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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Katherine V. Forrest

 

Das Gebot der Stunde

 

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Gerlinde Kowitzke

 

 

 

K+S digital

SAMSTAG
28. SEPTEMBER 1991

 

Where the Streets Have No Name

QUEER NATION lautete die in den Ton gebrannte Aufschrift quer über der Brust des Flamingos, der im Vorgarten des Wochenendhauses von Pat Decker aufgepflanzt war.

Pat eilte die Verandatreppe herab, riss den Flamingo aus dem Boden und schleuderte ihn in den wuchernden Farn vor den Fenstern.

Bradley Jones schüttelte grinsend den Kopf. Warren Newman tänzelte neben ihm von einem Fuß auf den anderen, als habe er ein Lied im Ohr, dann sang er: »In-a-your-face, ever-y-place.«

»In San Francisco offen schwul zu leben ist kein Kunststück, junger Mann!«, fauchte sie. »Spar dir deinen ACT-UP-Kram für Averill.«

Sie baute sich vor Bradley auf – empört über seinen Aufzug, die modischen Risse an den Knien und das verdammte Loch direkt neben seinem Schwanz. Wütend darüber, dass er sie womöglich benutzte, sich Warren gegenüber als radikal aufzuspielen, deutete sie auf das weggeworfene Ding. »Versuch du mal, mit all diesen Mackern hier zu leben, Bradley. Mal sehen, ob du dann immer noch so ’ne große Klappe hast.«

»Sind tatsächlich eine Menge Broncos und Subarus den Berg raufgefahren«, räumte er ein und ging auf sie zu.

»Cowboys«, schnaubte sie, ohne sich beschwichtigen zu lassen.

»Ich steh’ auf Cowboys«, bemerkte Warren und ergriff grinsend ihre Hand.

Er wurde ihr etwas sympathischer, obwohl sein Aufzug auch nicht besser war als Bradleys – weite flattrige Baumwollhose mit albernen ägyptischen Motiven in Schwarzweiß und dem obligatorischen schwarzen T-Shirt.

Bradley schlang ihr seinen muskulösen Arm um die Schultern und schmatzte ihr einen Kuss auf die Wange. »Die Cowboys hier oben müssen zwei Stunden fahren, bis sie am Strand sind, Patsy.«

»Die Cowboys hier oben sind bewaffnet«, entgegnete sie steif in seinem Arm. »Nachts höre ich Gewehrschüsse.«

»Tja, wer nicht. Wer ist bereits hier?«

»Ihr seid die Ersten.«

»Wie déclassé.« Vorsichtig zog er seinen Arm weg, als hätte er Angst, ihr weh zu tun. »Was will Donnelly eigentlich?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete sie und schob die Hände in die Taschen. Er wollte ja bloß herausfinden, was sie wusste, ohne mit seinen Informationen herauszurücken, dachte sie. »Versuch nicht, mir weiszumachen, dass du’s nicht wüsstest.«

»Aber ich weiß es nicht.«

»Donnelly pfeift, und Brad kommt angetanzt«, bemerkte Warren mit so höhnischem Unterton, dass Pat zusammenzuckte.

»Nenn mich nicht Brad«, entgegnete Bradley so resigniert, als handele es sich um einen Dauerkonflikt. Er ließ seinen Blick über die Bäume zum Himmel schweifen. »Es ist wundervoll hier, Patsy. Tolle Lage. Und diese Luft …« Er breitete die Arme aus und atmete tief ein.

Bei Bradleys anerkennenden Worten folgte sie seinem Blick über das Dach des Wochenendhauses zu den Kronen der Kiefern. Es roch nach Rauch aus dem Kamin und schwerem Kiefernduft, der ihr süßer als Weihrauch erschien, und auf einmal überkam sie das Gefühl eines unabwendbaren drohenden Verlusts.

»Wie ich höre, hast du vor, das Haus zu verkaufen. Warum?«, erkundigte sich Warren.

»Ich will es nicht haben«, erwiderte sie bissig.

Er blickte pikiert zur Seite. »Also … was ist nun mit Donnelly? Ist sie vielleicht krank?«

»Krank? Sei nicht albern.« Dieser Gedanke war ihr überhaupt nicht gekommen, und es schnürte ihr plötzlich die Kehle zu. »Nein«, erklärte sie entschieden, »das hätte sie mir gesagt.«

»Mir auch.« Bradley starrte Warren an. »Entschuldige, Patsy, ständig haben wir das Thema Krankheit im Kopf.«

»Ich weiß«, erwiderte sie gequält. Inzwischen währte ihr Leben schon mindestens doppelt so lange wie das der meisten Männer, die sie kannte – darunter erschreckenderweise manch ein Schüler von ihr.

Wie um dieser gefühlsbeladenen Atmosphäre zu entrinnen, stapfte sie ins Haus. Leise vor sich hin pfeifend – keineswegs im Einklang mit der Musik, die die Oldiewelle im Radio spielte – folgte ihr Warren.

Ein massiver gemauerter Kamin beherrschte den Raum auf wohnliche Weise. Im Laufe der Jahre hatten Rauch und Hitze auf den dicken Steinwänden eine dunkle Patina und auf den Steinplatten im Kamin ein loh- und ockerfarbenes Muster hinterlassen. Die Zeit hatte sich in sämtliche Steinschichten der Westwand gebrannt. Die Zeit sollte sich als Prozess einbrennen, dachte Pat, nicht als bleiernes Wachsen von Schuldgefühlen.

»Wie lange hast du dieses Haus schon?«, fragte Bradley sichtlich beeindruckt.

»Erst seit August. Aber es ist seit den dreißiger Jahren in Familienbesitz«, erklärte sie zögernd, während sie ihn aufmerksam musterte. »Ich bin hierhergekommen, soweit ich zurückdenken kann – da war ich etwa vier. Also 1934.« Bradley schien sich nicht verändert zu haben, er wirkte gesund und robust wie immer. Aber schließlich war es ja erst drei Monate her, seit sie ihn und Warren zuletzt gesehen hatte.

