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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

Birgit Utz

Smalltown Blues

Roman

K+S digital

KAPITEL I

Melanie

Mutter hat Mittagspause und nur eine halbe Stunde Zeit. Ich zeige ihr den Weg zum Lehrerzimmer. Auf den Gängen sieht man sich um und tuschelt. Ja, meine Mutter hat eine bescheuerte Dauerwelle. Ja, die Haare sind gefärbt, und sie versucht jünger auszusehen, als sie ist. Und ich muss mit ihr in die Sprechstunde. Super, dass das alle mitbekommen. Super, dass sie mal wieder was zu reden haben.

»Frau Schirkau, wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagt die Sommer mit einem falschen Lächeln und streckt Mutter die Hand hin. Mir auch, aber ohne Lächeln. Lässt mich ungern ins heilige Lehrerzimmer, ich sehe das schon. Nur ein paar Streber, meistens Klassensprecher, haben die Ehre, sich in Ausnahmefällen hier aufzuhalten. Mutter schiebt sie einen Stuhl hin. Ich hole mir selber einen, stelle ihn neben Mutters ab. Die Lehne ist wackelig, alles Schrott hier.

»Wie geht es bei Ihnen? Sie haben zwei Töchter, nicht wahr?«

Mutter spielt mit den Riemen ihrer Handtasche, die auf ihrem Schoß steht. Dann nimmt sie Haltung an, aufrecht, mit ihrem Profi-Arzthelferinnenlächeln. »Ja, das ist richtig. Meine Große ist schon in der Lehre. Frau Sommer, mein Mann und ich haben mit Melanie geredet. Es soll nicht mehr vorkommen. Ich weiß doch, welche Folgen das hat. Und Melanie sieht auch ein, dass es nicht in Ordnung ist. Stimmt’s?« Sie wirft mir einen kurzen Blick zu.

Ich nicke.

Die Sommer rückt ein kleines Stück auf ihrem Stuhl nach hinten, und ihre hochgezogenen Mundwinkel entkrampfen sich ein bisschen. Sicher hatte sie einen langen Vortrag vorbereitet. Darüber, dass Rauchen schädlich ist und der Anfang vom Ende. Das sollte sie mal David sagen, der raucht nämlich richtig viel; ich mach das nur zum Spaß. Aber David ist ja schon sechzehn. Voll der Unterschied.

Papa ist ausgerastet. Was mit mir los ist, hat er gefragt; er hat den Eindruck, dass mir wirklich alles egal ist. Mutter saß hinter ihm und hat eine Grimasse gezogen. »Lass sie doch«, hat sie gesagt. »Wir waren doch alle mal jung.« Papa hat sie angeschaut. Ich glaube, sie waren noch nie so kurz davor, sich zu streiten. Jedenfalls nicht während ich dabei war. Irgendwie streiten sie aus Prinzip nicht. Aber es blieb bei den Blicken, abschätzige Blicke, um nicht verachtend zu sagen. Die sind echt kaputt.

Zu mir hat Mama später nur gemeint, wieso ich das auf dem Schulhof machen muss. Wäre doch klar, dass man da erwischt wird. War total genervt, dass sie hierher muss. Will es schnell hinter sich bringen. Schwupp, hat sie den Plan von der Sommer umgeworfen. Voll super. Aber irgendein Schrott fällt der trotzdem ein.

»Sie haben schon miteinander geredet. Das ist gut. Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Frau Schirkau. Es geht nicht um einen Verweis oder ähnliches. Ich wollte Sie einfach sehen, um Ihre Meinung zu den Vorkommnissen zu hören, den Kontakt ein bisschen aufzufrischen. Mich interessiert eben, wie Sie dazu stehen. Seit wann wissen Sie denn, dass Melanie raucht?«

Mutter fällt nicht auf ihr Gesülze rein. Sie schlägt nur die Beine übereinander. »Als Ihr Brief kam, habe ich Melanie gefragt, was wohl drinsteht, und da hat sie’s mir gesagt. Ich hatte das schon befürchtet. Aber sie raucht noch nicht lange. Stimmt’s, Melanie?«

Ich nicke noch einmal und beobachte die Sommer. Darin habe ich Übung. Im Unterricht mache ich das stundenlang, davon wird sie furchtbar nervös. Sie nimmt einen Kugelschreiber in die Hand, rollt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, abwechselnd links und rechts. Manchmal fängt sie dann an zu schreien, wegen irgendeiner Kleinigkeit. Aber natürlich nicht, wenn Eltern dabei sind. Sie guckt meine Mutter an. »Es freut mich, dass Sie in Ihrer Familie so offen miteinander reden. Viele Eltern verlieren ja den Kontakt, wenn die Kinder älter werden. Was sagt denn Ihr Mann dazu?«

Mutter presst nun die Handtasche an den Bauch und spielt mit einer Locke. Sie ist korrekt geschminkt, sie kommt von der Arbeit. Sie ist eigentlich ganz normal, aber so, wie sie dasitzt, sitzen Mütter nicht da, sagt Steffi immer, und irgendwie hat sie recht. »Ja, also, mein Mann hatte leider keine Zeit mitzukommen. Er war ganz erschüttert. Es wird nicht mehr passieren«, sagt sie.

»Ihr Mann macht sich also Sorgen. Und Sie?«

»Erst mit sechzehn, das ist klar, das haben wir ausgemacht«, sagt sie viel zu schnell.

»Sie machen sich also keine Sorgen, weil Ihre Tochter mit Drogen zu tun hat?«, fragt die Sommer. Drogen, sehr witzig. Die soll mal Christiane F. gucken, wenn sie was über Drogen lernen will. Echt jetzt. Die spinnt. Und sie schaut mich immer noch nicht an. In Wirklichkeit hat sie nämlich Angst vor mir. Von Sorgen kann da keine Rede sein. Aber sie lügt wie gedruckt.

»Ich – sehen Sie, in dem Alter haben wir doch alle dumme Dinge gemacht, oder?« Mutters Beine sind unter dem Stuhl gekreuzt, ihre Hände halten sich an der Handtasche fest. Sie sagt immer, sie ist nicht gern zur Schule gegangen.

