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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

 

 

Victoria Ramstetter

 

Die Marquise und die Novizin

 

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Amrain

 

 

 

 

K+S digital

 

Dee Louise Ruth Graham gewidmet, deren Kraft, Liebe und Tapferkeit unermesslich sind.

Vorwort

 

Ich sah mich genötigt, Die Marquise und die Novizin zu schreiben, um meine ganz persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Obwohl ich mich schon seit Jahren als lesbische Feministin bezeichne, habe ich doch noch so manche Leiche im Keller. Eine davon ist jene Sucht, der ich auf der Highschool verfiel (als ich mich noch für asexuell hielt!): die Lektüre von gothic novels. (Das sind die englischen Schauerromane des 18. und 19. Jahrhunderts, die meist auf Schlössern spielen, voll von rätselhaften Ereignissen und mysteriösen Figuren sind und so manchen schönen Schauder verursachen. – Anm. der Übersetzerin) Nach meinem Coming-out als Lesbe und meinem zweiten Coming-out als Feministin las ich diese Bücher immer noch weiter, obwohl mir derartige Lektüre peinlich war, denn zu allem anderen studierte ich auch noch englische Literatur im Hauptfach und war nicht so dumm, diese Romane für große Kunst zu halten. Trotzdem hatten sie etwas Faszinierendes, weil ich mich sowohl mit dem finsteren, alles beherrschenden Schlossherrn wie mit der sanften und dennoch wagemutigen Gouvernante identifizieren konnte – eine Faszination, die ich nicht verstand und der ich doch nicht entrinnen konnte. Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass ich jedes verräterische Anzeichen meiner Sucht sorgfältig verbarg – vor meinen Mitstudentinnen, vor meinen lesbisch-feministischen Freundinnen und vor meinen Geliebten. Ich versteckte meine liebsten Schauerromane hinter Büchern wie Lesbian Nation und Sexual Politics etc. Als ich 1975/76 schließlich meine kompromissloseste separatistische Phase durchmachte, verbrannte ich eines Tages meine ganze Sammlung von heterosexuellen Schauerromanen – und litt danach an ziemlich schweren Entzugserscheinungen.

Mehrere Jahre lang spielte ich mit dem Gedanken, einen lesbischen Schauerroman mit feministischem Einschlag zu schreiben – ich machte mir Notizen, schrieb einzelne Kapitel und verbrachte schließlich während eines ganzen Jahres den größten Teil meiner Freizeit damit, den Roman zu verfassen.

Ich bin sehr dankbar für die furchtlose emotionale und praktische Unterstützung, die ich bekam, als ich das Buch schrieb, und zwar von Phebe Komorkis Bloodroot (der süßesten Butch diesseits des Mill Creek), Dee L. R. Graham (der ich für alles danke, besonders aber dafür, dass sie mir ihre elektrische Schreibmaschine geliehen hat), Maggie Leon, Jay Williams, Emma Cassandra, Susan E. Hull, Deborah »Snickers« Arapa, Nick Radel, Marie Dennis, Deborah Powers, Brenda Richardson, Laura, Karen, The Coven of the Waxing Crescent und der Cincinnati Lesbian Community. Für Kritik und Gelächter bin ich dem Rosebuddy Circle auf ewig verpflichtet, und ich möchte die Gelegenheit ergreifen, um Carolyn Dellenbach für alles zu danken, was sie und ihr »Crazy Ladies Bookstore« für die Cincinnati Wimmin tun. Besonderen Dank an Milly (Herzensfreundin) Gleckler für ihre ansteckende Lebensfreude, Barbara Grier für ihre Ermutigung und Dank an meine Familie.

Und schließlich möchte ich all jenen Frauen danken, die sich dieselben Kapitel wieder und wieder angehört und mich kein einziges Mal entmutigt haben!

