cover

FRAUEN IM SINN

 

logo

Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

Sonja Schock

Und dann kamst Du ... und ich liebte eine Frau

 

K+S digital

Für Uta

Vorwort

 

Am Anfang steht vielleicht ein verstohlener Kuß zwischen besten Freundinnen. Oder die Bewunderung für eine Lehrerin. Oder die Begeisterung für Fußball. Die Abneigung gegen Röcke. Im nachhinein wird es immer irgendwelche Anzeichen gegeben haben.

Ein wissendes Lächeln, wenn die alten Fotos herausgekramt werden. Die große Schlaksige mit dem schwarzen Cordoverall inmitten all der Mädchen mit weißen Blusen und schwarzen Röcken. Konfirmation. Kein Kind mehr und doch noch nicht erwachsen. Sie ist stolz auf ihren neuen Anzug und gleichzeitig verunsichert. Denn sie will auch dazugehören. Deshalb ist der erste schmale silberne Ring ein wichtiges Zeichen. Daß der Verehrer auf dem Rummel immer Raupe fahren will, weil ihm auf den schnellen Geräten schlecht wird, ist ein bißchen langweilig, wird aber in Kauf genommen.

Ein lautes Lachen der besten Freundinnen, als das Bild vom Abschlußball herumgereicht wird. Da steht sie, mit Dauerwelle und Faltenrock. Was auf dem Foto nicht zu sehen ist, die Freundinnen aber wissen: Die Aufmachung paßt nicht zum Gang. Daß die junge Frau wie eine Feder in den Armen ihres Tanzpartners geschwebt wäre, wird später niemand behaupten wollen.

Der nächste Freund kann küssen und auch sonst so einiges. Er ist vier Jahre älter als sie. Mit ihm kann sie Fußball spielen, Moped fahren und Sex machen. Und das ist ziemlich prima. Sie wird bei diesem Typ Mann bleiben. Kumpel und Liebhaber in einem. Vollbärtige, gutmütige Gesellen. Sie wird sie mögen, aber nicht lieben. Was ihr mangels Vergleichsmöglichkeiten gar nicht auffällt. Wenn sie weg sind, sind sie weg. Meist sorgt sie selbst rechtzeitig dafür, daß sie gehen. Kein Herzschmerz. Oder höchstens für einen halben Tag und dann eher aus gekränktem Stolz.

Nach dem Abi fallen die Haare. Radikal kurz. Röcke trägt sie schon lange nicht mehr. Jahre später taucht diese Frau neben ihr auf den Fotos auf. Noch größer als sie und genauso kurze Haare. Derbe Schuhe, derbe Lederjacke. Sie werden beste Freundinnen, und dabei bleibt es. Auch noch, als allein der Geruch dieser Lederjacke ein heftiges Verlangen in ihr hervorruft. Mit der Frau geht sie zum ersten Mal zu einer Party nur für Frauen. Und sieht, wie zwei sich küssen. Und mag gar nicht mehr weggucken. Die beste Freundin macht zu ihrem Bedauern einen Rückzieher. Und erklärt, daß sie weder die Gefühle noch das Begehren erwidere. Und sowieso nicht lesbisch sei. Bald darauf trennen sich ihre Wege. In eine Heterofrau verliebt sie sich nie wieder. Was Herzschmerz ist, lernt sie auch so ziemlich schnell. Aber auch, was es bedeutet, in den eigenen Endorphinen fast zu ersaufen vor lauter Liebe. Und was es heißt, sich völlig fallen zu lassen.

Im nachhinein betrachtet sie die Jungs und Männer in ihrem Leben als Anker in einer relativ wilden Entwicklungsphase. Denn möglicherweise wäre es gar keine Freude gewesen, groß, schlaksig, butch, pubertierend und dann auch noch lesbisch zu sein. Als die Beine endlich auf festem Grund standen, war dieser Halt dann nicht mehr nötig. Auf jeden Fall ist diese Phase ein Stück Lebenserfahrung, das Vergleichsmöglichkeiten bietet.

Das trifft auf alle Frauen zu, die in diesem Buch porträtiert werden. Und die erzählen werden, wie es dazu kam, daß sie sich nach jahrelanger Ehe oder mehreren Männerbeziehungen schließlich entschieden haben, mit Frauen zu leben. Vielleicht bleiben bei der Lektüre ein paar Klischees auf der Strecke. Zum Beispiel, daß Frauen deshalb den Männern den Rücken zukehren und sich schließlich in die Arme einer Frau stürzen, weil sie mit den Männern in ihrem Leben nur schreckliche Dinge erlebt haben und/oder nie einen Orgasmus mit ihnen hatten. Oder daß Lesbenbeziehungen im Vergleich zu Heterobeziehungen besonders harmonisch und friedfertig sind. Oder daß alles zusammenkracht, wenn frau sich aus der Heteronorm verabschiedet.

Ich danke allen Frauen, die in stundenlangen Gesprächen selbst weit zurückliegende und fast schon verblaßte Momente erinnert und mit großer Offenheit auch über solche Dinge gesprochen haben, die sie normalerweise nicht mit einer Fremden bereden würden. Ihre Namen sowie die Namen aller anderen Beteiligten und auch viele Ortsangaben sind geändert worden.

