seine Reaktion.

»Klingt gut.«

»Aber Walter, wie hättest du es denn gern?«

»Ach, komm, ich habe mich in solchen Angelegenheiten stets auf dich verlassen. Und du hast das, wenn ich mich recht entsinne, immer hervorragend gemeistert.« Sie merkte, dass er um einen schmeichelnden Ton bemüht war, um jegliche Auseinandersetzung zu vermeiden.

»Walter«, ihr Ton wurde kühler, »ein beruflich begründetes Dinner zu organisieren oder eine Party für eines unserer Kinder ist etwas vollkommen anderes als die Planung unseres« – sie legte eine kurze Pause ein, um das letzte Wort wirken zu lassen – »unseres fünfzigsten Hochzeitstages.«

»Da gebe ich dir recht. Wie wäre es mit einem netten privaten Dinner in einem unserer Lieblingsrestaurants? Würde dir das gefallen?«

»Würde dir das gefallen, Walter?« Sie verspürte eine Enttäuschung, die angesichts seines Entgegenkommens unmäßig schien. Und noch wenige Augenblicke zuvor hatte sie eingedenk der Angriffe seiner Kinder Mitleid für ihn empfunden. Manchmal verstand sie sich selbst nicht.

»Ja, Lizbeth. Ich glaube, das würde mir gefallen.«

»Gut«, entgegnete sie knapp. »Sollen wir als Termin das Datum unseres Jahrestages festsetzen?«

»Ja«, antwortete er gutmütig. »Das scheint mir angemessen zu sein.«

»Gemacht. Ich schicke den Kindern morgen eine E-Mail. Das Restaurant und die Gästeliste können wir später festlegen.«

Walter nickte. Er war erfreut über seinen Beitrag und die rasche Entscheidungsfindung. Stumm erbat er Elizabeths Einverständnis, mit seiner Lektüre fortzufahren.

»Wir sind fertig«, sagte sie. »Du kannst weiterlesen.«

 

Luce saß ihrer alten Freundin gegenüber und musterte sie eingehend. Hungrig. Sie ließ ihre Augen langsam von der Stirn über den langen Nasenrücken wandern, über die vollen Lippen bis zu der leichten Einkerbung in ihrem Kinn. Luce wurde den Anblick des Gesichts nie müde, eines Gesichts, das intelligent und sinnlich zugleich war. Das Licht, das diffus zu einem unsichtbaren Fenster hereinfiel, schimmerte sanft auf der durchscheinenden Fläche der länglichen Wange, verharrte in einem fast rein weißen Flecken auf der Spitze ihrer ausgeprägten Nase, funkelte auf ihrem Ohrring, enthüllte einen Schimmer von Feuchtigkeit auf ihren vollen roten Lippen. Gegen die Brauntöne des Wandteppichs hinter ihr blitzte das Licht auf ihrer weißen Bluse, der Schulter unter ihrem pfauenblauen Tuch und sehr spektakulär auf der Krempe ihres roten Hutes.

Die Frau wandte leicht den Kopf und sah Luce über ihre rechte Schulter an. Ihre Augen, die durch die breite Hutkrempe leicht überschattet waren, zeigten einen neugierigen Ausdruck. Ihre Lippen öffneten sich, als sei sie im Begriff, etwas zu sagen. Luce konnte den Gedanken hinter den ausdrucksvollen Augen beinahe hören, konnte den ersten zarten Hauch nahezu spüren, als die Lippen die Worte formten, um dem im Werden begriffenen Gedanken Gestalt und Ausdruck zu verleihen.

Luce war froh, dass sie die weitläufige Galerie für sich hatten. Sie liebte es, das Metropolitan Museum an jenem Abend der Woche zu besuchen, an dem es lange geöffnet hatte. Weniger Menschen insgesamt und weniger Menschen, mit denen sie das Mädchen mit rotem Hut teilen musste. Sie saß auf der Bank vor dem Gemälde und fühlte sich erfrischt und von neuer Energie erfüllt. Der Raum, die Ruhe, der vertraute Geruch von alten Ölfarben auf alter Leinwand, von Bohnerwachs auf Dielenboden, das Gefühl, dass seit hundert Jahren Hunderte von Menschen dieselbe Luft eingeatmet hatten, die alle ihr je eigenes Lieblingsgemälde besaßen – all das vermittelte ihr tiefen Genuss. Ihr Unbehagen, das sie über ihren Aufenthalt in New York empfand, am Vorabend einer weiteren nervenaufreibenden Vernissage, begann sich zu verflüchtigen, als Vermeers Frieden und Brillanz auf sie einwirkten.