 

Victoria Ramstetter, Cincinnati 1980

 

 

Die Marquise
und die Novizin

1. KAPITEL

 

Meine erste Begegnung mit der Marquise de Rochelle werde ich niemals vergessen. Es war an einem klaren, warmen Tag im April – und zufällig an meinem Geburtstag –, als ich im Schloss der Marquise eintraf, wo ich mich wegen einer zeitweiligen Anstellung als Gouvernante ihres Sohnes vorstellen sollte. Zwei Nonnen aus dem Kloster Notre Dame des Cerises hatten mich begleitet, Sœur Marie-Anne und Sœur Berthe Marie.

Mein Besuch erfolgte auf eine Einladung hin, die die Marquise an Sœur Marie Claire, die Mutter Oberin meines Klosters geschickt hatte. Die Marquise hatte sie gebeten, ihr bei der Suche nach jemandem behilflich zu sein, der sowohl Französisch wie Englisch fließend sprach und ihren sechsjährigen Sohn ungefähr acht Monate lang unterrichten könnte. Sie selbst war in England zur Schule gegangen und war entschlossen, ihren Sohn auf ein englisches Internat zu schicken, sobald er die Sprache beherrschte.

An jenem Tag ahnte ich nicht, dass ich der Frau gegenübersaß, deren Entscheidung, mich zu engagieren, mein ganzes Leben verändern würde. Während sich meine Anstandsdamen in einen Imbiss mit Wein und winzigem Gebäck teilten, bedachte ich meine schwierige Situation und sann darüber nach, warum mir der Brief der Marquise wie die Antwort auf meine flehentlichen Gebete erschienen war.

Meine Eltern, die beide irische Schauspieler sind, hatten mich im Alter von vierzehn Jahren in die Klosterschule von Notre Dame des Cerises gegeben. Nun, fünf Jahre später, waren sie noch immer der unerschütterlichen Überzeugung, dass ein Leben im Dienste Gottes meine wahre Bestimmung sei. Ich aber hatte schon vor einem Jahr die normale Schulzeit beendet und konnte mich noch immer nicht dazu entschließen, eine ›Braut Christi‹ zu werden, obwohl viele der Nonnen unterschwellig Druck auf mich ausübten, mich ihnen zuzugesellen.

Sœur Marie Claire aber wusste sehr wohl, dass ich zögerte, mich einem Leben des Schweigens und der Selbstlosigkeit zu verpflichten, und als der Brief der Marquise eintraf, kam sie sogleich zu mir und schwenkte triumphierend das Schreiben. Sie drängte mich, den Posten als Gouvernante des Erben dieser Dame anzunehmen, damit ich Zeit fände, meine Entscheidung zu bedenken und keinen übereilten Entschluss fasste.

Außerdem hatte ich den Verdacht, dass sie, was meine religiösen Neigungen betraf, einige versteckte Zweifel hegte, obwohl ich meinem Ruf, das ärgste disziplinarische Problem in der Geschichte der Klosterschule zu sein, längst entwachsen war. In den vergangenen Jahren hatte ich nach und nach gelernt, mich in die tröstliche Welt der Bücher und des Studiums zurückzuziehen. Ich war mir meiner eigenen Verwirrung über meine Zukunft schmerzlich bewusst und stimmte mit meiner Mentorin Sœur Marie Claire darin überein, dass die Stellung, welche die Marquise anbot, mir gerade zur rechten Zeit jenen Abstand ermöglichte, dessen ich so sehr bedurfte.

So kam es, dass zwei ältliche Nonnen und ich in einem kleinen Wagen, der von unserer alten braunen Mähre gezogen wurde, vom Kloster Notre Dame des Cerises gut fünfzehn Meilen weit gefahren waren. Obwohl wir lange vor Sonnenaufgang aufgebrochen waren, stand die Sonne doch schon hoch am Himmel, als wir endlich vor dem Schloss der Marquise anlangten. Ich erinnere mich, wie beeindruckt wir von der langen Auffahrt waren, die sich von der Hauptstraße bis zum Schloss hinzog. Die Vielfalt der Blumen, an denen wir vorüberkamen, konnten wir bald schon nicht mehr erfassen. Jede Farbe des Regenbogens war da vertreten und spiegelte das Licht der Sonne in glänzenden Schattierungen. Die Schönheit der Szenerie blendete uns. Das Anwesen der Marquise war aus rosenfarbenem Stein erbaut und vom Grün der Wälder und Wiesen mit ihren zahllosen Blumen umgeben. Später sollte ich erfahren, dass das Land, so weit mein Auge reichte, sich im Besitz der Marquise befand.