Sonja Schock

Berlin, im Juli 1997

„Aber daß das was ist, was man leben kann …“

(Maike, 49 Jahre)

Der alte Mann, der gerade mit der Sense im Garten beschäftigt ist, weiß Bescheid. „Frau Hansen? Jau, da fahrn Se man hier den Weg lang bis zur großen Eiche, dann links, und dann kommen Se zur Freiwilligen Feuerwehr, das steht dran, und dann ist es das Häuschen direkt gegenüber, das so ganz zurückgesetzt ist, das sehn Se von der Straße aus kaum.“

Aus dem Häuschen schießen zwei große, wild bellende Hunde. Ein Schild am Gartentor warnt vor ihnen. So richtig gefährlich sehen sie eigentlich nicht aus. Aber besser ist besser. Maike kommt langsam, leicht humpelnd den Weg herunter und öffnet das Tor. Ein fester Händedruck, zwei muntere blaue Augen, die die Besucherin aufmerksam taxieren. Die bellenden Monster verwandeln sich in schwanzwedelnde, verspielte Schmusetiere, kaum daß die Hand gereicht ist. Ob die wirklich beißen? Maike lacht verschmitzt. „Bis jetzt hat das noch keiner ausprobiert.“

Der Tisch auf der Veranda ist bereits gedeckt. Maike hat gekocht, köstlich gekocht, gefülltes Huhn mit Reis, Nüssen und Rosinen. Hinterher zündet sie sich ein Zigarillo an. Das Gespräch beginnt stockend. „Das ist doch alles schon so lange her“, stöhnt Maike mehrfach. Auf die Frage nach ihrer Kindheit antwortet sie erst einmal im Telegrammstil.

„Aufgewachsen, ganz normal, Eltern, kleiner Bruder, erst Mietwohnung, dann Haus am Stadtrand. Schule, wie gehabt, erst Gymnasium, dann runtergeflogen, ich war einsame Klasse im Sechsenschreiben, dann Mittelschulabschluß.“

Ganz normal?

Blättern durch Familienalben.

„Das haben wir für meinen Vater zum Geburtstag gemacht, auch als Erinnerung an seine Gefangenschaft.“

„Kriegsgefangenschaft?“

„Nein, KZ natürlich!“

Natürlich. Als hätten sämtliche deutschen Männer dieser Generation im Konzentrationslager gesessen.

Der Vater ist Kommunist, KPD-Mitglied aus Familientradition. In der Nachkriegszeit wird er wegen seiner politischen Überzeugung dreimal aus der Behörde geschmissen, in der er als Angestellter arbeitet. Dreimal klagt er sich erfolgreich wieder ein. Gespräche über Politik, die den Familienalltag prägen. In Maikes Familie wird über Dinge geredet, über die in den meisten deutschen Familien lieber geschwiegen wird. Über den systematischen Terror der Nazis, das breite Mitläufertum in der deutschen Bevölkerung, die nahtlosen Karrieren ehemaliger NS-Würdenträger in der bundesdeutschen Verwaltung und Politik. Beide Eltern haben nur den Hauptschulabschluß, aber sie lesen viel, hinterfragen das, was um sie herum vorgeht. Das Haushaltsgeld verwahrt die Familie in einem Buch: Karl Marx, Das Kapital, Band 1.

Manchmal besucht die Familie Genossen in der DDR. Das ist Anfang der fünfziger Jahre noch ohne Kontrollen oder gar Zwangsumtausch möglich. Maike ist sechs Jahre alt, als die Familie 1953 zum ersten Mal gemeinsam nach „drüben“ fährt. Zu ihren ersten Büchern gehören Kinderbücher aus der DDR, die sie mit Begeisterung liest. Nicht immer ist der Vater mit den real existierenden Sozialisten, die sie kennenlernen, einverstanden. Einmal herrscht er einen besonders windigen Parteifunktionär an: „Mein Vater hatte mehr Arbeiterbewußtsein im kleinen Zeh als du im ganzen Körper!“ Maike wird sich an diese Szene erinnern, auch an die Streitereien mit ihrem Vater über Stalin. „Er hat in der Sowjetunion den Marxismus/Leninismus in die Tat umgesetzt“, beharrt der Vater, und er schwärmt von den Kolchosen, die den Bauern gehören, und den großen Staatsbetrieben, die nicht mehr für die Taschen der Bonzen produzieren. Doch Maike beschäftigt sich bereits als Heranwachsende auch mit den Kehrseiten der sowjetischen Diktatur. Sie weiß von den Schauprozessen und den Gulags, von der Verschleppung und Ermordung der Intelligenzija, und sie weiß, was mit den Bauern passiert ist, die ihr Land nicht in die Kolchose einbringen wollten. Darauf weist sie ihren Vater hin. „Der Zweck heiligt die Mittel nicht“, hält sie ihm entgegen.