»Wo hast du uns einquartiert?« Warren blickte die steile Treppe an der Esszimmerwand empor.

»Im Arbeitszimmer.« Sie deutete hinter sich. »Das Badezimmer ist gleich gegenüber. Ich schlafe oben, Donnelly auch, sie hat immer am liebsten unterm Dach gewohnt. Averill schläft im Zimmer neben eurem. Averill und ihre Neueste … Caddie.«

»Caddie«, bemerkte Bradley zweifelnd, »nur für ihre Golfschläger?«

Warren lachte, und Pat antwortete säuerlich: »Wer weiß? Heutzutage ist das Glück im Golfzirkus unberechenbar.«

»Nur auf Platz acht der diesjährigen Einkommensskala«, mokierte sich Bradley seufzend.

»Du weißt, dass es ihr darauf nicht ankommt, Bradley.«

Beim Geräusch eines sich nähernden Wagens blickte sie aus dem Fenster. »Du kannst sie gleich selbst fragen. Sie kommt gerade.«

»Später.« Er schwang sich seine Reisetasche über die Schulter und verschwand durch den Flur. Warren grinste und folgte ihm achselzuckend.

The Sounds of Silence

Aus dem Fenster beobachtete Pat, wie Averill Calder Harmon ihren BMW abseits der Bäume parkte. Auf dem Golfplatz mochten Vögel ja eine nette Zierde sein, nicht aber Vogelscheiße auf dem auf Hochglanz polierten metallicgrünen Lack.

Die Handbremse ächzte leise, und Averill sprang aus dem Wagen. Die blonden Locken flogen. Sie hob zwei Rindsledertaschen aus dem Kofferraum, stellte sie auf den Kiesweg, drehte sich um und sah in die Bäume. Selbst aus dieser Entfernung strotzte sie mit ihrem sonnengebräunten Teint vor Gesundheit, dachte Pat. Ein bisschen Butch, aber sehr dezent, nicht wie manch andere Halt-mich-wofür-du-willst-Profis. Attraktiv, das musste sie zugeben. Aber das war auch alles. Sie hatte Averill seit … wie lange nicht gesehen? Zwei Jahre mindestens. Sie hätte es, weiß Gott, länger ausgehalten.

Averill schirmte jetzt mit der Linken die Augen ab, als suche sie eine Schneise durch die Bäume, die rechte Hand war geballt und leicht angewinkelt, als hielte sie einen Golfschläger. Sie ließ den Arm pendeln, bezog Stand, verschränkte die Finger zum Griff und vollführte mit dem imaginären Eisen einen Schwung, dann noch einen und noch einen, als befände sie sich auf einem schwierigen Drive irgendwo im Wald auf dem Grün.

Pat schüttelte den Kopf. Das Leben dieser Frau war Golf. Selbst Donnelly war nur eine vorübergehende Ablenkung gewesen.

Pats Blick blieb an einem orange-goldfarbenen Baum, der auf die Brusttasche des weißen Polohemdes gestickt war, hängen – das Emblem des Mission Hills Country Club, Austragungsort des Dinah-Shore-Golfturniers, eines der beiden großen, die Averill gewonnen hatte, noch ehe sie siebenundzwanzig war. Pat wurde bewusst, dass sie gerade den spektakulären Schwung einer immer berühmter werdenden Golfspielerin gesehen hatte, einen Schwung, den die Presse bei ihrem ersten großen Turniersieg als »perfekte Harmonie« gepriesen hatte. Ja, verdammt, diese Frau besaß eine magische Anziehungskraft. Die Medien liebten sie, schwärmerisch verweilten die Kameras auf ihr als Prototyp der Amerikanerin mit ihren lustigen Sommersprossen auf den Wangen, dem Lockenkopf und den einzigartigen klaren blauen Augen …

Der Kofferraum wurde geöffnet, und Pat musterte die Frau, die nun ein weiteres Gepäckstück aus dem Wagen hob. War das die Frau, die Averill um den Finger gewickelt hatte? War das die Frau, die der vorsichtigen, misstrauischen Averill zur Zeit den Kopf verdrehte? Sie wirkte so … durchschnittlich. Die blaugetupfte Bluse war hübsch, und der leuchtende Schal bewies Stil, die Hose saß wie angegossen und zeigte eine gute Figur, aber was für eine unscheinbare Frisur und eine doch eher etwas klein geratene Gestalt … ein wenig breit um die Hüften. Da blickte die Frau nach oben und nahm Pats taxierenden Blick war. Peinlich berührt machte Pat hastig eine klägliche Begrüßungsgeste.

Die Frau deutete auf die konzentrierte Averill, zuckte übertrieben die Achseln und lächelte dabei so natürlich, so spontan und freundschaftlich, dass sie Pat sogleich für sich gewann. Ein Nancy-Lopez-Lächeln, dachte Pat. Als Idol heterosexueller Tugend waren alle diesem Lopez-Lächeln verfallen, selbst wenn sie inzwischen auf dem Golfplatz nicht mehr unbedingt glänzte. Und auch dieses Lächeln musste man einfach lieben. Sogar Averill Calder Harmon.

What’s Love Got To Do With It?

»Noch einmal, Bradley – warum sind wir nun wirklich hier?«

»Nicht schon wieder …« Bradley hatte keine Lust, darüber zu reden, und von der unterschwelligen höflich-ironischen Art, mit der ihn Warren ständig nervte, hatte er besonders die Nase voll. Im Moment wollte er nichts als in Ruhe seinen Gedanken nachhängen, dieses Zimmer auf sich wirken lassen, das ihn so sehr an seine Jugend erinnerte. Doch wenn er das sagte, würde Warren sich verletzt und wortlos abwenden, was wiederum ermüdende Einlenkungsversuche nach sich zöge.