Sœur Marie Claire hatte mir versichert, dass das Vorstellungsgespräch bei der Marquise eine reine Formalität sein werde. Es gebe keinen Grund, warum die Aristokratin mich nicht engagieren sollte, da ich doch durch das Kloster empfohlen worden war. Im Angesicht der einschüchternden Zeugnisse ihrer Macht und ihres Reichtums aber wurde ich dennoch ein wenig ängstlich.

Unsere behelfsmäßige Kutsche hielt vor dem Haupteingang des Gebäudes. Als ich mich umwandte, um den beiden älteren Frauen beim Aussteigen behilflich zu sein, zitterte ich ein wenig. Während ich den Staub von meinem besten grauen Kleid schüttelte, erschien wie aus dem Nichts ein Stallbursche und führte unseren traurigen kleinen Gaul hinweg, um ihn mit Wasser und Hafer zu laben. Sœur Marie-Anne klopfte an die große Tür, und ich versuchte, die widerspenstigen roten Locken zu bändigen, die sich immer wieder unter meiner Kapuze hervorstahlen. Bevor wir an diesem Morgen aufgebrochen waren, hatte ich mir etwas Mehl ins Gesicht gerieben, um meine Sommersprossen zu überdecken; ich hatte gehofft, auf diese Weise die Illusion von Alter und Reife hervorzurufen, doch ich fürchtete, dass die lange Fahrt meine Tarnung zunichte gemacht hatte. Eine Frau – die Hausdame, wie ich annahm – empfing uns und führte uns den langen Korridor hinunter zum Arbeitszimmer der Marquise. Wir kamen an einem Spiegel vorbei, und ich war entsetzt über mein Aussehen: Mein Gesicht wies Streifen feinen weißen Staubs auf, meine Nase war von der Sonne schrecklich verbrannt, und meine Augen schienen viel zu groß für mein Gesicht. Ich sah kaum älter aus als eine Sechzehnjährige. Doch es fand sich keine Gelegenheit mehr, die Verwüstungen zu beseitigen, welche die Reise angerichtet hatte, denn schon führte uns die Hausdame durch zwei riesige Türen und meldete mit entschiedener Stimme unsere Ankunft. »Madame la Marquise, die Klosterfrauen sind eingetroffen.« Sie zog sich sogleich wieder zurück, und ich blickte mich nach der Frau um, zu der sie gesprochen hatte.

»Enchantée.« Bevor ich sie wirklich sah, hörte ich ihre wunderbare Stimme. Ich blinzelte in ihre Richtung, denn sie stand direkt im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinströmte. Sie kam uns entgegen und geleitete die Nonnen zu ihren Stühlen, auf welchen sie nur zu bereitwillig Platz nahmen. Meine Begleiterinnen sanken in die weichen Kissen, während ich neben dem dritten Stuhl stehenblieb und die Marquise unverwandt betrachtete. Etwas verwirrt erwiderte sie meinen Blick, bis ich sagte: »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so anstarre, aber in Ihnen begegne ich der ersten Frau, die ebenso groß ist wie ich selbst.«

»Das ist eine gegenseitige Entdeckung«, murmelte sie. Sie bedeutete mir, mich zu setzen und nahm selbst ihren Platz hinter dem großen Eichentisch ein. Meine Gefährtinnen waren schon während der Vorstellungszeremonie wie gebannt vom Anblick des Weines und des süßen Gebäcks gewesen, der Erfrischung, die die Marquise fürsorglich hatte bereitstellen lassen. Jetzt nahmen sie das Gebäck herzhaft in Angriff, bis kein Krümelchen mehr übrig war, und nachdem sie ihre Weinbecher geleert hatten, schmiegten sie sich in ihre Sessel und begannen in schöner Harmonie zu schnarchen. Die Marquise de Rochelle blickte mit unverhohlenem Amüsement in die friedlichen Gesichter meiner Gefährtinnen.