Sie kam schon seit Jahren in dieses Museum, seit sie ein Kind von acht oder neun Jahren gewesen war. Das erste Mal auf einem Schulausflug. Die zahlreichen folgenden Besuche entsprangen ihrem eigenen Bedürfnis.

Es gab viele Gemälde, die sie ansprachen, viele Malerinnen und Maler, die sie berührten. Doch den Vermeer hatte sie von ihrem ersten Besuch an ins Herz geschlossen. Es war die Klarheit, die sie liebte, seine Art, das Leben einzufangen, mitten im Augenblick, ungeschönt. Vermeer hatte sie gelehrt, ihr Leben und das Leben um sie herum zu sehen. Klarheit. Schlichtheit. Akkuratesse.

Überdies gefiel ihr, dass Vermeer nach seinem Tod für nahezu zweihundert Jahre in Vergessenheit geraten war. Zu Beginn ihrer Karriere, bevor sie als Künstlerin wahrgenommen wurde, hatte es Zeiten gegeben, in denen sein Leben eine Quelle der Ermutigung für sie dargestellt hatte. Auch wenn sie inzwischen finanziell erfolgreich war und zunehmend auch die Anerkennung der Kritik fand, war sie von dem mangelnden Wissen um ihn, der Sphinx von Delft, noch immer berührt. Es war so wenig von ihm bekannt. Das gefiel ihr. Sie war der festen Überzeugung, dass das Leben eines Künstlers – oder einer Künstlerin – keinen Einfluss auf die Wertschätzung und das Verständnis seiner Arbeit haben sollte. Mangelnde Fakten trugen dazu bei. Während sie dasaß, auf der abgenutzten lederbezogenen Bank, und das Mädchen mit rotem Hut in sich aufnahm, begriff sie, dass sie alles über Vermeer wusste, was sie zu wissen brauchte.

 

Mead saß auf dem umgestürzten Stamm eines Baobab-Baumes, einer improvisierten Bank vor ihrer Hütte. Die Abendluft war gesättigt von dem vielfältigen Leben, das den Wildpark erfüllte. Ihr Blick glitt gemächlich über die weite Ebene, die sich gefällig vor ihr erstreckte. Das Mondlicht glitzerte in den hohen Gräsern. Akazien, blauschwarze Schatten gegen einen blassen Himmel, bildeten konspirative Grüppchen in der Ebene und auf dem Ausläufer eines fernen Hügels. Und dahinter, umkränzt von Wolken, die im Mondlicht schimmerten, erhob sich der Kilimandscharo. Sie war glücklich, hier zu sein, und noch glücklicher darüber, allein zu sein. Kurz nachdem sie in der Lodge angekommen waren, hatten sie eine spätnachmittägliche Tour durch den Wildpark gemacht und Elefanten, Elanantilopen, Löwen, Büffel, Flusspferde und ein seltenes schwarzes Rhinozeros gesehen. Das Highlight war ein See gewesen, auf dem sich die Flamingos nur so drängten. Roz’ und Lindas Gezänk war beim Abendessen im Lodge-Restaurant erneut aufgeflammt, hatte sich aber bald wieder gelegt, da Roz offenkundig müde gewesen war und nicht die Energie für weitere Provokationen besaß.

»Darf ich mich zu dir gesellen?«, fragte Linda zaghaft in ihrem Rücken.

»Oh«, Mead zögerte. »Ja, klar.« Linda setzte sich neben sie, und einige Minuten lang herrschte Schweigen.

»Zum Glück waren wir klug genug, separate Hütten zu buchen, nicht?«, sinnierte Linda. Mead sah sie an und stellte fest, dass Linda lächelte. Sie nickte zustimmend.

»Hör mal, Mead. Ich möchte mich entschuldigen. Der Witz über Ärzte, die ein Gesundheitsrisiko darstellen ... nun, er war nicht auf dich gemünzt. Es tut mir leid.« Sie lachte zynisch und fuhr dann fort. »Ich hatte schon gehört, dass Roz bissig sein kann, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie Bisswunden hinterlässt.« Mead zuckte zusammen. »Nicht alle teilen deine große Wertschätzung für sie, Mead. Aber mach dir keine Sorgen. Im Gegensatz zu Roz finde ich es keineswegs falsch zu versuchen, miteinander auszukommen.« Sie schwiegen wieder. »Ach, Tim würde es hier gefallen. Ich wünschte, er wäre hier.«

»Diese ewigen Trennungen – das muss hart sein.«

»Ja, das ist es. Und es wird immer schwerer ...« Ihre Stimme verklang. Nach einer Weile drehte sie sich um und sah Mead an. »Also, wie lautet die Geschichte?«

Mead neigte fragend den Kopf. »Welche Geschichte?«

»Mit diesem Peter.« Mead seufzte leise. Sie schwieg. »Muss was Ernstes sein.«

»War was Ernstes.«

»Vorbei?«

»Definitiv vorbei.«

»Ich will dir ja nicht zu nahe treten, Mead, aber für etwas, das definitiv vorbei ist, scheinst du mir sehr verstört zu sein. Magst du darüber reden?«

Mead sah Linda flüchtig an. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf die offene Savanne, wie um einen Punkt zu finden, auf den sie ihre Augen heften konnte.