»Mitten im Lesbennest. Ehrlich, mein Lieber, ich wünschte, ich wäre sonst wo.« Warren ließ sich rücklings aufs Bett fallen. »O Scheiße, Mann«, entfuhr es ihm, als er in der Tiefe versank.

»Ich glaub’s nicht – ein Federbett!« Bradley ließ sich neben Warren aufs Bett plumpsen.

»Verrückt.« Warren hieb mit der Faust in die weichen Daunen. »Wie ein Wasserbett.«

»Besser«, sagte Bradley und packte ihn.

Warren küsste ihn. »Du spinnst.« Als Bradley ihn in die Arme nehmen wollte, entwand er sich. »Bradley, ich begreif’s nicht.«

»Halt einfach lange genug still«, foppte ihn Bradley.

»Die Sache mit dir und Donnelly kann ich verstehen. Auch die Sache mit Donnelly und Miz Golf-Profi. Aber Donnelly und Pat – das ist mir völlig unbegreiflich.«

Bradley zuckte die Achseln. »Manche Frauen sind für Männer eben nicht attraktiv – aber für Frauen durchaus. Ich weiß von Donnelly, dass Pat zu dieser Kategorie gehört.«

»Wie auch immer«, erklärte Warren abwinkend. »Du magst keine von diesen Frauen, Brad. Außer Donnelly.«

»Pat hat durchaus etwas«, antwortete Bradley und starrte versonnen auf die festen, begehrten Lippen, die allzu kurz unter seinen verweilt hatten.

»Es kommt mir immer so vor, als sei sie irgendwie sauer auf dich.«

Nicht mehr als ich auf sie, dachte Bradley. »Tja nun, das alles ist Teil der Vergangenheit.« Die gesteppte Decke unter seinen Fingern fühlte sich seidig an, und er strich an einer Naht entlang. Ein echter handgesteppter Quilt aus bunten Stoffresten, wie seine Großmutter ihn einmal genäht hatte. Wie er ihn im Schlafzimmer seiner Schwester gesehen hatte, als er sich damals in ihr Zimmer geschlichen und in ihrem Heiligtum herumgeschnüffelt hatte, um das Geheimnis der Weiblichkeit zu ergründen … Doch der Quilt hatte sofort seine Aufmerksamkeit erregt, seine Finger strichen über den Stoff, befühlten die Nähte, die seine wunderbare Großmutter so kunstvoll gearbeitet hatte, und er stellte sich vor, wie es sein müsste, tatsächlich eine Frau wie sie zu sein. Eine überaus mächtige Matriarchin …

»Vergangenheit?«, fragte Warren. »Hast du etwa auch eine Vergangenheit mit Pat? Deine Vergangenheit mit Donnelly ist eigentlich schon schräg genug.«

»Nicht sonderlich schräg für die damalige Zeit. Auch nicht heutzutage – für manche Leute.«

Dabei fiel ihm sein Bruder ein. Dieses Zimmer, dachte er, dieses Zimmer macht mich ganz konfus. Seit Monaten war es ihm gelungen, den Gedanken an das kleine Miststück zu verdrängen – gleich nach diesem Anruf: »Hör zu, Bruderherz, wenn du mit dieser HIV-Scheiße daherkommst, wehe, du belastest Mutter damit. Hab wenigstens den Anstand …«

»Bruno, du … du …« Vor Wut hatte es ihm die Sprache verschlagen, und er hatte den Hörer so heftig aufgeknallt, dass er einen Riss bekommen hatte.

Vielleicht lag es an dem Wiedersehen mit Pat. Sie hatte die gleiche brüske Art wie sein Bruder. Nur war sein Bruder beliebt, die Leute mochten ihn, während Pat immer so geladen schien. »Pat hätte einen guten Mann abgegeben«, sagte er und lächelte über die Irritation, die sich in Warrens dunklen Augen zeigte, als er versuchte, sich auf diese Bemerkung einen Reim zu machen. Wäre Pat ein Mann, dachte Bradley, fände Warren sie bestimmt attraktiv.

Warren gab den Versuch auf. »Dass du Averill nicht magst, weiß ich. Wieso ist Pat so sauer auf sie?«

»Unter anderem findet sie, Averill hätte die Pflicht, sich zu outen. Sie findet, sie könnte sich leisten, es Nawratilova nachzutun.«

»Diese Pat, die da gerade den Flamingo mit der Aufschrift QUEER NATION rausgerissen hat?« Warren setzte sich auf. »Das darf doch wohl nicht wahr sein! Bloß weil eine Profi-Sportlerin ist, hat sie die Pflicht zum Coming-out?«

Bradley unterdrückte ein Grinsen. Natürlich war Warren ganz anderer Ansicht, wie immer.

Im Schneidersitz thronte Warren inmitten des Federbetts. »Niemand hat mehr Mut als Sportler und Sportlerinnen, die alles unter den Augen der Öffentlichkeit tun – jeder Fehler ist gnadenlos preisgegeben. Hast du mir nicht erzählt, dass Averill einen sicheren Sieg völlig vermasselt und dann eine Woche später irgendein großes Turnier gewonnen hat?«

»Irgendein großes Turnier ist gut«, sagte Bradley. »Es handelte sich um nichts Geringeres als die U.S. Open. Aber Mut ist nicht gleich Mut«, fügte er hinzu. Und Coming-out ist nicht gleich Coming-out, dachte er. Selbst er outete sich nicht allen gegenüber – das war ihm zu mühsam.

Er schwang sich aus dem Bett und betrachtete ein Schiff in einer Flasche, das auf dem zerkratzten Schreibtisch stand. Doch er wusste, dass – im Gegensatz zu diesem Schiff – Warren bei diesem neuen Thema unweigerlich vom Stapel laufen würde, und er verschloss ihm den Mund.

Wish They All Could Be California Girls

»Pat, das ist Angela«, erklärte Averill.