»Mademoiselle Torn«, begann sie, »es gibt viele Gründe für meinen Wunsch, Raoul in die Obhut einer englischen Gouvernante zu geben.« Da sie einen Augenblick innehielt, versuchte ich meinen Unmut zu verbergen: Mir war in Frankreich noch niemals jemand begegnet, der meinen Nachnamen – Thorn – korrekt aussprach. Die Marquise bildete hierin keine Ausnahme. Ich machte mir inzwischen nicht mehr die Mühe, die falsche Aussprache zu korrigieren und verschwendete meinen Atem auch nicht mehr darauf, Franzosen den Unterschied zwischen England und Irland begreiflich werden zu lassen. Nichtsdestoweniger war ich doch heimlich entrüstet darüber, dass die Marquise beide Fehler in einem einzigen Satz machte.

Als die Marquise nun begann, vieles von dem zu wiederholen, was sie bereits in ihrem Brief an Sœur Marie Claire geschrieben hatte, versuchte ich, ihr aufmerksam zuzuhören, doch ich vernahm kaum ein Wort von dem, was sie sagte, denn ich war so vollkommen von ihr bezaubert, dass ich sie nur ehrfürchtig anstaunen konnte. Es war mir ganz unmöglich, die Augen von ihr zu wenden, denn die Marquise war nicht nur die größte Frau, die ich je gesehen hatte – sie war auch die schönste. Ich war viel zu entzückt von ihr, als dass ich lange hätte ärgerlich bleiben können.

Sie trug ein dunkelblaues Jackett und einen dazu passenden Rock aus dem gleichen Material. Später sollte ich herausfinden, dass alle ihre Kleider vom besten Pariser Schneider angefertigt wurden. Das Kostüm, welches sie an jenem Tage trug, war von einem Schnitt, der eben erst in Mode kam, eng anliegend und von tadellosem Sitz. Ihr dunkles Haar war straff aus dem Gesicht gestrichen und tief im Nacken zu einem großen geflochtenen Knoten gewunden. Ihre Bluse war aus blassblauem Crêpe de Chine, und die weiche Farbe zeigte mir, dass ihre Augen, die auf den ersten Blick ebenso dunkel gewirkt hatten wie ihr Haar, in Wahrheit von einem ungewöhnlich dunklen Blau waren. Sie schimmerten wie Saphire unter ihren gebogenen dichten schwarzen Wimpern hervor. Mein Blick wanderte über die schmale gebogene Nase, die hohen Wangenknochen, den vollen sinnlichen Mund und über das starke, aber feinknochige Kinn. Vielleicht am fesselndsten aber war die makellose Vollkommenheit ihrer cremefarbenen Haut. Wehmütig dachte ich an meinen eigenen Teint, der von zahllosen Sommersprossen gesprenkelt war.

Geistesabwesend blickte ich auf ihre Hände und bemerkte mit Erstaunen, dass ihre gepflegten Nägel so kurzgeschnitten waren wie die eines eleganten Mannes oder einer Nonne. Überhaupt schienen ihre Hände nicht zu ihrem Körper zu passen. Sie waren zu groß, um als zierlich, und zu kräftig, um als weiblich zu gelten. Die Marquise spielte mit einem kristallenen Briefbeschwerer, und ich bildete mir ein, ihre Hände müssten stark genug sein, auch das härteste Metall nach ihrem Willen zu biegen. Es überraschte mich nicht, dass sie als einzigen Schmuck einen schmalen goldenen Siegelring trug. Mein Gefühl sagte mir, dass sie einen einfachen, aber teuren Geschmack besaß.