»Ich habe Peter in Boston kennengelernt. Er war der Freund einer Freundin. Wir waren beide in der Facharztausbildung. Er arbeitet auch im Bereich Infektionskrankheiten. Wir waren eine Zeitlang befreundet. Flirteten miteinander. Wurden ein Paar. Verlobten uns.« Ihre Stimme verlor sich in der Ferne.

»Und dann?«

»Dann haben wir uns getrennt.«

»Warum? Was ist passiert?«

Mead atmete langsam und tief ein, als wolle sie ihre Energie sammeln. »Peter, wie du bald höchstpersönlich erleben wirst, ist außerordentlich charmant. Er ist ziemlich intelligent, ziemlich begabt, amüsant. Und nicht unattraktiv.«

»Klingt keineswegs übel. Ich sehe nur das Problem nicht.«

»Das Beste von allem, oder das Schlimmste, ist, dass er Frauen wirklich zugetan ist.« Linda neigte fragend den Kopf. Mead erklärte: »Er ist einer von jenen Männern, die Frauen wirklich verstehen und wertschätzen. Ich glaube, er zieht die Gesellschaft von Frauen Männern tatsächlich vor. Anfangs war ich erstaunt darüber, mit wie vielen Frauen er befreundet war. Und als wir anfingen, uns zu verabreden, war ich ... nun ja, ich war stolz darauf. All meine Freundinnen waren entweder schwer beeindruckt oder schwer eifersüchtig.«

»Das klingt wirklich fast zu perfekt.«

»Genau. Peter liebt Frauen. Er liebt sie wirklich.«

»Oh, ich verstehe«, meinte Linda. »Mehr als eine?«

»Volltreffer. Als wir anfangs miteinander ausgingen, dachte ich, na schön, wir gehen eben ab und zu miteinander aus. Das heißt ja noch lange nicht, dass ich etwas dagegen sagen kann, wenn er sich auch mit anderen Freundinnen trifft, oder? Als wir dann verlobt waren, war ich überzeugt, er hätte sich geändert. Aber zwei Monate vor der Hochzeit fand ich dann heraus, dass dem nicht so war.«

»Liebe Güte, wie schrecklich. Wie hast du es herausgefunden?«

»Er hat es mir erzählt.«

»Du musst zugeben, dass der Kerl ehrlich ist.«

»Ja, ein edler Ritter in einer glänzenden Rüstung. Oder ein Lebemann? Jedenfalls ein echter Ehrenmann.« Mead stieß ein knappes, zynisches Lachen aus. »Alles in allem war’s das. Er hat gesagt, er habe versucht, monogam zu sein, er habe alles drangesetzt, aber es sei ihm einfach nicht gelungen. Und er wolle, dass ich es von ihm erfahre; er wolle nicht, dass ich es von jemand anderem höre.«

»Hast du je darüber nachgedacht, damit zu leben?«

»Lieber Himmel, Linda!«, fauchte Mead. »Jetzt klingst du wie meine Mutter. ›Er ist so wundervoll, Mead, in vieler Hinsicht einfach perfekt. Könntest du nicht darüber hinwegsehen?‹«

»Nein, nein, versteh mich nicht falsch«, verteidigte Linda sich. »Hey, ich hab nicht im Entferntesten gemeint, dass du das tun solltest. Ich habe mich nur gefragt, ob ... ob du es könntest. Ich meine, manche Frauen können das, weißt du. Deine Mutter vielleicht?«

»Nein, Linda. Genau darum geht es. Meine Mutter würde ein solches Verhalten niemals tolerieren. Niemals. Und ich könnte es auch nicht.« Mead verschränkte die Arme vor der Brust.

»Aber ihr seid Freunde geblieben?«

»Irgendwie schon. Vermutlich wie viele Ex-Geliebte – ein gerüttelt Maß an Vertrautheit und Behagen gemischt mit einem ebenso gerüttelt Maß an Unbehagen.«

»Steht ihr noch im Kontakt miteinander?«