»Frau Schirkau, ich muss Ihnen nicht erzählen, dass Zigaretten oft nur der Anfang sind, gerade in dem Alter.«

Mutter nickt eifrig. »Ja, ich weiß …«

Der Kugelschreiber von der Sommer ist nach oben gewandert; sie rollt ihn jetzt knapp unterhalb des Kinns zwischen ihren dünnen Fingern hin und her. »Aber Sie sehen Ihre Tochter nicht gefährdet.«

Der Boden im Lehrerzimmer ist genauso versifft wie in den Klassenzimmern, immerhin das muss man ihnen lassen: keine Extrawürste, potthässlich ist es hier, mit nur ein bisschen weniger Schweiß und ein bisschen mehr Parfum als da, wo sie uns einpferchen. Nach einer kurzen Pause sagt Mutter, ohne aufzusehen: »Meine Tochter hat eine stabile Persönlichkeit. Sie bekommt das schon hin.«

In dem Grau könnte man verschwinden. Alle Böden in der Schule sind grau. Kleine Adern ziehen sich durch das Linoleum, Kratzer von Tischen und Stühlen. Manchmal, wenn ich Langeweile habe, male ich sie in meinen Heften nach, ganz dünn, damit ich danach noch drüberschreiben kann. Mutter hat überhaupt keine Ahnung von meiner Persönlichkeit. Sie weiß, dass meine Noten okay sind und dass ich viel unterwegs bin, aber hauptsächlich tagsüber. Meine Freundinnen besuchen mich manchmal, aber wir sind nur oben. Sie weiß, dass ich morgens aufstehe, nicht wie Steffi am Wochenende erst mittags. Ich kotze auch fast nie. Ich trinke nicht viel; helfe eher Steffi dabei, das Klo rechtzeitig zu finden. Aber schon das weiß sie eigentlich gar nicht. Geht sie ja auch nichts an.

»Es freut mich, dass Sie das so positiv sehen. Und als Mutter kennen Sie Ihre Tochter natürlich besser als ich. Aber wissen Sie, ich bin immerhin Melanies Klassenlehrerin. Zu Hause mag sich das ganz anders gestalten, aber in der Klasse ist Ihre Tochter eine Außenseiterin, das kann man leider nicht anders sagen. Sie kennen die Dynamik zwischen den Kindern in dem Alter. Stefanie ist die Einzige, mit der sie noch zu tun hat …«

Jetzt würde sie gern sagen: Sie wissen schon, der Vater ist Alkoholiker. Nur ist sie sich nicht sicher, ob meine Mutter nicht auch Alkoholikerin ist. Immerhin arbeitet sie den ganzen Tag, während die Mütter der Kinder aus gutem Hause nichts anderes zu tun haben, als die Wohnung sauber zu halten und leckere Dinge zu kochen. Die Sommer traut meiner Mutter nicht. Und meine Mutter bereut garantiert mal wieder, dass sie mich aufs Gymnasium hat gehen lassen. Mein Vater wäre mit der Sommer besser klargekommen. Zum Glück ist der nicht hier. Die Sommer endet mit einem müden: »Und David eben. Na ja, die Jungs.«

Ich schaue sie an, schieße ihr zwei giftgrüne Pfeile direkt durch die Brillengläser durch, in die Augen rein. Steffi ist nicht meine einzige Freundin, nur die einzige, die aufs Gymnasium geht. Mit Martina bin ich mindestens genauso gut befreundet. Und was heißt Außenseiter. Wer will denn dazugehören zu den ganzen Deppen?

»Ich weiß«, sagt meine Mutter. »Sie ist eben selber ein bisschen ein Junge. Das wächst sich noch raus.«

Die Sommer sieht meine Mutter ganz gütig an, und ich sollte jetzt irgendetwas sagen, aber ich weiß nicht was.

»Frau Schirkau, Sie arbeiten ganztags?«, fragt sie tatsächlich.

»Wir zahlen immer noch das Haus ab«, sagt meine Mutter.

»Natürlich. Sehen Sie, ich will Ihnen keine Angst machen. Natürlich ist Ihre Tochter nicht akut gefährdet abzurutschen. Aber es gibt erste Anzeichen: Rauchen ist einer der wenigen Anknüpfungspunkte Ihrer Tochter zu Gleichaltrigen. Ich will nur, dass wir an einem Strang ziehen. Ich weiß, dass Sie sich bemühen.«

Mutter sieht mich an. Ihre grünen Augen sind sehr hell, in meinen ist mehr Braun drin. Ihr rechtes Lid zuckt, nee, absichtlich macht sie das: Sie zwinkert mir zu, und ganz kurz ist sie so alt wie ich. Ich wette, sie hatte in Verhalten immer eine Drei, und sie hat garantiert geraucht. Mutter raucht immer noch, aber nur heimlich, wenn sie mit Hedi zusammen ist. »Weil Bernd das nicht leiden kann«, hat sie mal erzählt. »Eine Raucherin hätte der gar nicht genommen.«

»Ich glaube, meine Mutter muss zur Arbeit«, sage ich mit Blick auf meine Swatch. Die habe ich zur Firmung bekommen. Das war auch so eine Scheißveranstaltung, aber Papa hat drauf bestanden …

Meine Mutter lächelt mich an. Sie legt ihren Arm um meine Schultern, als wir rausgehen. Das macht sie sonst nie. Es ist schön. Und die Blicke von der Sommer, die ich in unseren Rücken spüre, können nichts dagegen ausrichten.

Vera

An die zwanzig Äpfel liegen schon im Korb, der an der Leiter hängt. Im Mai, in den ersten Wochen nach Tschernobyl, hieß es noch: Kein frisches Obst, ist alles radioaktiv verseucht. Bernd mischte sich auf einmal ein und wollte Melanie verbieten rauszugehen, wenn es regnete. Die Unterschriftenliste für den Ausstieg aus der Atomenergie wollte er dann aber nicht unterschreiben. Und jetzt ernten wir schon wieder ganz normal, das habe ich mir gleich gedacht. Nur Pilze will er diesen Herbst nicht sammeln.