Am Küchentisch wird diskutiert und gestritten. Maike wird früh ermutigt, den Mund aufzumachen und ihre Meinung zu sagen. Was ihr in der Schule manches Mal Ärger einbringt. Schon als kleines Mädchen stellt Maike sich gegen die herrschende Kleiderordnung. Während alle anderen Mädchen Kleider und lange Haare tragen, läuft Maike Tag für Tag in Lederhosen und mit kurzen Struwwellocken rum. „Meine Eltern fanden das in Ordnung, die haben mich da überhaupt nicht gebremst.“

Ärger gibt es mit der Mutter nur wegen Maikes chronischer Schlampigkeit. „Aufräumen, saubermachen, dieser ganze Dödelkram“ sind so gar nicht Maikes Sache. Alle Versuche, dem Mädchen den gewissen hausfraulichen Blick auf Staubmäuse und Saftflecken zu vermitteln, scheitern kläglich. Lediglich fürs Kochen kann sich Maike erwärmen.

Im Keller des Mietshauses entdeckt das Mädchen eine ganz andere Art von Arbeit. Einer der Mieter, der Opa einer ihrer Freundinnen, hat sich dort eine kleine Holzwerkstatt eingerichtet. Es riecht nach frisch bearbeitetem Holz. Maike liebt diesen Geruch, und es gefällt ihr, kleine Holzstücke in die Hand zu nehmen und mit den Fingern über die Maserung zu streichen. Der alte Mann gibt ihr eine Laubsäge. Ganz vorsichtig und konzentriert sägt Maike Figuren aus der dünnen Sperrholzplatte, die sie in den Schraubstock gespannt hat, sägt, bis das Sägeblatt ganz heiß ist und das Holz beginnt, ein wenig verkohlt zu riechen. Jetzt bloß nicht verkanten, sonst macht es Pling! und der dünne Metallstreifen ist gerissen. So entsteht ein Schiff, ein Baum, ein Haus. Und ein Traum.

Als Maike 1954 mit sieben Jahren in der ersten Klasse ist, hat sie einen großen Schwarm: ein Mädchen aus der neunten Klasse. Natürlich bleibt der Kleinen nur, die Große aus der Ferne anzuhimmeln. Später auf der Mittelschule lernt sie ihre beste Freundin kennen, mit der sie noch heute eng befreundet ist. Die Mädchen verbringen jede freie Minute miteinander, machen zusammen Hausaufgaben, erzählen sich Geschichten, schlafen nachts manchmal in einem Bett. Daß Maike sich nicht sonderlich für Jungen interessiert, bleibt den anderen nicht verborgen. Schließlich gehört es in der Pubertät dazu, mit jemandem „zu gehen“. Einmal, da ist Maike gerade fünfzehn Jahre alt, ruft einer ihrer Lehrer das Mädchen nach der Stunde zu sich. Maike wundert sich, was er von ihr will. „Sag mal, alle Mädchen in der Klasse haben einen Freund, nur du nicht. Warum eigentlich?“ Maike ist verwirrt, weiß keine passende Antwort. Sie merkt, wie sie rot wird, starrt angestrengt auf die Tafel, als stünde dort die Lösung. Aber da stehen bloß englische Sätze. Auf der Fensterscheibe direkt neben ihr krabbelt eine Fliege und sucht brummend einen Weg nach draußen. „Ich hab’ noch nicht den Richtigen gefunden“, murmelt Maike. Der Lehrer nickt. Maike rennt raus. Wenig später hat auch sie einen Freund.

„Natürlich war mir nach wie vor meine Freundin viel wichtiger. Wir waren Tag und Nacht zusammen, haben auch rumgeknutscht, aber daß das was ist, was man leben kann, auf die Idee bin ich überhaupt nicht gekommen. Mein Freund war nur Deko, der ist dann zum Glück ein halbes Jahr später weggezogen. Damit war das Thema durch, und keiner hat mich mehr gefragt. Mädchen fand ich viel attraktiver, die Jungs waren doch alle völlig blöde. Das ist doch noch heute so, in dem Alter sind das doch noch Windelträger.“

Mit sechzehn lernt Maike in der antifaschistischen Jugendgruppe einen sechs Jahre älteren Mann kennen und verliebt sich in ihn. Junge fröhliche Menschen machen Wandertouren. Und sie machen Fotos. Maike sieht glücklich aus mit ihrem Klaus. Wenigstens kein Windelträger. Bald ist dem Paar klar, daß sie heiraten wollen. Mit achtzehn ist Maike die erste aus ihrer Klasse, die zur Hochzeit lädt. Ha, euch zeig’ ich das, denkt sie, während sie die Einladungen schreibt.

Die große Liebe?

„Na ja, er war mehr so das kleinere Übel. Ich fand ihn schon nett und auch anziehend, aber na ja. Was ich wollte, waren Kinder, das wußte ich genau.“

Eigentlich könnte Maike den Sprung zurück aufs Gymnasium schaffen. Sie denkt darüber nach, weiter zur Schule zu gehen, beschließt dann aber, eine Ausbildung zur Verwaltungsangestellten zu machen. Verwaltungsangestellte. Noch heute spricht Maike das Wort so aus, als handelte es sich um etwas, das die Katze nicht ins Haus bringen würde. Aber die Lehre ist kurz und bringt schnell relativ viel Geld. Schließlich will Maike ja vor allem Ehefrau und Mutter werden. Dann ist es soweit, ein halbes Jahr, nachdem Maike die Schule verlassen hat, wird geheiratet, natürlich nur standesamtlich. Als der werdende Gatte am großen Tag seine Schuhe im besten Hochzeitshemd wichst und es dabei prompt mit Schuhcreme vollschmiert, kriegt Maike gewisse Zweifel. Auch der Kommentar ihrer Tante ist nicht gerade ermutigend. „Mal sehen, wie lange es dauert.“ Es folgt die Hochzeitsnacht.