Kein Nachname, dachte Pat. Typisch für diesen Dummkopf Averill. »Pat Decker«, stellte sie sich vor und drückte die ausgestreckte warme Hand der Frau, die sie vom Fenster aus beobachtet hatte. »Herzlich willkommen.«

»Angela King«, antwortete die Frau. »Weder verwandt mit Betsy noch mit Billie Jean. Oder Martin Luther«, fügte sie hinzu.

Pat grinste. Klasse, dachte sie, klasse Konter auf Averills krasse Unhöflichkeit. »Und wie steht’s mit Don King?«

Diese Frau war zwar keine Schönheit, sah aber aus der Nähe doch ziemlich gut aus. Ein hübscher Mund. Klare Kinnpartie. Ein attraktiver Anblick. Sie musste sich hüten, sie allzu oft anzusehen.

»Diese Männer sind beide – o Scheibenkleister, das sollte wohl ein Scherz sein«, sagte Averill und lachte verlegen. Angela und Pat lachten mit, Pat, weil sie sich über Averills Ausdrucksweise amüsierte. Averill hatte sich diese Marotte zugelegt, nachdem LPGA-Profi Lori Garbacz ungehemmt über einen aufdringlichen Reporter in ein versehentlich eingeschaltetes Mikrofon geschimpft hatte. Offenbar war ihr der Ausdruck in Fleisch und Blut übergegangen.

»Ein schöner Flecken ist das hier«, murmelte Angela. Sie starrte in die Bäume, nicht auf den Grillplatz, wie Pat bemerkte.

»Sehr nett«, stimmte Averill zu, indem sie sich umblickte. »Toller Grillplatz.«

Nett, dachte Pat. Verglichen mit den Häusern, Hotels und Country Clubs, in denen Averill verkehrte, wahrscheinlich eher eine Hundehütte. »Ihr wohnt am Ende des Flurs«, erklärte sie abrupt, »neben Bradley und Warren. Sie sind eben gekommen.«

Bei Bradleys Namen verzog Averill das Gesicht. Dann nahm sie Pats Arm und drang in sie: »Sag schon, um was geht es hier eigentlich?«

Pat starrte sie überrascht an. Da Averill mit ihrer Zeit äußerst sparsam umging, würde sie nicht mal über die Straße gehen ohne klar definierten Nutzen. Gerade sie hätte die Bedingung gestellt, vorher genau zu erfahren, weshalb Donnelly ihren Freundeskreis zusammentrommelte.

Averills tiefblaue Augen weiteten sich höchst erschrocken; offenbar missdeutete sie Pats Gesichtsausdruck. »Stimmt etwas nicht mit ihr?«

»Nicht dass ich wüsste«, erklärte Pat erstaunt.

Averill sah sie finster an. »Doch, du weißt es, du –«

»Averill, sie weiß es nicht«, fiel Angela ihr leise ins Wort, ihre dunklen Augen sahen Pat forschend an.

Pat riss den Arm aus Averills Umklammerung. »Ich weiß es nicht«, erklärte sie frostig.

»Ich mache mir Sorgen, das ist alles«, murmelte Averill. »Komm, Angie, machen wir uns frisch.«

Pat kehrte ihr den Rücken und marschierte demonstrativ in die Küche.

Sixteen Candles

Sie stellte Kartoffelchips und Dip auf den Tisch, dazu Erdnüsse und eine Schale mit Obst, dann setzte sie sich mit einer Cola in ihren Recliner und betätigte den Fußstützenhebel. Wenn sie Glück hatte, blieben all ihre Gäste aufgrund gegenseitiger Abneigung in ihren Zimmern, bis Donnelly eintraf. Sie trommelte den Rhythmus des Songs auf der Oldiewelle mit, schnupperte den leichten Hauch von Möbelpolitur und den Geruch der brennenden Zweige im Kamin, der sich im Wochenendhaus ausbreitete. Sie hatte sich mächtig abgerackert, wie sie zugeben musste, da Donnelly sie erst am Vortag angerufen und dieses Treffen anberaumt hatte.

Doch da erschien Angela im Flur. »Hast du vielleicht Mineralwasser? Bleib sitzen, ich hole es mir selbst«, sagte sie, als Pat nickte.

Es rumorte in der Küche, dann kehrte sie mit einem Glas in der Hand ins Wohnzimmer zurück. »Averill schläft. Erstaunlich, wie sie sich einfach zusammenrollen und wie eine Katze in der Sonne schlummern kann.« Angela sah sich neugierig um. »Dieses Haus macht so einen … durch und durch gesetzten Eindruck. Es gehört wohl schon lange zu deinem Leben?«

»Allerdings.« Pat verdrängte die aufsteigende Sentimentalität. »Bist du telepathisch veranlagt?«

»Das bezweifle ich«, antwortete Angela ernst.

»Mach’s dir bequem«, lud Pat sie ein in der Erwartung, dass Angela ablehnen und zu Averill zurückkehren würde.

Angela stellte ihr Glas auf den Couchtisch, streifte die Sandalen ab und kauerte sich mit hochgezogenen Füßen auf das mit goldgelbem Kordsamt bezogene Sofa.

Noch eine Katze in der Sonne, dachte Pat. Angelas Bemerkung über das Haus noch im Ohr, erklärte sie nachdenklich: »Dieses Haus hat sich im Lauf der Zeit ziemlich verändert. Aber«, sie deutete zum Esszimmer, »die Wandtäfelung ist original.« Obwohl ihr die schimmernde Holztäfelung irgendwie anders vorkam, doch schließlich hatte sie dieses Haus seit über dreißig Jahren nicht mehr betreten …

»Es ist … wundervoll. Es ist …«, Angela suchte nach Worten, »es ist wie ein dunkler herrlicher Brandy, der viele Jahre im Schrank steht.«

Gerührt sagte Pat: »Ich erinnere mich noch, wie ein Bauunternehmer uns damals vorschlug, das Ganze abzureißen und es durch etwas Lichteres, Freundlicheres zu ersetzen. Meine Mutter wollte nicht, dass er je wieder einen Fuß in dieses Haus setzte. Sie sagte, er sei ein seelenloser Mensch.«

»Deine Mutter gefällt mir.«

Zögernd, denn sie wusste, dass die Erklärung Verlegenheit auslösen würde, sagte Pat: »Sie ist im August gestorben.«

»Das tut mir leid. Mein Beileid zu diesem Verlust.«

Pat nickte und sah fort. »Sie war vierundachtzig – sie hatte ein langes Leben.« Wenn auch kein besonders gutes.