Von nebenan hört man aufgebrachte Stimmen, das Paar links von uns streitet sich oft. Rechts ist es ruhig, da laufen nur die Fußgänger auf dem Weg in den Wald vorbei. Um die Ecke fangen die Einfamilienhäuser an. Von denen bekommt man kaum etwas mit. Unseres ist das Reihenendhaus; wir haben das Grundstück damals günstig über einen Schulfreund von Bernd erworben.

Bernd jätet Unkraut im Karottenbeet. Er kniet auf der Erde, ganz versunken, hackt um die Wurzeln der unerwünschten Pflanzen herum, packt sie mit seiner Hand so weit unten wie möglich und zieht sie sanft, aber bestimmt heraus. Bernd kann das stundenlang tun. Vielleicht fühlt er sich Gott dabei nahe. Mit den Jahren ist er immer gläubiger geworden. Ich finde, es ist Zeit für eine Pause, reibe einen Apfel an der Hose ab und gehe zu ihm hinüber.

»Willst du mal probieren?«, frage ich. Er schreckt hoch. »Na?« Ich halte ihm den Apfel vor den Mund. Er schiebt ihn mit dem Arm weg. »Entschuldigung.«

»Nein. Du hast es ja nett gemeint. Danke, Vera.« Er ist ganz blass im Gesicht und schwankt leicht.

Ich nehme ihn am Arm und halte ihn fest. »Ist dir schwindelig?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf.

Da taucht Bettina auf der Terrasse auf, mit Nena-Frisur, einem engen T-Shirt, unter dem sich der BH aufdringlich abzeichnet, und einem viel zu kurzen Rock. Der Helm, den wir ihr zum Geburtstag geschenkt haben, hängt über ihrem Arm. Sie hat selbst kein Motorrad, aber sie fährt so oft bei anderen mit, dass wir das sinnvoll fanden. Ein Helm muss ja auch passen. Deshalb sind die geliehenen selten sicher.

»Tschüssi«, ruft sie und wirft einen Handkuss in unsere Richtung.

»Bettina, fährst du mit Olga?«

Bernd nimmt sich die Wasserflasche, die auf dem Rasen steht, und trinkt einen Schluck.

»Ja«, sagt sie und verzieht genervt ihren Mund.

»Dann zieh dir bitte Leggins an.«

Sie tritt von einem Fuß auf den anderen. »Das sieht doch scheiße aus. Mama, es sind über zwanzig Grad.«

»Nur für die Fahrt, Betty.«

»Okay, okay.« Sie lächelt Bernd zu, der sich jetzt Wasser über das Gesicht laufen lässt. Sein T-Shirt ist schon ganz nass. So heiß ist es nun auch wieder nicht. Er fängt die letzten Tropfen mit der Zunge auf und wischt sich den Mund ab.

»Ich meine das ernst«, sage ich.

Bettina ist schon auf dem Weg, schiebt die Glastür hinter sich zu und tut so, als würde sie mich nicht hören.

Ich renne auf die Terrasse, reiße die Tür wieder auf und stürme durch das Wohnzimmer. Ich bin zu langsam. Meine Schuhe sind zu schwer. An den Sohlen klebt feuchte Erde. Es tut einen Knall, als die Haustür ins Schloss fällt.

Dann saust sie am Küchenfenster vorbei. Natürlich hat Bettina keine Leggins angezogen. Olga fährt eine 80er, und sie ist keine Raserin, aber die Gefahr einer Blasenentzündung sollte man nicht unterschätzen. Erst gestern hatten wir wieder eine Patientin in der Praxis. Soll sie doch eine Blasenentzündung bekommen, das würde ihr recht geschehen. Natürlich schaut Bettina in die andere Richtung, während sie sich an Olga festhält.

Ich ziehe die Schuhe aus und drehe den Wasserhahn auf. Tief durchatmen. Das ist die Pubertät. Du bist früher auch gern Motorrad gefahren. Mit Bernd. Als wir zusammenkamen, hat er mich oft von der Arztpraxis abgeholt. In unserem ersten Sommer hat er mich sogar bis nach Italien mitgenommen. Wir sind auf kurvigen kleinen Straßen durch die Toskana gefahren und haben in Jugendherbergen übernachtet, natürlich in getrennten Zimmern. Wir haben uns all die alten Städtchen angesehen: Lucca, Pisa, Siena, Florenz. Damals war es ein Skandal, dass Mama mir erlaubt hat, mit ihm zu verreisen. Aber sie war schon immer eine moderne Frau. Und ich hatte immer Respekt vor ihr. Nie im Leben habe ich sie angelogen.

Das Thermometer, das an der Scheibe klebt, zeigt wirklich über zwanzig Grad an. Nur am Abend wird es schon kühl. Das Wasser rieselt über die alten Turnschuhe in meiner Hand, fließt im Spülbecken ab. Ich gucke nach draußen. Ich bin ganz leer, meine Wangen sind nass. Verschwommen sieht das Rondell aus, das Ende unserer Straße. Manchmal wendet jemand, ansonsten ist es ruhig hier.

Melanie

Klar, Steffi und Martina finden, dass wir zu alt für das Baumhaus sind. Die Sonne malt Muster auf den Waldboden, bescheint Nadeln und das erste gefallene Laub; ich könnte den Weg blind finden, hinter dem Garten auf den Waldweg und dann ab durchs Gehölz, ein schmaler Pfad. Ich könnte das Baumhaus abreißen und sagen, es waren die kleinen Jungen von gegenüber. Ich könnte die Bretter in ihren Garten legen, und vielleicht würden sie ein neues bauen, eines, das auch benutzt wird. In unserem sitze ich nur noch alleine, wenn ich es zu Hause nicht mehr aushalte. Eigentlich also ziemlich oft, aber irgendwie ist das auch öde.

Die Damen interessieren sich jetzt für andere Dinge. Das letzte Mal waren sie hier, als wir Küssen geübt haben. Das war eine Woche vor Tschernobyl. Danach hatten die beiden Panik, und wochenlang wollten sie gar nicht mehr raus. Voll nervig war das, die ganze Zeit drinnen abzuhängen. Irgendwann bin ich allein wieder her, dachte, die kommen nach. Aber dann hatte es nichts mehr mit Tschernobyl zu tun, dass sie wegblieben.