„Das war nicht so der Hit. Irgendwie hatte ich mir das etwas anders vorgestellt. Das war alles etwas stockelig. Aber irgendwie ist dieser Punkt Hochzeitsnacht ja auch bescheuert. Ich hatte sowieso keine Ahnung, und er war vierundzwanzig und war auch nicht so erfahren. Vorher hätten wir schon gern mal Sex gehabt, aber da durften wir nicht. Das hat dann auch nach der Hochzeit noch ’ne ganze Zeit gedauert, bis ich wußte, was ich machen muß, daß ich ’nen Orgasmus kriege. Das ging dann aber, das zumindest hat er zugelassen, daß ich meinen Teil auch rauskriege, das war teilweise ganz gut. Also Missionarsstellung, davon krieg’ ich keinen Orgasmus, na gut, da mußte ich ihn halt auf den Rücken legen, damit ich auch einen bekam.“

Kinderkriegen geht schneller. Bereits zehn Monate nach der Hochzeit kommt das erste Kind, „richtig zack, zack, gleich danach“. Die junge Familie zieht in eine Neubausiedlung am Stadtrand. Obwohl Ute ein Wunschkind ist, fühlt Maike sich erst einmal reichlich überfordert. Sie muß die Lehre schmeißen und sich plötzlich um Kind und Haushalt kümmern. Letzteres fällt ihr, die noch immer eine heftige Abneigung gegen Tätigkeiten wie Putzen, Aufräumen und Spülen hegt, reichlich schwer. Regelmäßig stolpert ihr Gatte Klaus, der als Ingenieur arbeitet, abends ins häusliche Chaos. Dann brüllt er rum, beschimpft Maike, baut sich auf, daß Maike schon denkt, gleich schlägt er zu. Statt dessen greift er den nächstbesten Gegenstand und schleudert ihn gegen die Wand. Und Maike hat das Gefühl, daß sie beinahe hinterhergeschleudert worden wäre.

Ein Pascha ist Klaus nicht. Er greift durchaus auch selbst zum Wischeimer, kümmert sich nicht darum, ob die Nachbarn lästern, wenn er die Fenster putzt, das Treppenhaus reinigt oder die Windeln zum Trocknen aufhängt. Auch Maikes Mutter unterstützt ihre Tochter. Sie bügelt Klaus’ Hemden, eine Tätigkeit, für die Maike jedes Talent abgeht. Natürlich kann die Mutter es sich nicht verkneifen, hin und wieder den Zustand des töchterlichen Haushalts zu kommentieren. Dann drückt Maike ihr einen Lappen in die Hand und schimpft zurück: „Wisch doch selber, wenn es dir nicht paßt.“ Ein Jahr später kommt Susanne zur Welt. Klaus kann mit den kleinen Kindern nicht allzuviel anfangen, und es ist ihm recht, daß Maike sich jetzt hauptsächlich um sie kümmert und in der Wohnung nur das Nötigste macht.

Im großen und ganzen ist Maike zufrieden mit diesem Leben, nur manchmal meldet sich die kleine Stimme in ihrem Hinterkopf, die sie fragt: „Soll das alles sein?“ Böse Stimme, lästige Stimme, weggeschobene Stimme.

Hin und wieder bricht Maike aus. Dann bringt sie die Kinder für ein paar Wochen zu ihrer Mutter und geht arbeiten. Aushilfsverkäuferin, Regale einräumen, „allein um das Gefühl zu haben, mal wieder was zu tun“.

Fünfhundert Meter bis zum Lebensmittelladen, dreihundert Meter bis zur Spielwiese, drei Busstationen bis zur Kinderärztin. Die Wege müssen kurz sein mit zwei kleinen Kindern. Sie enden deshalb meist am Rande der eigenen Wohnsiedlung. Also engagiert Maike sich hier. Zu tun gibt es genug. Denn die Behörden haben bei der Konzeption der Siedlung ein paar Dinge vergessen: Spielplätze zum Beispiel, einen Kindergarten, eine Schule. Gemeinsam mit anderen gründet Maike eine Bürgerinitiative und nimmt den Kampf mit den zuständigen Stellen auf. Sie treffen sich, diskutieren, entwerfen Pläne, verfassen Schreiben, organisieren Protestaktionen. Und sie haben Erfolg. Stück für Stück erkämpft sich die Gruppe ein familiengerechtes Umfeld. In Deutschland herrscht Aufbruchstimmung Ende der sechziger Jahre. Selbst in der Neubausiedlung am Stadtrand kursieren die Begriffe und Konzepte der Studentenbewegung. Die Menschen, die hier wohnen, wollen in ihrem Viertel mitbestimmen und setzen sich zusammen, um ihre Vorstellungen vom eigenen Viertel zu bündeln und politisch durchzusetzen.