Nach einer Weile fragte Angela: »Dieses Haus, damals – woran erinnerst du dich sonst noch?«

»Dass ich mir den Arsch abgefroren hab’, wenn ich aufs Plumpsklo nach draußen musste. Massenhaft Schnee im Winter, die Wege voller Kiefernnadeln im Sommer …« Bei dem Gedanken an die kalten silbrigen Sterne, die tiefen Schatten der Bäume, die eisige Luft, den dampfenden Atem, das unheimliche Rascheln im Wind auf den Bergen überlief sie eine Gänsehaut. »Erst nach dem Krieg bekamen wir Elektrizität und sanitäre Anlagen im Haus. 1946, glaube ich.« Ja, es war 1946 gewesen. Herzlichen Glückwunsch zum Sechzehnten, hatte ihr aus dem Krieg heimgekehrter Vater an jenem frostigen Oktoberabend gesagt und den Strom eingeschaltet, der zum ersten Mal jeden Winkel des Hauses beleuchtete. Besser als Kerzen auf der Geburtstagstorte. Das vielleicht nicht, aber es erleichterte das Lesen. Vor allem wenn der Schnee sich draußen türmte und sie eingeschlossen waren, wenn nicht mal die Geländewagen mit den robusten Winterreifen durch die Verwehungen kamen.

Pat deutete auf die steile Treppe. »Auch die war schon immer hier. Nur war das früher der Dachboden.«

Ein spitzgiebeliger Dachboden. Sie und ihre Schwester unter einem Berg von Decken, ihr Bruder in einer Schlafkoje in der abgeteilten Ecke, morgens weckte sie der Duft des Frühstücks, und dann stürzten sie alle aus der himmlischen Wärme des Bettes die kalte Treppe hinab zum brennenden Holzofen …

»In den vierziger Jahren haben wir den Speicher ausgebaut und das Haus schließlich Ende der Fünfziger winterfest gemacht und eine Heizung installieren lassen. Später bauten wir ein zweites Bad ein und verlegten Teppichboden auf den Dielen.«

»Wirklich sehr schön«, sagte Angela. »Sicher sind eine Menge Erinnerungen mit diesem Ort verknüpft, Pat. Von einem solchen Haus konnte meine Familie nur träumen.«

Pat schwieg. Dieses Haus war das Refugium ihrer Mutter gewesen. Hier oben in den Bergen war ihre Familie ganz anders zusammengewürfelt gewesen als in ihrem Haus unten in San Bernardino.

»Du hast keinen Fernseher«, bemerkte Angela anerkennend.

»Das wäre auch sinnlos. Der Empfang hier oben ist miserabel. Früher hatten wir mal Kabelanschluss, aber meine Mutter hat den Fernseher wieder entsorgt, weil er diesen Ort zu sehr mit der Stadt verband, wie sie sagte – Radio, Musik und Telefon, das sei genug.«

»Deine Mutter hatte recht, meinst du nicht auch?«

»Ja.« Dieses Haus war ein lebendes, unveränderliches Wesen geworden, so wie die uralten Bäume vor dem Fenster.

Time in a Bottle

Es machte Spaß, die Kurven auf dem Highway 18 so zu nehmen, dass die RX-7-Reifen eben noch nicht quietschten, doch bei konstantem Tempo den gemächlicheren Verkehr zu überholen, ohne abbremsen zu müssen, und gelegentlich einen Blick über den Straßenrand auf das weit unten sich erstreckende San Bernardino zu werfen. Die Berge waren jedenfalls nicht sehr interessant – dürre gelbbraune Erde, bedeckt von dunkelgrünem Buschwerk, die Serpentinen gestatteten einen weiten Blick aufs Gebirge, in das sich die Straße hinaufschlängelte. Sicher wäre es hier im Frühling sehr schön, dachte Querida Quemada, wenn alles grün war und blühte.

Sie trommelte im Rhythmus des Songs von Jim Croce auf der Oldiewelle aufs Lenkrad und dachte, dass die Fahrt hier herauf als solche nicht sonderlich interessant war. All die Ortschaften, die sie passiert hatte, vage vertraute Namen in der südkalifornischen Landschaft – Alhambra, Monterey Park, San Gabriel, Rosemead, El Monte, Covina, Pomona, Montclair, Claremont, Ontario, Fontana, Colton –, ähnelten sich im Grunde und unterschieden sich lediglich durch die Schilder der Autohändler an der Straße. San Bernardino selbst wirkte wie eine monolithische Ausdehnung des Beckens von Los Angeles.

In den zwanzig Jahren, die sie nun in Los Angeles lebte, hatte es sie noch nie in die Berge von San Bernardino verschlagen, obwohl sie nur anderthalb Stunden von der Stadt entfernt lagen. Nun, das war ja nicht weiter verwunderlich. Ob sich die Privilegierten nach hier oben in die himmlische Abgeschiedenheit der Berge verzogen oder nach Beverly Hills und Bel Air, machte in ihren jungen Jahren kaum einen Unterschied. Auch wenn Crestline ein etwas schlichterer Ort war als Lake Arrowhead, der ein paar Kilometer weiter und siebenhundert Meter höher in den Bergen lag, wie sie der Landkarte entnahm.