Sie wollten vergessen, was hier passiert war. Wir haben uns Knutschflecken auf die Arme gemacht, oben, wo man die T-Shirts drüberzieht, und dann wollte Martina auf den Mund küssen, zuerst mit Steffi.

»Ich bin der Mann«, hat sie gesagt, und Steffi hat den Blick geübt: schräg von unten und tief in die Augen. Sie haben lachen müssen, und Martina hat ihre Haare ins Gesicht hängen lassen. Sie haben so viel gelacht, dass sie gar nicht zum Küssen gekommen sind.

»Lass mich mal«, habe ich gesagt.

»Hast du’s schon mal gemacht?«, hat Martina gefragt.

Mir war schwindelig. Mit wem hätte ich es schon machen sollen?

Steffi dann: »Mit David?«

Ich habe genickt und bin rot geworden. Zum Glück haben sie nicht gefragt, wie es war, mich nur gespannt angeguckt, als ob ich plötzlich etwas Besonderes wäre.

»Okay, dann machen wir mit Zunge.« Steffi hat sich grinsend zu mir gedreht.

Mir hat’s im Bauch gezogen, von unten und die Luftröhre hoch, und ich habe sie auf den Mund geküsst, wie ein Elternkuss. Sie hat wieder gekichert.

»Richtig jetzt!« Martina hat uns mit so Geieraugen angeschaut, das war seltsam.

Ich habe die Augen zugemacht und meine Zunge zwischen Steffis Lippen gesteckt, nach oben gestreckt. Ihr Gaumen war ganz nass, und ihre Zähne waren spitz. Jetzt merkt sie, dass ich keine Ahnung hab, hat mein Hirn gerufen, aber meine Zunge hat Spaß gehabt. Sie hat sich in Steffis Mund breitgemacht, sich hin- und hergeschlängelt, und Steffis Zähne haben gekitzelt.

Bis sie mich auf einmal weggeschoben hat. »Iiih!« Sie hat sich den Mund mit ihrem T-Shirt abgewischt und sich künstlich geschüttelt. »Die macht richtig ernst.«

»Du hast echt schon mit David, oder?« Martina wieder.

»Die ist Profi«, hat Steffi gemeint.

Ich konnte gar nichts sagen, weil sich alles noch gedreht hat.

Dann wollte Martina auch. Martinas Mund war größer, und ihre Lippen waren weich. Die habe ich abgeleckt, und sie hat ganz stillgehalten. In meinem Bauch war es ruhiger, dafür war mein Kopf jetzt durcheinander. Ich hätte sie gerne so umarmt, dass man den ganzen Körper spürt, aber da war diese Grenze, ich bin doch nicht bescheuert. Das weiß man, ohne dass man drüber redet.

»Na ja«, hat Martina danach gemeint. »Irgendwie komisch. Ist das immer so nass?«

»Ist Geschmackssache«, hab ich gesagt, und langsam bin ich wieder normal geworden und habe überlegt, dass ich keine Ahnung habe, ob ich zu viel Spucke genommen habe oder so, und vielleicht haben sie da schon gemerkt, dass ich gelogen hatte.

Jedenfalls haben sie rausgefunden, dass das mit David nicht stimmt. Martina wollte mit ihm gehen, da hat sie ihn gefragt. Jetzt knutschen sie auf dem Pausenhof, und er darf sie dabei umarmen. Mir wird schlecht, wenn ich das sehe.

Die Kastanie ist klein und dunkel, links, rechts, links, zu weit, jetzt ist sie weg. Kuckuck, kuckuck … Er ist wieder da. Vielleicht kann ich ihn von oben sehen. Ich würde ihn so gern malen, aber er bewegt sich zu viel. Ich werde mir wieder ein Stück Rinde vornehmen. Stück für Stück male ich den Baum, auf dem das Baumhaus gebaut ist. Die Rinde ist wie ein riesiges Puzzle. Das Haus ist auf drei Seiten geschlossen, mit einem Fenster nach hinten, und vorne ganz offen, mit einem blau-grün gestreiften Vorhang, den Papa damals drangehängt hat. Als ich noch in der Grundschule war, haben wir noch so Dinge zusammen gemacht: Fahrräder reparieren, den Zaun streichen, und dann habe ich mir das Baumhaus zum Geburtstag gewünscht. Ich habe Holz im Wald gesucht, für das Dach, und er hat Latten im Baumarkt gekauft. Und Teer zum Abdichten, Nägel, Schrauben. Meine Mutter war irgendwann total genervt, weil wir immer gleich raus sind, wenn er von der Arbeit kam.

Auf einer kleinen Lichtung steht das Baumhaus, am Rand, wo das Gehölz aufhört und das Gras anfängt. Ich ziehe die Schuhe aus – die letzten Wochen, in denen es noch geht, muss man ausnutzen. Aber irgendwas stimmt nicht. Dass der Vorhang zu ist, ist normal, aber nicht, dass er sich bewegt. Durch die Planken sieht man nichts. Die Bretter sind ganz dicht, zwei Schichten mit drei Querbalken, fest vernagelt und geteert. Von oben kommen Geräusche, das klingt wie im Porno. Da muss sich jemand reingeschlichen haben. Ich werd mir das mal ansehen.

Wenn man auf dem dritten Ast von unten liegt, kann man um die Ecke schauen. Ein weißer Po bewegt sich da in dem Verschlag, der Vorhang schwingt mit, rein und raus. Ein schmaler weißer Po, behaarte Beine. Er taucht in regelmäßigen Abständen in dem Spalt zwischen Vorhang und Seitenwand auf. Der Po gehört David, ist mir sofort klar. David und Martina.

»Raus!«, sage ich, erschrecke, wie laut es klingt, ganz eisig, lasse die Beine hängen, die Hände los, ich falle nicht tief. Schuhe in die Hand nehmen. Nein, ich renn jetzt nicht los. Am Waldrand liegen Stöcke rum. Man könnte Feuer machen, wie früher manchmal. Das könnte Eiche sein, ein dicker, fetter Eichenprügel. Das Laub harken, man kann sich auch drauflehnen. Ein richtiger Spazierstock. David fällt aus dem Baum. Der hat keine Ahnung. Das hätte schiefgehen können, wie er sich mit gespreizten Fingern abstützt. Und weg ist er.