Als 1968 die DKP gegründet wird, tritt Maike ein. Sie macht Parteiarbeit, nimmt gemeinsam mit Mann und Kindern an Demonstrationen teil. Noch heute ist sie sichtlich stolz darauf, 1968 bei der Anti-Springer-Demo in Berlin dabeigewesen zu sein. Die große Koalition geht, Willi Brandt wird Bundeskanzler. Da ist Maike dreiundzwanzig Jahre alt. Drei Jahre später verabschiedet der Bundestag den sogenannten Extremistenbeschluß. Obwohl sich die DKP zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ bekennt, wird die Partei vom Verfassungsschutz beobachtet und werden ihre Mitglieder in den meisten Bundesländern als für den Staatsdienst ungeeignet eingestuft. Initiator des Radikalenerlasses ist die Hansestadt Hamburg. In einem internen Papier kritisiert Herbert Wehner den Eifer seiner Partei, sich gegen die Linke, insbesondere die DKP, abzugrenzen: „Denn wenn man hier einmal anfängt, wo wird man enden? Wann wird die nächste Gruppe fällig sein und die übernächste?“ Das fragt sich auch Maike, die die Verfolgung und Ausgrenzung von Kommunisten bereits durch die Geschichte ihres Vaters miterlebt hat. Als die große Hexenjagd auf tatsächliche und vermeintliche Genossen beginnt, sammelt Maike Gedächtnisprotokolle von den Anhörungsverfahren. Sie wertet diese aus und versucht, linke Lehramtskandidaten und andere Anwärterinnen für den Staatsdienst auf Fangfragen und sonstige Fallen vorzubereiten.

Mittlerweile sind die Mädchen in der Schule. Sie mosern, weil Maike ständig unterwegs ist. Sie hat jetzt auch eine Halbtagsstelle als Dekorateurin. „Wollt ihr lieber eine Mutter haben, die den ganzen Tag zu Hause sitzt?“ fragt sie die Kinder. Die beiden schütteln den Kopf. Nein, dann lieber eine Mutter wie Maike. Auch Klaus ist es ganz lieb, daß seine Frau dazuverdient. Die Familie spart auf ein Eigenheim.

Urlaubsalben. Mutter, Vater und zwei Kinder in Bukarest. Mutter, Vater und zwei Kinder in Prag. Mutter, Vater und zwei Kinder in Weimar. Mutter, Vater und zwei Kinder lachen fröhlich. Aber die Mutter lacht von Jahr zu Jahr weniger fröhlich.

Irgendwann beginnen die Träume. Immer ist es die beste Freundin aus der Schulzeit, die ihren nackten Körper an Maikes schmiegt, ihre Brüste in den Mund nimmt, sie zwischen den Schenkeln streichelt. Maike weiß nicht, was sie damit anfangen soll und ist fest davon überzeugt, daß sie die einzige Frau auf der Welt ist, die solche Phantasien hat. Verstohlen schleicht sie sich in die Stadtbücherei, schaut unter dem Stichwort „Homosexualität“ nach. Was sie dort findet, ist wenig ermutigend. Pseudowissenschaftliche Abhandlungen über Perversitäten und Verirrungen. Schließlich findet Maike sogar einen Roman: Quell der Einsamkeit. Was als glückliche Liebesgeschichte zwischen der Butch Stephen und ihrer Geliebten Mary beginnt, endet im deprimierenden Verzicht der Heldin. Diese ist fest davon überzeugt, ihrer Freundin weder Schutz noch Glück bieten zu können, und treibt sie deshalb mit einer Lüge in die Arme eines Freundes. Obwohl die einzige sexuelle Anspielung im Roman aus dem Halbsatz „… and that night, they were not divided“ besteht, wird das Werk im Erscheinungsjahr 1928 von der konservativen Presse angegriffen und seine Verbreitung in Großbritannien schließlich gerichtlich verboten. Daß es zumindest in den USA und in Frankreich erscheinen kann, liegt sicherlich nicht zuletzt am finalen Scheitern der lesbisch Liebenden.

Um Gottes willen, das ist nun dein Schicksal, denkt Maike, als sie das Buch zuklappt. Wie immer läßt Maike die Bücher offen im Schlafzimmer herumliegen. Normalerweise interessiert sich Klaus dafür, was sie liest. Doch diesmal sieht er über ihre Lektüre hinweg.

Klaus ist mit dem Eheleben nicht zufrieden. Immer wieder weist Maike ihn ab, wenn er Sex haben will. Denn ihr wird zunehmend klarer, daß das nicht das ist, was sie will. Sein Frust entlädt sich, als die beiden die Wohnung umbauen. Das elterliche Schlafzimmer wird zum zweiten Kinderzimmer, vom Wohnzimmer trennen sie einen kleinen Raum für sich ab. Statt eines Ehebettes soll dort ein Etagenbett stehen. Als Maike und Klaus einen Schrank aufstellen, will Klaus einen Schraubenzieher haben. Maike versteht ihn nicht gleich, da schlägt er plötzlich zu. Maikes Reaktion ist Reflex: Sie schlägt zurück. Danach werkeln sie weiter, verlieren kein Wort mehr über diesen Vorfall.