Jetzt wurden die Berge doch interessanter – zerklüfteter und die Vegetation üppiger. Sie sah auf die Uhr. Sie hatte reichlich Zeit, um noch bis Lake Arrowhead hochzufahren und es sich anzusehen und dann nach Crestline zurückzukehren …

Sie rollte kurz die Schultern in dem weichen Cashmerepullover, dessen Kamelhaarfarbe so gut zu ihrer dunkelgrünen Hose passte. Und zu ihrer Hautfarbe. Ja, sie sah gut darin aus. Gut genug, um in Donnellys Freundeskreis etwas herzumachen.

Was war nur so wichtig, dass sie alle zusammengetrommelt wurden? Ohne dass Donnelly den Zweck verriet, nicht mal QuQu, ihrer Liebsten. Was blieb ihnen anderes übrig als herzukommen?

That’ll be the Day

»Wie hast du Averill kennengelernt?« Das war ein Fettnäpfchen, Pat merkte es augenblicklich, als Angela den Kopf senkte und bedächtig eine Falte ihrer Hose glattstrich.

»Im Turnierbüro in Palm Springs«, antwortete sie. »Sie … befand sich in einer Klemme, aus der ich ihr heraushelfen konnte.«

Sie sah Pat in die Augen, und Pat wusste, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, aber auf keine Einzelheiten eingehen würde – doch Angela wüsste sehr wohl, dass sie sich alles weitere zusammenreimen konnte. Und so war es auch. In Presseberichten vom LPGA-Turnier wurde mal wieder von Lesben im Golfzirkus gemunkelt, wie es alle naslang vorkam, und einige Reporter hatten sich zu hartnäckig an Averills Fersen geheftet.

»Schon deshalb halte ich nichts von Outing«, erklärte Angela im Brustton der Überzeugung.

Lächelnd bohrte Pat nach: »Auch nicht vom Outen homophober schwuler Politiker?« Sie beobachtete Angela genau, diese Frau wirkte überaus graziös, sogar die Art, wie sie das Wasserglas hielt.

»Da mache ich eine Ausnahme«, räumte Angela lächelnd ein. »Nur glaube ich eben, dass wir die Leute zum Coming-out ermutigen und sie emotional unterstützen sollten, damit sie sich aufgefangen fühlen.«

»Je mehr Sicherheit wir bieten, desto sicherer fühlen sich manche in ihrem Schrank.« Behutsam erkundigte sich Pat nun: »Hat Averill dir gegenüber etwas von einem Coming-out anklingen lassen?«

»Gesagt hat sie nichts, doch sie ist so couragiert, dass ich ganz sicher bin, sie wird es tun. Wenn sie soweit ist.«

Ist diese reizende Frau vertrauensselig! Pat sagte: »Sie ist eine berühmte Frau, Angela. Sie ist immer sehr, sehr vorsichtig gewesen.«

»Sie war immer auf sich gestellt. Nie hat sie Unterstützung erfahren.«

Wart’s ab, du kennst Donnelly noch nicht.

»Diese Donnelly«, sagte Angela jetzt, als habe sie ihre Gedanken gelesen, »wie heißt sie eigentlich wirklich?«

Pat sah sie verwundert an. »Ihren vollen Namen meinst du? Da muss ich nachdenken.« Doch das kam ihr so absurd vor, dass sie lachen musste. »Auf ihren Visitenkarten stand immer ›C. Donnelly‹. Candice. Ja, genau. Das ist es.«

»Wann wird sie kommen?«

»Irgendwann. Sie konnte es nicht genau sagen. Es könnte sogar spät werden.«

Angela wechselte abrupt das Thema. »Wie hast du Averill kennengelernt?«

O verdammt. »Nachdem sie … Donnelly kennenlernte. Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Pat und streckte sich in ihrem Sessel.

Angelas Gesicht verdüsterte sich ein wenig. »Ich hatte nicht die Absicht, dich auszuquetschen, glaub mir.«

»Es ist wirklich eine lange Geschichte«, erwiderte Pat. Wie unheimlich – diese Frau schien tatsächlich ihre Gedanken lesen zu können. Sie starrte zum Flur. Das Haus machte einen friedlichen Eindruck, als hätte es alle Dissonanzen der Persönlichkeiten absorbiert. »Sie hat damit zu tun, wie ich Donnelly kennengelernt habe. Und mit dem, was davor lag.«

»Vermutlich schläft Averill noch eine Weile«, sagte Angela, indem sie sich rasch erhob. »Soll ich uns beiden noch ein Glas einschenken?«

Desperado

Tief in das Federbett vergraben schlief Warren.

Bradley lehnte sich im Schreibtischsessel zurück und ließ das Zimmer auf sich wirken. Ein typisches Jungenzimmer, angefangen von den abgeschürften Beinen von Schreibtisch und Stuhl über die nicht restlos entfernten Flecken auf dem Navajo-Läufer, den angestaubten Modellflugzeugen und den Baukästen auf den Regalen bis zu den drei alten Sportpostern an den Wänden.

Obwohl er allen Sport bewusst ignorierte, waren ihm durch kulturelle Osmose zwei der Sportler aus der Presse bekannt: Joe Louis – Held der vierziger Jahre aus seiner Heimatstadt Detroit, wo er seine Jugend verbracht hatte – in Boxerpose, Champion, dessen »Talente« damals lediglich im Sport akzeptiert wurden. Und der Baseballspieler Jackie Robinson, der in einer Staubwolke auf das zweite Base schlitterte, ein unbequemer, zorniger junger Mann, der als absoluter Star die Schranken der Hautfarbe durchbrach. Bradley betrachtete ihn lächelnd. Würde es je einen so leidenschaftlichen, zornigen Sportler geben, der die Schranken der Homosexualität durchbräche?