Dann landet Martina, keinen Meter neben mir. Sie ist rot im Gesicht. »Du dreckige Spannersau.« Es klingt ganz erstickt. »Nur weil du keinen abkriegst.«

Sie spuckt auf den Boden, rennt David hinterher. Der Ast ist doch keine Eiche. Das ist eine Ulme. Ich versuche ihn anzuzünden, es klappt nicht richtig. Zu viel Regen, zu viel feuchtes Laub. Der Herbst kommt mal wieder zu früh. Ich werde ein bisschen Reisig sammeln, um ein kleines Feuer zu machen.

Bettina

Melanie hört ihre Musik, und zwar wie immer zu laut. Spätestens wenn man ins obere Stockwerk kommt, weiß man, wie es ihr geht. Dass sie gut drauf ist, kommt selten vor. Heute laufen mal wieder die Sisters of Mercy. Oft klopfe ich an die Wand, wenn es mir zu viel wird. Heute nicht, denn in den Pausen schluchzt sie immer wieder. Das hört gar nicht mehr auf. Ich weiß, dass sie meistens allein sein will, wenn sie Musik hört. Eigentlich will sie immer allein sein, und wir reden kaum noch miteinander. Jede macht ihr eigenes Ding. Aber das hier kann man nicht einfach ignorieren.

Sie antwortet nicht, als ich klopfe. Vielleicht hat sie mich nicht gehört. Ich versuche es noch einmal, lauter. Keine Reaktion. Wenn sie wollte, dass ich draußen bleibe, hätte sie mich schon angeraunzt. Darin ist sie Weltklasse. Die Klinke knarrt, abgestandene Luft schlägt mir entgegen. Da sitzt sie in der Ecke, Knie angezogen, ihre schwarz gefärbten Haare vorm Gesicht.

»Melli«, sage ich vorsichtig. Sie schaut nicht hoch. »Melli, wem soll ich aufs Maul hauen?«

Melli lacht in das Schluchzen hinein. In der Grundschule habe ich zweimal jemanden für sie verprügelt. Niemand fasst meine Schwester an. Aber das Lachen versinkt schnell wieder in ihren Tränen. Also setze ich mich neben sie. Sie weint weiter, als wäre ich nicht da, wie ein kleines Mädchen. Vorsichtig ziehe ich ihren Kopf auf meinen Schoß, so wie früher. Und streichle ihre ungekämmten Haare, die mich an Olis Haare erinnern, obwohl seine viel kürzer sind. Sie haben beide zu viel Haarspray drin. Oli verbietet mir immer, in seinen Haaren zu wühlen, weil ich damit die ganze Frisur kaputtmache. Ich streichle Melanies Haare, bis die Platte zu Ende ist. Draußen wird es langsam dunkel, und meine Schwester wird ganz still. Ihre Tränen haben einen kleinen Fleck auf meinem Rock hinterlassen.

»Hey, hast du Liebeskummer?«, frage ich.

»Nein, nur wegen Freundinnen«, murmelt sie in meinen Oberschenkel.

»Also doch«, sage ich. »Wegen Martina und David.«

Sie schüttelt entschieden den Kopf. An den Wurzeln sind ihre Haare dunkelbraun. Die muss ich mal wieder nachfärben. »Martina und Steffi reden nicht mehr mit mir«, sagt sie.

»Du bist in David verknallt, oder?« David ist auch Waver. Ich dachte immer, dass er ihr erster Freund werden würde.

»Nee«, sagt sie, und sie hat ja recht. Das geht große Schwestern nichts an, und vielleicht glaubt sie’s sogar selber.

»Steffi ist eh asi«, sage ich, »mit den Bonzeneltern, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen. Leute, die einen Vollalki als Vater haben, kriegen meistens einen Schaden ab. Vergiss sie einfach.«

Ich erzähle ihr von Fatma, die jetzt Punkerin ist und mich spießig findet. Neulich hat sie zur Berufsschule kleine Jägermeisterflaschen mitgebracht und wollte, dass wir die zusammen in der großen Pause trinken. Weil ich nicht mitgemacht habe, hat sie sich weggesetzt. »Ist normal«, sage ich. »Wenn es nicht mehr passt, muss man sich eben neue Freundinnen suchen. Ich hänge jetzt mit Olga ab. Die ist zwar ein bisschen prollig, aber man muss es nehmen, wie’s kommt, weißt du? Und zu dritt ist sowieso scheiße. Ihr wart doch immer zu dritt, oder?«

Melli legt jetzt die Housemartins auf. Es gibt also noch Hoffnung. Die klingen richtig optimistisch im Verhältnis zu Melanies sonstiger Sammlung. Sie braucht ständig Musik. Das meiste überspielt sie sich von irgendwem. Alle hören mit, aber niemand redet mit ihr. Meine Schwester ist wirklich ein seltsamer Mensch geworden, seit sie in der Pubertät ist. »Sag mal«, meint sie jetzt, während sie sich neben mir niederlässt, die Haare ganz zerzaust und das Gesicht fleckig vom Weinen. »Könntest du mir die Haare schneiden?«

»Du hast aber so schöne dicke«, sage ich. »Und außerdem kann ich’s noch gar nicht richtig. Man darf erst nach der Lehre selber schneiden. Hast du das gewusst? Die sind da voll streng.«

»Ist mir doch egal«, sagt sie. »Ich bin dein Modell. Ich schimpf auch nicht, wenn’s schiefgeht. Kann doch nur besser werden.«

Sie lächelt mich an. Dabei sieht sie fast ein bisschen niedlich aus. Eigentlich ist meine Schwester sowieso voll niedlich, nur darf man ihr das niemals sagen. Und ich stehe wirklich nicht auf ihre Frisur. Nur kann ich sie mir kaum mit anderen Haaren vorstellen. Diesen schwarzen Vorhang schleppt sie seit Ewigkeiten mit sich herum. Nicht mein Fall, aber er gehört irgendwie zu ihr. »Und wie?«, frage ich.