Nach zwei weiteren Jahren im Etagenbett beschließt Maike, daß es so nicht weitergehen kann. Vorsichtig bereitet sie ihre Kinder darauf vor, daß eine Trennung ansteht. Systematisch fördert sie ihre Selbständigkeit. Ute und Susanne lernen, sich bereits im Alter von acht beziehungsweise sieben Jahren das Essen selbst warm zu machen, sich allein um ihre Hausaufgaben zu kümmern, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Maike macht sich derweil auf die Suche. Weit und breit kennt sie keine Lesbe und ist sich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht doch die einzige in der Hansestadt ist. Das ändert sich, als sie 1973 durch Zufall an einen Wurfzettel gelangt: die Einladung zum ersten Hamburger Frauenfest.

Maike wird immer nervöser, je näher der Tag heranrückt. Sie hat nicht die geringste Idee, was sie dort erwarten wird, ist sich noch nicht einmal sicher, ob dort auch frauenliebende Damen anwesend sein werden. Und wenn ja, woran soll sie sie erkennen? Und wie soll sie sich benehmen? Als der Abend gekommen ist, wechselt Maike dreimal die Garderobe, bevor sie sich auf den Weg macht. Schließlich entscheidet sie sich für Jeans und ein blau-weiß gestreiftes Hemd. Das Fest findet in einer Kneipe statt. Maike geht erst einmal auf der anderen Straßenseite vorbei und schaut, wer da so reingeht. Ihr klopft das Herz bis zum Hals, als sie endlich kehrtmacht, die Straße überquert und an der Eingangstür klingelt. Bereits beim Eintreten glaubt sie ihren Augen nicht zu trauen: Plötzlich sind da Dutzende von Frauen, die miteinander lachen und tanzen. Maike sucht sich erst einmal einen sicheren Stehplatz neben der Bar und schaut und schaut und kann gar nicht aufhören zu gucken. Als sie beobachtet, wie zwei Frauen neben ihr sich innig küssen, spürt sie ein heißes Ziehen im ganzen Körper. Später findet sie den Mut zu tanzen. Und Blicke zu werfen. Da ist eine, die ihr gut gefällt. Maike gelingt es, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Danach geht sie nach Hause zu Mann und Kindern.

In Hamburg gibt es Mitte der siebziger Jahre zwei Frauengruppen. Maike weiß, in welcher die Frau ist, die ihr beim Tanzen manchmal zugelächelt hat. So kommt Maike mit dem Feminismus in Berührung und stellt fest, daß das mit dem Nebenwiderspruch nicht so ganz richtig ist. Bisher hat Maike die Frauenfrage in Anbetracht der Aufgaben des Klassenkampfes eher als zu vernachlässigende Größe behandelt. Als sie ihre neuen Erkenntnisse aus der Frauenbewegung in ihre DKP-Gruppe einbringen will, stößt sie auf Widerstand. Mit Frauenemanzipation möchten sich ihre Genossen lieber nicht beschäftigen. Aber Maike, DKP-Mitglied der Gründungszeit mit immer noch guten Kontakten zu den Genossen hinter der Mauer, bekommt ein Angebot aus der DDR: Sie könne in Leipzig einen Ingenieursstudienplatz haben, für Wohnung und Kinderbetreuung sei gesorgt. Maike überlegt. Sie könnte Klaus verlassen. Alles wäre bereits für sie und die Kinder geregelt. Und sie hat Freunde im anderen Deutschland, fühlt sich gar nicht mal unwohl dort. Aber es gibt auch diese kleinbürgerliche Piefigkeit, die sie abschreckt. Gerade jetzt, wo für sie ein ganz anderes Leben beginnt, das sie sich in der DDR so gar nicht vorstellen kann. Maike lehnt ab. Wenig später tritt sie aus der DKP aus. Und beschäftigt sich immer mehr mit Frauenpolitik.

 

DIE SIEBEN MORDPLÄNE DER LESBISCHEN FRAUEN

RICHTER FLOHEN VOR LESBIERINNEN

LEBENSLÄNGLICH! LESBISCHE FRAUEN BLIEBEN EISKALT

Fett sind die Überschriften. Beinahe täglich lauern sie an jedem Kiosk und auch morgens am Frühstückstisch. Lesbisch, lesbisch, lesbisch. Plötzlich steht das Wort in allen Zeitungen. Kaum ein Mordfall beschäftigt die Presse derart wie der Ihns-Prozeß. Da hatte eine genug von den Vergewaltigungen und Mißhandlungen durch ihren Ehemann und hat gemeinsam mit ihrer Geliebten einen Mörder gedungen, der den Gatten gemeuchelt hat. Die Gutachter plädieren angesichts des vorangegangenen Ehemartyriums für Milde. Der Staatsanwalt fordert lebenslänglich. Vor dem Gerichtsgebäude demonstrieren Lesbengrup- pen für eine faire Verhandlung. Das Urteil lautet auf lebenslänglich. Das alles findet 1974 in Itzehoe statt, nicht weit von Maike entfernt. Und doch kommt es ihr vor wie eine Geschichte von einem anderen Stern. Was hat die genüßlich ausgewalzte Sex-and-Crime-Story mit ihr zu tun? Viele Lesben-Aktivistinnen sehen das anders. Die Szene radikalisiert sich.