Die Bildunterschrift auf dem dritten Poster identifizierte einen weiteren Baseballspieler, der als Catcher posierte: Roy Campanella. Jetzt erinnerte sich Bradley wieder, wie schockiert sein Vater damals über den Unfall gewesen war, der diesen Spieler auf dem Höhepunkt des Ruhms für immer an den Rollstuhl fesselte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte die nationale Presse den Tod eines anderen Sportlers beklagt, der sich zu Tode gekokst hatte, was in der Berichterstattung wie eine Shakespearesche Tragödie behandelt wurde – im Gegensatz zum Tod so vieler anderer höchst talentierter junger Männer im besten Alter …

Auch wenn Warren über Pats Meinung über die Schranklesbe Averill gewettert hatte, musste Bradley daran denken, dass der Sport für Anpassung stand – Trostpreis für ein Leben der Zwänge. Wie die Religion. Er würde an keinem intoleranten Altar beten. Im Gegensatz zu seinem Vater oder seinem beschissenen Bruder.

Er betrachtete Warren. Interessant, dass er über die afroamerikanischen Sportler an den Wänden des Zimmers keine Bemerkung verloren hatte. Nun ja, im Grunde überraschte es nicht. Warren hatte mit Sport überhaupt nichts im Sinn und mit ethnischer Identität auch nicht viel, trotz der Tatsache, dass seine Mutter Afroamerikanerin und sein Vater Weißer war – oder vielleicht deswegen. Eine wilde Pflanze nannte Warren sich selbst. Eine einzigartige Pflanze nach Bradleys Erfahrung, aus verschiedenen Welten ausgestoßen, in der einen nur schwerlich als Bürger akzeptiert und selbst vom schwulen Standpunkt aus völlig isoliert.

Wieder wanderte sein Blick durchs Zimmer. Wer immer hier gelebt hatte, war seit Jahren nicht mehr hiergewesen, soviel war klar.

Er sah auf die Uhr. In einer halben Stunde würde er im Verlag anrufen, um zu hören, ob Hennessey die Fahnen geschickt hatte. Verdammt, das Buch sollte in zwei Tagen in Druck gehen. Du anmaßendes kleines Aas, beschimpfte er Hennessey in Gedanken. Bloß weil du Schafskopf gelesen hast, dass Capote oder Faulkner oder sonst wer noch die Fahnen umgeschrieben hat, willst du es ihm nachtun, egal was es kostet. Als ob Hennessey einem anständigen Schriftsteller je das Wasser reichen könnte. Gott, dieser Größenwahn des Mittelmaßes.

Donnelly, schwing endlich deinen Arsch her, ich hab’ zu tun. Doch er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und hing seinen Gedanken nach. Wie lange hatten sie sich schon nicht mehr gesehen? Zwei- oder dreimal im Monat telefonierten sie miteinander, erzählten sich die Neuigkeiten und den letzten Klatsch, alberten herum und tauschten Erinnerungen aus …

Bei dem Gedanken an das letzte Gespräch und das Geplänkel über ihre erste Begegnung musste er grinsen. Sie konnten sich nur auf die Tatsache einigen, dass er damals in eine Seminararbeit vergraben in der Unibibliothek von Los Angeles zwischen Stapeln von Büchern gehockt hatte. Sie hatte sich mit ihren Büchern an seinen Tisch gesetzt und bemerkt: »Du brauchst jemand neben dir, falls dich die Bücher unter sich begraben.«

»Bloß nicht ausbuddeln – lass mich in Frieden ruhen«, hatte er gemurmelt.

Sie hatte sich einen Stuhl herangezogen, in ihre Bücher vertieft und ihn von da an ignoriert.

Über das Weitere konnten sie sich nicht einigen. Ihrer Meinung nach hatte er sie auf einen Kaffee eingeladen. Das konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, nicht um alles in der Welt hätte er sich das getraut, nicht mit zwanzig, so schüchtern, wie er damals gewesen war, hatte er doch eher Angst vor Frauen gehabt. Und schon gar nicht hätte er gewagt, eine dreißigjährige Frau wie Donnelly anzusprechen, die damals wie heute so erwachsen wirkte, wie es ihrem Alter entsprach.

Wahrscheinlich hatte er eher einen völlig erschöpften Eindruck gemacht – damals befand er sich stets am Rande eines Zusammenbruchs –, und sie hatte ihm eine Koffeintransfusion empfohlen und ihn einfach mitgeschleppt. Immer hatte sie andere unter ihre Fittiche genommen, damals wie heute. Er hatte sich bei Donnelly augenblicklich sicher gefühlt. Gott sei Dank, dass sie sich damals seiner angenommen hatte – in dieser guten alten Zeit, als er noch glaubte, wenn er sich nur ordentlich bemühte … ach, scheiß auf diese ganze Vergangenheit.

It Never Rains in Southern California

»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte Querida, deren Gedanken bei der Ortseinfahrt in das Bergstädtchen Lake Arrowhead unterbrochen wurden. Am Ufer eines tiefblauen Gebirgssees von größerem Ausmaß, als sie sich vorgestellt hatte, thronte ein riesiges Hotel mit prächtiger dunkler Holzfassade. »Ein verdammtes Hilton«, staunte sie. Unterhalb des Hangs grenzte ein Einkaufszentrum an das Hotel. »Wie der Osten von Beverly Hills«, mokierte sie sich.

Langsam fuhr sie die Kiefernallee am Ufer entlang und betrachtete voller Verachtung die Pseudo-Chalets. Da zogen die Leute eigens hier hinauf, um von diesen Dingen wegzukommen, und hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich genauso pompöse, aufgemotzte Bauten hier hinzusetzen, wie sie sie unten besaßen, in Tuchfühlung mit ihren Nachbarn, nur dass die Grundstücke statt mit Palmen mit Kiefern bewachsen waren. Viele Häuser wirkten unbewohnt – und wahrscheinlich war es wohl auch so, spekulierte sie, dass die Besitzer hier nur den Sommer verbrachten, um mit ihren teuren Motorbooten über den See zu pflügen und sich im Winter mit ihrer teuren Skiausrüstung vergnügten. Jetzt, im September, waren sie natürlich nicht hier. Eine Landschaft im Übergang vom Sommer zum Winter war wohl unter ihrem Niveau.