Ich war so in die Entdeckung der undamenhaften Hände der Marquise vertieft, dass ich es gar nicht bemerkte, als sie zu sprechen aufhörte. Nach einem – wie mir später bewusst wurde – ziemlich langen Schweigen erriet ich, was geschehen war und wagte einen flüchtigen Blick in ihr Gesicht: Sie lächelte nicht. Die Nonnen schlummerten noch immer, und die Marquise betrachtete mich lange durch halbgeschlossene Lider. Die Stille wurde nur durch das dezente Schnarchen meiner Begleiterinnen unterbrochen – und schließlich durch die brüske Frage der Marquise: »Sind Sie taub?« Sie beugte sich über den Tisch und erwartete meine Antwort.

»Nein«, entgegnete ich errötend und zuckte hilflos mit den Schultern.

»Haben Sie überhaupt ein Wort von dem verstanden, was ich sagte, Mademoiselle Torn?«, fragte sie in eisigem Flüsterton.

Ich versuchte, eine Entschuldigung vorzubringen und geriet dabei ins Stottern. Die Marquise seufzte und wiederholte mit letzter Geduld, was sie soeben über ihre Erwartungen an eine Gouvernante gesagt hatte. Diesmal wagte ich nicht, sie anzusehen und blickte stattdessen auf meine eigenen hässlichen Fingernägel, an denen ich – mit neunzehn Jahren! – noch immer so lange herumnagte, bis sie bluteten. Die Marquise erklärte, dass ich bereit sein müsse, wenigstens acht Monate, vielleicht auch ein Jahr zu bleiben, wenn ich die Stelle annahm, die sie mir bot. Sie war sicher, dass es keiner längeren Zeit bedürfen werde, um ihren Sohn perfektes Englisch zu lehren. Wie sie mir sagte, beherrschte er die Grundbegriffe der Sprache bereits, da sie selbst häufig mit ihm Englisch sprach. An dieser Stelle setzte sie die Konversation in makellosem Englisch fort.

»Was Raoul fehlt«, sagte sie, »und was ich weder die Geduld noch die Neigung habe, ihn zu lehren, sind die wesentlichen Gesetze der Grammatik.«

All ihre Bedingungen schienen mir nur zu leicht erfüllbar, und als sie mein Gehalt nannte, fand ich es von astronomischer Höhe. Ich sagte ihr, dass es mir, gemessen an meiner so wenig anspruchsvollen Aufgabe, als ein unverhältnismäßiges Salär erschiene, doch da unterbrach sie mich und tat meinen Protest mit einer kurzen Handbewegung ab. »Keine Widerrede«, mahnte sie, »glauben Sie mir, Sie werden sich jeden Sou davon verdienen müssen. Raoul ist alles andere als ein Musterknabe.«

Ich überlegte gerade, wann ich meinen zukünftigen Schützling wohl zu Gesicht bekommen würde, als jemand an der Tür kratzte. Die Marquise rief: »Entrez!«

Meine beiden Begleiterinnen erwachten eben rechtzeitig, um mit Raoul de Rochelle bekannt gemacht zu werden, der der Aufforderung seiner Mutter folgte und eintrat. Er sah aus wie eine Kleine-Jungen-Version der Marquise, mit einem Glorienschein dunkler Locken und denselben tiefblauen Augen. So selten die Marquise lächelte, so oft tat es Raoul – und gewann fast augenblicklich mein Herz. Die Marquise stellte mich ihrem Sohn als seine »neue Gouvernante« vor und fügte mit einem verschmitzten Seitenblick in meine Richtung hinzu: »Falls Mademoiselle Torn akzeptiert.«