Derweil gesteht Maike der Frau aus der Frauengruppe, in die sie sich bereits beim Tanzen verguckt hat, ihre Verliebtheit. Die Angebetete findet Maikes Antrag „gar nicht so abwegig“. Schon als sie sich das erste Mal küssen, weiß Maike, daß sie auf dem richtigen Weg ist. Und dann wird ihr schlagartig klar, daß sie mit dieser Frau im Bett genau das erlebt, was sie sich immer gewünscht hat.

Dann geht alles sehr schnell. Zuerst macht Maike einen langen Spaziergang mit Klaus, erzählt ihm, daß sie ihn verlassen will, um mit Frauen zu leben. Die Kinder sollen bei ihm bleiben, da Maike erst einmal ihr eigenes Leben in den Griff bekommen will. Gemeinsam mit Klaus besucht Maike die eigenen Eltern und auch die Schwiegereltern, wohl wissend, daß sie deren Unterstützung brauchen wird. Vorher hat Klaus noch einen Wunsch: „Sag den Eltern bitte nicht, warum du mich verläßt. Das würde mir zu sehr weh tun.“ Daß Maike ihn ausgerechnet wegen einer Frau verläßt, kränkt seinen Stolz. Die beiden beschließen, daß sie sich offiziell einfach auseinandergelebt haben. Was ja auch nicht falsch ist. Die Eltern sind auch so schon reichlich verärgert, vor allem wegen Maikes Entscheidung, die Kinder bei Klaus zu lassen. „Rabenmutter“, sagt die eigene Mutter. „Rabenmutter“, sagt die Schwiegermutter. „Rabenmutter“, sagen auch einige andere lesbische Mütter aus der Frauengruppe. Rabenmutter, denkt Maike und sucht sich trotzdem eine eigene Wohnung und einen Vollzeitjob in einem Fotoverlag. Das alles geschieht innerhalb einer Woche. Klaus hilft ihr beim Umzug.

Die ersten Treffen mit Klaus und den Kindern sind schwierig. Vor allem Susanne, die mittlerweile acht Jahre alt ist, leidet unter dem Wegzug der Mutter. Wochenlang hat sie Bauchschmerzen, immer wieder schwänzt sie die Schule. Daß Klaus wegen der Trennung erst einmal ständig schlechte Laune hat, macht die Situation für die Mädchen nicht leichter. Daß Klaus, kaum ist Maike ausgezogen, eine neue Freundin hat, ist für Ute und Susanne ebenfalls schwierig. Dann fängt Klaus auch noch an zu bocken: „Ich kann die Kinder nicht mehr zu dir lassen, wie du lebst, das ist unmoralisch.“ Das Tauziehen beginnt, wird aber bereits zwei Monate später von Klaus’ Freundin beendet. Als er Maike wieder einmal den Kontakt mit den Kindern verweigern will, schaltet sich Beate ein: „Komm laß, das hätte bei mir auch eine Frau sein können.“ Klaus fällt die Kinnlade herunter. Dann gibt er den Widerstand auf.

Maike ist mittlerweile mit Ulrike, ihrer Freundin, zusammengezogen. Diese hat selbst ein Kind, muß aber immer wieder darum kämpfen, ihr Besuchsrecht wahrnehmen zu können. Ihr Mann hat erfolgreich gegen sie um das Sorgerecht gekämpft und allerlei Verleumdungen verbreitet, um sie in Mißkredit zu bringen. Daß Maike zwei Kinder hat, ist für Ulrike kein Problem. Sie nehmen die beiden Mädchen mit in den Urlaub und auch zu Frauenfestivals und in Frauenferienhäuser. Mit offenem Mund und großen Ohren sitzen Ute und Susanne dann mit am Tisch und lauschen sich in die fremde Welt hinein. Daß stets auch andere Kinder da sind, macht es ihnen leichter, sich an die Frauenwelt zu gewöhnen. Sie stellen bald fest, daß das, was ihre Mutter lebt, für sie in Ordnung ist.