Sie schnippt mit den Fingern einmal um ihren Kopf herum. »Wie du magst«, sagt sie. »Du musst doch üben. Aber nicht länger als bis übers Ohr.«

»Richtig kurz hab ich noch nie geschnitten«, sage ich.

»Komm, du kannst das sicher super«, sagt Melanie mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen.

»Dir ist schon klar, dass man dann dein Gesicht sieht?«

Sie streckt mir die Zunge raus. »So scheiße sehe ich auch wieder nicht aus.«

»Ich mein ja nur – nicht dass du dich nachher beschwerst.«

Ihre Hand ist kalt und verschwitzt, als sie sie in meine schiebt. Wir schleichen uns kichernd durch den Flur ins Bad, obwohl gar keine Gefahr besteht, dass wir erwischt werden. Mutter guckt unten Traumschiff, und mein Vater ist bei einem landesweiten Kirchenchortreffen in Mainz. Davon abgesehen, haben sie Melanie sowieso schon aufgegeben, was ihr Aussehen angeht. Wahrscheinlich ist es ihnen ziemlich egal, ob ihre Haare kurz oder lang sind.

Melanie

Endlich kann ich mal wieder duschen, so lange ich will. Werktags blockiert Bettina das Bad so ewig, dass ich mir manchmal nur die Zähne putze. Wenn sie frei hat, schläft sie bis zum Mittag, da habe ich meine Ruhe.

Die Dusche auf harten Strahl stellen und viel Seife nehmen, bis es schäumt. Mit Mutters Bürste die Beine massieren; das kribbelt. Und dann den Bauch entlang und die Arme. Jetzt die Beine rasieren, Tina hat’s mir gezeigt. Das machen bei mir in der Klasse noch nicht viele. Kopf waschen, mit den kurzen Haaren geht das schnell. Ein zweiter Gang mit Bettinas Spülung, aber nur ganz wenig, sonst gibt’s Stress. Die kauft sie von ihrem Taschengeld. Ich spare auf einen Walkman. Mit den kurzen Haaren sieht man das Gesicht wirklich mehr, und manchmal ist das anstrengend. Aber ich bin das einzige Mädchen mit kurzen Haaren in der Klasse, allein dafür lohnt es sich schon. Und alle dachten, dass ich beim Friseur war.

Zumindest die, die noch mit mir reden, sagen das, die Steffi nicht auf ihre Seite gezogen hat. Eine ganze Horde hat sie um sich versammelt, die immer das machen, was sie macht. Und die finden sowieso, dass es scheiße aussieht, die finden alles scheiße, was ich mache. Ein paar Mädchen aus der Parallelklasse sind ganz okay. Mit einer gehe ich jetzt von der Schule nach Hause, wenn wir gleichzeitig aus haben. Ich habe mich umgesetzt, neben Nick. Der ist ein bisschen still, aber wir rauchen in der großen Pause in den Büschen. Steffi und Martina trauen sich nicht mehr. Nächstes Jahr kann ich endlich in die Raucherecke.

Den Strahl sanfter einstellen, abwechselnd kalt und heiß. Im Unterricht spielen wir Quartett, noch mit zwei anderen Jungen. Steffi und ihre Clique gucken dann rüber und tuscheln was von Babykram, extra laut, damit ich es höre, die blöden Tussen. In Wirklichkeit sind sie neidisch, weil sie sich nicht trauen, mit den Jungs zu reden. Nur kichern können sie, wenn die dabei sind, und drauf warten, dass einer aus der Klasse über uns fragt, ob sie mit ihm ins Kino gehen. So ’n Quatsch. Die glotzen nur, die Jungs, die trau’n sich genauso wenig. Mich fragen sie manchmal, wie man uns am besten beeindruckt. Ich sag ihnen, sie sollen Komplimente machen, da fallen die alle drauf rein, und wir lachen darüber.

Und für Brüste interessieren sie sich, die Jungs. Gucken immer hin und werden rot. Darüber reden sie nicht mit mir, klar. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt drüber reden. Bettina ist total stolz auf ihre und kauft sich BHs, wenn sie Geld übrig hat. Ich brauch keinen, meine sind klein. Und trotzdem noch zu groß. Ich weiß gar nicht, ob ich Brüste haben will. Irgendwie passt das nicht richtig.

Das ganze Bad liegt im Nebel, wie in ’ner Scheißdisco. Handtuch halb nass, Spiegel abwischen, aha. Bettina meint, ich wäre zu dünn. Vielleicht ist sie auch nur neidisch. Der Spiegel geht bis zum Boden, da sieht man alles. Auch wie ich größer werde, wenn ich mich unten anfasse. Es ist nass und glitschig zwischen meinen Fingern.

Da geht die Tür einen Spaltbreit auf. Im Spiegel sehe ich Vaters Kopf. Er ist ganz rot und verschwitzt. Ich schnappe das nasse Handtuch, das jetzt auf dem Boden liegt. Mir fällt nichts ein, mir ist schlecht, ich kotze gleich, er stottert: »Entschuldigung, ich, äh, ich wollte nur …«

Der Arsch, er hat doch eh schon alles gesehen. Peng, die Tür fällt wieder zu. Als ich mich umdrehe, in das Handtuch eingewickelt, ist er schon weg. Mein Vater mit seinem heiligen Getue immer, mit seiner Kirche und seinem Chor.

Der Boden ist kalt, überhaupt ist es zu kalt auf einmal. Ich geh zur Schüssel. Saures kommt hoch, das schüttelt einen durch. Dann ist es draußen. Ich will schlafen, ich brauch Wasser, ich will das alles nicht. Und mein Vater ist so hässlich, so unglaublich hässlich. Der kann nicht einfach nett sein; wenn er’s versucht, wird es schleimig. Als er von dem Chortreffen zurückkam, hat er meiner Mutter Blumen gekauft. Rote Rosen, voll peinlich. Aber meine Mutter war ganz gerührt. Wie die beiden zusammengekommen sind, ist mir sowieso echt ein Rätsel.