Sœur Berthe Marie und Sœur Marie-Anne strahlten über das ganze Gesicht über dieses »erfolgreiche Vorstellungsgespräch«, wie sie es später oft nennen sollten und deuteten mit zarten Gesten an, dass sie nun zum Aufbruch bereit waren. Ich war einen Augenblick lang unschlüssig und bemerkte mit leiser Furcht, wie mich die Marquise unter ihren gesenkten Lidern heimlich beobachtete. Als ich zögerte, legte Raoul seine winzige Hand in die meine und sah mit einem fast hungrigen Ausdruck zu mir auf. Dieser Blick besiegelte meinen Entschluss. Ich lächelte erst ihn an, dann seine Mutter. »Danke«, sagte ich leise. »Wann erwarten Sie mich?«

Meine Gefährtinnen klatschten vor Erleichterung fast in die Hände. Raoul tat es wirklich, und seine Mutter erwiderte mein Lächeln auf eine Art, dass mein Herz auf die magnetische Eigenart ihrer Schönheit mit einem heftigen Pochen reagierte. »Wann können Sie bereit sein?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.

Sœur Marie-Anne antwortete an meiner Stelle: »Sie wird übermorgen hier sein.« Sœur Berthe Marie erklärte sich nickend einverstanden, und beide gingen zur Tür. Ich war so berauscht von allem, was sich ereignet hatte, dass ich mich kaum mehr daran erinnern kann, wie ich benommen hinter ihnen drein trottete. Mutter und Sohn folgten uns zur Auffahrt und riefen uns ein fröhliches »Au revoir!« nach, als die Nonnen und ich in unseren kleinen Wagen stiegen und anfuhren.

Auf dem ganzen Rückweg gratulierten Sœur Berthe Marie und Sœur Marie-Anne einander gegenseitig zu dem vorteilhaften Ausgang, den »ihr« Gespräch genommen hatte. Doch ich schwieg fast die ganze Fahrt über und war auch während der nächsten achtundvierzig Stunden ungewöhnlich still.

Das letzte Abendessen im Kloster war von bemerkenswerter Scheußlichkeit. Der Haferbrei – auch sonst nie schmackhaft – hatte diesmal das Aroma und die Beschaffenheit von ranziger Schleimsuppe. Zu der Enttäuschung über das Abendessen trat noch das im Kloster streng eingehaltene Schweigen, das ich als vierzehnjähriges Kind so tröstlich gefunden hatte und das jetzt an meiner Seele nagte. Ich tat alles, was man von mir erwartete, jedoch mit dem Enthusiasmus einer Schlafwandlerin, und die friedlichen Gesichter meiner ins Gebet versunkenen Gefährtinnen zerrten an meinen Nerven. Ich verbrachte Stunden verloren in einer anderen Welt, und eine dunkle, mir vage bekannte Erregung übte eine verheerende Wirkung auf meinen Magen und mein Denkvermögen aus. Ich war gereizt und ärgerlich und widerspenstig, weil der alltägliche Trott des Klosters die joie de vivre einengte, welche ich eben zu entdecken im Begriff stand. Mir war, als wäre meine Seele aus ihrem sicheren Schlupfwinkel vertrieben und rasselnd in einen seltsamen neuen Tunnel hineingestoßen worden, und ich besaß keine Vorstellung davon, wo ich hingeraten würde und ob ich jemals wieder in mein sicheres Versteck zurückkehren konnte.

Meine letzte Nacht im Kloster Notre Dame des Cerises verbrachte ich schlaflos. Ich lag wach und durchlebte noch einmal die vielen bitteren Augenblicke meines Lebens, in denen ich nichts anderes hatte tun können, als zu weinen oder meine Seele von meinen Empfindungen abzutrennen. Da war die Zeit ein Jahr zuvor, als die kleine Patrice Duval in den Armen von Sœur Marie Claire starb. Ich sah die blasse, durchscheinende Haut des Kindes vor mir, als wäre es erst am Vortag gewesen, dass sich die Prophezeiung des Arztes erfüllte. Patrice hatte die zwölf Jahre ihres kurzen Lebens mit der Kraft eines schwachen Zweigleins und der traurigen Sanftmut der Verlorenen hingebracht. Ich, als einziges Kind immer einsam, hatte Patrice als mein kleines Schwesterchen adoptiert, und ihr Tod traf mich, obwohl er nicht unversehens kam, im Innersten. Nur das unfehlbare Heilmittel des Lebens, die Zeit, hatte meinen Kummer nach und nach besänftigt.