Maike wird derweil zur besten Beraterin ihrer Nachfolgerin. Klaus und Beate heiraten ein Jahr nach der Trennung von Maike. Doch bald hat Beate einige Schwierigkeiten mit ihrem Gatten. Regelmäßig ruft sie Maike mitten in der Nacht an, um sich Ratschläge zu holen. Da ist zum Beispiel Klaus’ Hang zur Cholerik. Während Maike stets der Meinung war, daß ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung angebracht ist, findet Beate, daß die Aggressionen rausmüssen. Was fatale Folgen hat: Immer wieder entwickeln sich Streits zwischen Klaus und Beate zu regelrechten Prügeleien. Maike hört zu und gibt geduldig Ratschläge, obwohl ihr die nächtlichen Telefonate zunehmend auf die Nerven gehen. Trotzdem ist sie immer wieder bereit zu helfen. Als Beate im achten Monat schwanger ist, die Familie in ein Eigenheim umziehen will und offensichtlich überhaupt nicht klarkommt, ruft Maike ihren Ex-Mann an. „Sag mal, brauchst du Hilfe?“ Er braucht. Also rücken Maike und Ulrike mit dem Lieferwagen an und machen den Umzug. Später baut Maike gemeinsam mit Klaus und der kleinen Tochter das Dach seines Hauses aus. Nicht viel später bleibt Maike mitten in der Nacht mit ihrem Wagen liegen. Sie ruft Klaus an, und er kommt und schleppt sie ab. Das sind die beiden Ebenen, auf denen sich die beiden nach der Trennung begegnen: Dinge, die die Kinder betreffen, und gegenseitige praktische Hilfeleistungen. Auch die Kinder gehen zunehmend pragmatisch mit der Trennung um. Beide neuen Paare werden zu Schulaufführungen eingeladen, Vater und Ehefrau an einem Abend, Mutter und Freundin am anderen.

Ärger bekommt Maike vor allem mit ihrem eigenen Vater. Als sie eine Woche nach der Trennung mit ihrer Mutter telefoniert, fragt diese Maike, ob sie einen neuen Mann habe. Maike atmet einmal tief durch: „Nee, Männer sind es jetzt ja nun nicht mehr.“ Ihre Mutter klingt keineswegs erstaunt oder gar entsetzt. „Soll das heißen, daß du jetzt mit Frauen leben willst?“ „Ja.“ „Das wundert mich nicht.“ Im Hintergrund hört der Vater mit. Und der wundert sich nicht nur, sondern erteilt Maike Hausverbot. Sie bekommt keine Gelegenheit, mit ihm zu reden. Was zu Hause los ist, erfährt Maike dann von ihrer Tante, der Schwester ihres Vaters. Die Tante ist ein Fräulein und legt Wert darauf. Das Thema Lesbischsein ist für sie keins. Sie hat während ihrer Arbeit, erst im Krankenhaus und dann bei der Post, etliche Frauenpaare kennengelernt. Daß jetzt auch Maike … wundert sie überhaupt nicht. Mensch, ihr habt das wohl schon gewußt, und mich habt ihr dumm in die Ehe gehen lassen, denkt Maike. Immerhin erfährt sie von ihrer Tante, daß ihre Mutter den Aufstand probt. Nach dreiunddreißig Ehejahren hat sie ihrem Mann die Trennung angedroht, wenn dieser nicht einlenke und Maike wieder einlade. Derweil trifft sie sich hin und wieder mit Maike in Cafés oder besucht sie auch mal in ihrem neuen Zuhause.

„Ich war völlig perplex, daß meine Mutter sich so für mich stark gemacht hat. Das hab’ ich nie vorher erlebt. Meine Tante hat mir erzählt, du, die macht ernst. Danach ist das Verhältnis zu meiner Mutter sehr viel enger geworden. Für meine Mutter ist mein Coming-out der Punkt, von wo an wir ein besseres Verhältnis zueinander hatten, und das gefällt ihr sehr gut.“

Als der Vater nach anderthalb Jahren endlich zum Einlenken bereit ist, gibt die Tante das Signal. „Du, ruf jetzt mal an. Ich denke, deine Mutter hat ihn weichgekocht.“ Tagelang streicht Maike ums Telefon, nimmt den Hörer ab, wählt ein paar Ziffern, legt den Hörer wieder auf. Dann hat der Vater Geburtstag. Wenigstens ein aktueller Anlaß. Maike wählt die Nummer, und jedes Klingeln des Telefons schrillt ihr ins Ohr wie eine Fanfare. Als der Vater sich meldet, ist sie völlig verunsichert. „Ich wollte dir zum Geburtstag gratulieren.“ „Danke, wann kommst du denn mal wieder?“ „Ich weiß nicht, wann soll ich denn?“ „Jetzt, sofort.“ Maike wirft den Hörer auf und schnappt sich die nächstbeste Jacke. Eigentlich wollte sie ja heute … Eigentlich. Maike springt ins Auto und fährt, im Bereich jenseits der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit zum Haus ihrer Eltern. Der Empfang ist herzlich. Sie reden über alles mögliche, nur nicht über die Verbannung und den Grund dafür. Maike wird nie mit ihrem Vater darüber sprechen. Aber beim nächsten Anlaß lädt er ihre Freundin mit ein. Und behandelt fortan Maikes Partnerinnen als Teil der Familie. „Da war die Sache durch.“

Ihre Arbeit im Verlag hängt Maike nach einiger Zeit an den Nagel, obwohl sie zur Fotoredakteurin aufgestiegen ist und gutes Geld verdient. Maike ist in Aufbruchstimmung.

„Du hast ja immer mal Punkte, wo du dich hinsetzt und denkst, wie sind eigentlich die nächsten zehn Jahre, was passiert eigentlich. Und wenn du merkst, das ist es nicht, mußt du überlegen, was du statt dessen machst. Insofern gehörten Coming-out und neuer Job zusammen.“