Vera

Auf dem Vorplatz der Kirche haben sie Stände aufgebaut, an denen sie Weihnachtsplätzchen, selbst gebastelten Christbaumschmuck und gehäkelte Topflappen verkaufen. Die Holzgerüste sind mit Tannenzweigen, Lametta und Kerzen in allen Farben und Formen geschmückt. Die Kinder haben vereinzelt Tische mit alten Spielsachen und Selbstgemachtem aufgestellt: Salzteig, Makramee und Holzarbeiten. Die Kirche selbst wurde erst vor ein paar Jahren gebaut. Sie ist ein Betonklotz mit Kupferdach und soll ein Schiff darstellen. Das hier ist Diaspora für die Katholiken, deshalb halten sie umso fester zusammen. Dominiert wird das Geschehen von eifrigen Müttern und älteren Hausfrauen, die überall stehen und laufen und sitzen. Dicke Matronen, die mich freundlich grüßen, und dünne junge Frauen, die viel älter aussehen, als sie sind. Ich habe Jeans angezogen, keinen meiner Röcke. Ich habe kein Parfum aufgetragen, und meine Haare hängen glatt herunter. Aber ich schätze, dass ich trotzdem noch auffalle. Ich sehe einfach zu gut aus.

»Schön, dass Sie da sind, Frau Schirkau«, schallt es von überall her, während ich mit Bernd einmal über den Platz schlendere, und alle wollen sie einem die Hand geben, aber da klingt natürlich mit: auch mal.

Nun sitze ich neben Frau Hebbel, der Haushälterin des Pfarrers, auf einer der Bierbänke. Es ist viel zu kalt hier draußen. Ich ziehe den Schal über meine Ohren. Bernd ist schon zur Bühne gegangen, nachdem er mich noch, ganz im Ernst, bat, ihm die Daumen zu drücken. Seit er befördert worden ist, ist er oft komisch. Beschwingt und gleichzeitig so abwesend. Nachdem ich jahrelang nicht mehr dabei war, wollte er diesmal unbedingt, dass ich mit zum Weihnachtsmarkt komme.

Zuerst singt der Kinderchor mit Frau Donato, von der ich immer noch vermute, dass sie für Bernd schwärmt. Aber so etwas merkt er gar nicht.

Die Kinder singen O du fröhliche, sehr falsch, dabei ganz rührend, aber wenn ich sie so ansehe, bin ich froh, dass meine Töchter aus dem Alter heraus sind. Vor allem Melanie mit ihren Unfällen und den ominösen Bauchschmerzen, die sie immer wieder plagten. Aber auch Bettina, die in der Grundschule so große Schwierigkeiten hatte, dem Stoff zu folgen. Sie war schon immer eher praktisch veranlagt, so wie ich. In der Friseurlehre macht sie sich ganz ordentlich, glaube ich. Ansonsten hat sie momentan nur noch Jungen im Kopf, aber das ist normal. Es ist nun mal das Spannendste in der Zeit, und die Aufregung legt sich früh genug wieder.

Bernd singt Bass. Sie haben immer zu wenig Bässe, und er hat wirklich eine schöne Stimme. Sie singen Es ist ein Ros’ entsprungen und Maria durch ein’ Dornwald ging. Bernds Obsession mit der Heiligen Jungfrau Maria ist mir ein besonderes Rätsel.

Vor den Auftritten ist Bernd sehr nervös, aber wenn er auf der Bühne steht – in der letzten Reihe, wo man ihn allerdings durchaus sieht, und vor allem hört man ihn –, wirkt er sehr ruhig und gefasst. Seine Lippen formen jeden Vokal mit großer Hingabe. Der Chorleiter ist ein Profi; er macht seltsame Übungen mit ihnen, um die Aussprache zu perfektionieren und damit die Stimme aus dem Bauch kommt.

»Ihr Mann ist eine große Stütze«, sagt Frau Hebbel zu mir. Sie ist nicht gerade mit Schönheit gesegnet und könnte außerdem seine Mutter sein, aber der Pfarrer und sie stehen in regem Blickkontakt. Er hat sich bei seiner kleinen Ansprache bei ihr bedankt: ohne sie sei dieses Fest, wie so vieles andere, nicht möglich gewesen. Und sie ist zart errötet – ich würde sagen, das ist Liebe.

»Ich weiß«, sage ich. »Und er hat so viel Spaß dabei.«

Sie drückt meine Hand und hält sie fest. Ich ziehe sie reflexartig zurück. Ihre Mundwinkel sinken wieder an ihren angestammten Platz, nämlich nach unten, und sie sieht zur Bühne.

Nach den Sängern kommen noch die Posaunisten. Nicht einmal die Hälfte von ihnen trifft den Ton auch nur annähernd; dafür sind sie die Lautesten. Bernd löst sich aus dem Chorklüngel, nachdem sie sich alle umarmt haben. Das wäre nichts für mich, diese Tatscherei. Letztens, direkt nach Bernds Beförderung, waren sie alle zusammen auf einem Chorwochenende. Da wurde schon beim Frühstück gesungen, hat er ganz begeistert erzählt. Diese satte Zufriedenheit kann einem wirklich auf die Nerven gehen.

Als wir zusammenkamen, dachte ich, der Chor sei ein Überbleibsel aus Bernds Kindheit, und das ist er wohl auch, aber Bernd ist ihm treu geblieben. Bernd ist überhaupt ein treuer Mensch. Er kommt strahlend und mit geröteten Wangen auf mich zu. »Das war schön«, sage ich.

»Es war wundervoll«, sagt eine Frau neben mir, die ich nicht kenne.

»Das ist Erna Strobel«, stellt Bernd sie vor. »Ein Fan von uns.« Und die Frau kichert. Sie ist schon jenseits der siebzig.

Anscheinend ist Bernd jemand, den viele gern als Schwiegersohn hätten. Sie wollen ihm Stullen schmieren und Socken stricken. Nur meine Mutter macht da eine Ausnahme: Sie mag Bernd nicht besonders, auch wenn sie uns am Anfang sehr unterstützt hat. Als ich ungewollt schwanger war und wir ganz schnell geheiratet haben.

»Lass uns zum Buffet gehen«, sagt Bernd, nimmt mich an der Hand und zieht mich in den Gemeindesaal. Auf dem braunen Teppich sind lange Tafeln mit roten Papiertischtüchern aufgebaut, geschmückt mit Kerzen und Tannenzweigen. Bernd sucht uns einen Platz, bringt meine Jacke zur Garderobe und sagt, er besorgt uns Kuchen.