Dann dachte ich daran, wie ich meine Eltern zum letzten Mal gesehen hatte. Das war ein wirklich schrecklicher Tag gewesen. Während der Überfahrt litten wir alle drei unter den unerfreulichen Wirkungen der Seekrankheit. Wir waren entzückt, als wir der Enge unserer Kabine endlich entfliehen konnten und mit noch unsicheren Füßen den fruchtbaren Boden Frankreichs betraten, welches meine Mutter stets das »leidenschaftlichste aller Länder« nannte. Doch wir reisten nicht nach Paris, sondern fuhren eiligst zum Kloster Notre Dame des Cerises, wo mich meine Eltern nach einer übertriebenen, schauspielerisch jedoch makellosen Demonstration schmerzlichen Bedauerns zurückließen. Sie verweilten keine Stunde länger, sondern machten sich schnell auf den Weg nach Paris, um sich dort einige Tage zu amüsieren, bevor sie wieder nach Irland und zu ihren Theaterkarrieren heimkehrten. Bevor sie mich verließen, sprachen sie freimütig von ihren heiteren Plänen für den Pariser Aufenthalt, und obwohl mit jedem Beweis ihrer grausamen Gleichgültigkeit ein Teil von mir starb, hütete ich mich doch, ihnen Widerstand entgegenzusetzen. Seit meiner Geburt war mir bewusst gewesen, dass ich für meine Eltern wenig mehr bedeutete als ein lästiges, überzähliges Gepäckstück auf ihren Reisen. Als Kind hatte ich sehr bald gelernt, dass sie mich jedes Mal, wenn mein Temperament mit mir durchging und ich einen Wutanfall bekam, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, zu meiner Großmutter mütterlicherseits nach Nordirland schickten, wo mich eine ganze Horde von Cousinen und Cousins erwartete. Dieses Spiel hatten meine Eltern und ich jahrelang gespielt: Meine Widerspenstigkeit wurde ihnen lästig, und sie schickten mich fort zur Großmutter, bis ihr schlechtes Gewissen oder eine vage Art von Liebe, die sie für mich empfanden, sie dazu bewog, mich zurückzuholen. An jenem Tag aber, da sie mich im Kloster am Rande der kleinen Stadt Pomme ablieferten, wusste ich, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen würde.

War ich damals traurig darüber gewesen? Ich war wütend, weil sie ohne mich nach Paris gingen und weinte die ganze Nacht bitterlich. Aus den Tagen wurden Wochen; die Nonnen und die anderen Schülerinnen näherten sich mir, doch ich weigerte mich, mit ihnen zu sprechen, außer um hässliche und abweisende Entgegnungen hervorzustoßen. Ich beantwortete ihre Freundlichkeit mit mürrischer Selbstsucht, war grob und ließ mich gehen. Doch nachdem ich ein halbes Jahr im Kloster gelebt hatte, durchbrach ein Mädchen meinen Schutzwall der Abwehr. Lisel fand zur rechten Zeit das richtige Wort, und all meine bis dahin ungeweinten Tränen flossen nun in Strömen. Lisel war eines von den älteren Mädchen, und ich erinnere mich, dass ich die weiche Rundung ihrer kleinen Brüste unter meiner nassen Wange spürte, als sie mich fest an sich drückte. Lisel wiegte unsere umschlungenen Leiber hin und her, während ich die Geschichte meines Unglücks hervorschluchzte. Sie sagte mir, es sei unsinnig zu glauben, dass ich nicht liebenswert sei, nur weil meine Eltern mir nie das Gefühl gegeben hatten, wirklich geliebt zu werden. Sie–––