Plötzlich empfand sie tiefe Enttäuschung, dass Donnelly eine Person kannte, die hier oben Latifundien besaß. Andererseits machte Crestline einen sehr viel schlichteren Eindruck. Sie schüttelte sich und grinste selbstverächtlich. Was ist mit dir los? Das sind doch genau die Herrschaften, mit denen du täglich zu tun hast. Der alte Saunders besaß hier oben ein Haus, erinnerte sie sich. Vielleicht einen dieser monströsen Klötze am See. Überall mussten die Leute alle Menschen beeindrucken, wirklich überall.

Like A Bridge Over Troubled Water

Als Averill die Augen aufschlug und aus dem großen Fenster auf den Kiefernhang sah, wurde ihr augenblicklich bewusst, wo sie war. Gute Nachricht/schlechte Nachricht: Augenblickliche Orientierung bedeutete, nicht auf Tour zu sein/auf Tour zu sein, wäre ihr lieber gewesen.

Sie hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass sich ihr Unterbewusstsein auf das Leben auf Tour einstellte, dass ein neuer Tag anbräche, ohne sich durch das Gefühl von Panik und Düsterkeit hocharbeiten zu müssen. Selbst in Angies Armen fühlte sie sich nicht hinreichend sicher. Es musste an der Anspannung des Wettkampfs, an der Konkurrenz liegen; zu Hause – oder irgendwo anders, wo sie kein Turnier spielte – existierte nie dieser wahnsinnige Imperativ zu wissen: Wo bin ich?

Bald wäre sie diese Sorge um Donnelly los, dann würden sie und Angela sich befreit auf den Weg nach Buena Park zum Los Coyotes LPGA Classic machen …

Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. Die Taschen standen halb ausgepackt neben ihrem Bett. Wo war Angela? Sie hörte Gemurmel im Wohnzimmer, zwei Stimmen. Was hatte Angela mit Pat Decker zu reden? Na, egal, diese verschrobene Alte mit dem Gehabe eines Kessen Vaters lohnte die Aufregung nicht. Außerdem wusste Angela nichts von der Vergangenheit. Sie war bereitwillig mitgekommen, ohne viel zu fragen, sie wusste, was Bindung und Loyalität bedeuteten, auch ohne es ihr detailliert erklären zu müssen. Angela verstand eine Menge, da brauchte es, Gott sei Dank, keine großen Diskussionen.

Averill blickte sich in dem Zimmer mit den schlichten Kiefernholzmöbeln um und ließ sich genervt ins Bett zurückfallen. Sie hatte keine Lust auf diesen langweiligen Ort und schon gar nicht auf diese Leute. Sobald Donnelly käme, würde sie erfahren, worum es eigentlich ging, und dann sofort das Weite suchen. Vielleicht fände sie ein nettes Hotel am Strand, in dem sie sich mit Angela verkriechen könnte. Sicher könnte sie sich ein paar Verpflichtungen ihrer Sponsoren vom Leib halten, das Training am Dienstag ausfallen lassen und erst Mittwoch in Buena Park eintreffen. Sie könnte das Turnier zum Training nutzen in der Hoffnung, dass es genügend Selbstvertrauen aufbaute.

Unzufrieden und ruhelos drehte sie sich von einer Seite auf die andere. In diesem Moment sollte sie eigentlich das Safeco-Turnier in Washington spielen. Nein. Besser nicht. Nicht nachdem sie sich in Portland gerade mal qualifizieren konnte. Was für ein scheußliches Turnier, und zu allem Übel noch dieser Reporter, der ihr auf Schritt und Tritt nachschnüffelte. Fast wie der in Palm Springs, als Angie sie aus dieser heiklen Situation befreit hatte. Heutzutage glaubten Reporter, sich einfach alles herausnehmen und ihre dreckige Nase überall reinstecken zu können.

Diese einwöchige Pause, ohne einen Schläger anzurühren, hatte sie absolut nötig. Ihre Spielmoral war völlig den Bach runtergegangen, nicht mal die Grundschläge gelangen ihr richtig. Diese fünf Top-Ten-Turniere in diesem Jahr waren reine Illusion – drei davon hätte sie gewinnen können, gewinnen sollen. Doch seit Corning hatte sie kein einziges anständiges Turnier hingekriegt.

Wenn sie ihren Problemen im Druckkessel der Meisterschaft von Los Coyotes nicht auf den Grund käme, würde sie das tun, was sie immer tat, um ihr Spiel unter Kontrolle zu bringen: Judd Castain anrufen, damit er nach Buena Park flöge und ihren eigentlich unvergleichlichen Schwung unter die Lupe nähme, und dann würde sie so lange trainieren, bis ihr Hände, Arme und Rücken wehtaten.

Feindselig starrte sie in die grüne Landschaft. Wenn sie die Drives nicht in die blöden Büsche drosch, schlug sie sie in die Bunker. Wie konnte sie auf einen Sieg hoffen, wenn sie den Ball irgendwo in die Gegend schlug statt an die Fahne, und dann mit diesen elenden langen Chips oder mit drei, vier Meter langen Putts einlochen musste. Wenn das so weiterginge, würde sie mit fünfunddreißig ein ausgebranntes Wrack sein. Deine Konzentration ist einfach am Arsch, beschimpfte sie sich hasserfüllt.

Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte sich zu beruhigen. Eine Pause – sie brauchte eine Pause, das war alles.

Donnelly. Irritiert schob sie das Kissen unter ihrem Kopf weg.

Wieso kam Angela nicht wieder zurück?

Was zum Teufel wollte Donnelly bloß?

I Heard It Through the Grapevine

Crestline. Querida wusste, dass der Ort auf dem Kamm die Baumgrenze der Berge von San Bernardino markierte. Sie bog in die Ausfahrt, eine schmale Straße wand sich am schroffen Berg entlang, und nach einer letzten Haarnadelkurve ging es bergab in den Kiefernwald.