Ich setze mich auf einen dieser Plastikstühle, die man so praktisch stapeln kann. Eine bunte Mischung an Leuten ist hier versammelt, würde man wohl sagen. Alle haben gemeinsam, dass sie schlecht gekleidet sind und ihr Lächeln irgendwie aufgesetzt ist. Bernd kredenzt mir Rüblitorte, eingerahmt von ein paar Vanillekipferln, und einen Tee. »Den Kaffee können sie hier nicht so gut«, flüstert er mir ins Ohr. »Frau Hebbel macht ihn einfach zu dünn.« Ich lache.

Er stellt mir die Argentinierin vor, die uns gegenübersitzt: Julieta, die einen Deutschen geheiratet hat. Sie hat ihn in Buenos Aires kennengelernt, wo sie beide mit Straßenkindern gearbeitet haben. Jetzt ist sie Tagesmutter, für mehr reiche es nicht, klagt sie, während sie den Jungen auf ihrem Schoß auf und ab hüpfen lässt, ihr Deutsch sei nicht das Beste. Das stimmt allerdings. Ich sage trotzdem, sie spreche gut. Sie wechselt das Thema, klagt über die Vereinzelung hier, den fehlenden Familienzusammenhalt, die wenigen Kinder, als ihr Mann sich zu uns gesellt, mit einem Jungen im Grundschulalter an der Hand. Ich habe diesen Mann schon auf der Bühne gesehen. Er ist mindestens zwanzig Jahre älter als sie.

»Das ist Karl, unser Startenor«, sagt Bernd und strahlt ihn an, während der den Arm um Julieta legt und sie auf die Stirn küsst. Ich habe auf einmal keine Lust mehr auf Rüblitorte. Mir ist schlecht. Das merkt zum Glück niemand, weil die Männer über die Vorbereitungen zum Weihnachtsgottesdienst reden, wo der Chor den wichtigsten Auftritt des Jahres hat, und ich einfach Julieta zuhöre, die weitererzählt. Was, bekomme ich nicht so genau mit. Ich werde nachher Mutter anrufen. Vielleicht kommt sie noch auf einen Wein vorbei. Ich könnte sagen, sie kam unangemeldet, wenn Bernd fragt. Es war keine gute Idee, hierherzukommen.

In einer Redepause erzähle ich Julieta etwas von einem Abendessen mit meiner Mutter. »Warum kommt sie nicht her?«, fragt Julieta erstaunt.

Bernds Miene verfinstert sich.

»Jetzt geht es doch erst richtig los«, sagt er, als er mich zum Ausgang begleitet. »Sind die Leute hier so schlimm, dass du sie anlügen musst?«

»Nein, Bernd. Es war wirklich nett. Ich habe nur Magenschmerzen. Ich muss was Falsches gegessen haben.«

Bettina

Gleich nach dem Termin beim Frauenarzt habe ich mich mit Olga verabredet, damit ich ihr alles erzählen kann. Eigentlich war es gar kein Problem. Ab sechzehn verschreiben sie die Pille, ohne groß zu fragen.

»Dass deine Mutter dich nicht schon lange hingeschickt hat, so viel wie du unterwegs bist«, sagt Olga, während sie versucht, ein Stück Vanilleeis aus ihrem Eiskaffee zu fischen. Die Kugel rutscht ihr immer wieder weg.

»Sie weiß, dass ich vernünftig bin.«

»Soso.« Olga lacht.

Ich lache mit und schiebe mir ein Stück Banane in den Mund. Olga bricht fast zusammen. Woran die immer gleich denkt. Vom Nebentisch schauen zwei Mädchen rüber. Nein, Olga ist mir nicht peinlich. Ich habe selten so viel Spaß gehabt wie mit ihr.

»Meine sagt immer, ich soll Kondome benutzen, wegen Aids«, sagt Olga.

»Ach komm, das kriegen doch nur Schwule.«

»Meine Mutter weiß nicht mal, was Schwule sind«, sagt Olga. Ihre Eltern sind auch Katholiken; sie sind vor fünf Jahren aus Polen rübergekommen. Aber sie sehen ein, dass man die jungen Leute nicht davon abhalten kann, sich zu amüsieren. Kurz habe ich überlegt, ob ich mit Papa rede, damit er mir Geld für die Pille gibt. Aber das wäre ihm sicher wahnsinnig peinlich gewesen.

Ich schätze, Thorsten geht sowieso davon aus, dass ich sie nehme. Bisher habe ich immer so getan, als würde ich nur deshalb nicht mit ihm schlafen, weil wir noch nicht lange genug zusammen sind. Inzwischen sind es immerhin vier Wochen. Und aufgefallen ist er mir schon im Frühjahr. Er geht mit mir auf die Berufsschule, macht eine Schreinerlehre. Ich hatte noch nie einen, der so gut und so hemmungslos geküsst hat, mit Zunge, mitten auf dem Schulhof. Ich weiß nicht, ob er mich liebt, aber auf jeden Fall steht er auf mich. Er sieht super aus, fast zwei Meter groß, und ich kann kaum noch schlafen, so sehr freue ich mich jeden Tag darauf, ihn zu sehen. Die letzten paar Male, wenn wir allein waren, hat er angefangen, mich anzufassen, nicht nur die Brüste, sondern auch unten. Er hat es garantiert schon gemacht. Das ist gut. Dann weiß er, wie es geht.

Olga gibt noch ein paar Tipps. »Beim ersten Mal tut es ein bisschen weh. Aber mach dir keine Sorgen, danach wird es besser. Du kannst auch ein bisschen Spucke hinschmieren, wenn du zu trocken bist.«

»Ich bin echt spät dran, oder? Wann war es denn bei dir?«

Sie lächelt geheimnisvoll. Ich hätte das Bananensplit ohne Sahne bestellen sollen. Mein Arsch ist sowieso schon zu fett, den habe ich von Mama geerbt. »Das geht dich nichts an.«

»Okay. Siebzehn ist jedenfalls echt, na ja, ist schon fast peinlich, oder?«