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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

Sarah Sajetti

Chiara, Simona und die anderen

Roman

 

 

Aus dem Italienischen
von Julika Brandestini

K+S digital

Der Ort des Verbrechens

 

Mailand. Ich liebe diese Stadt. Sie stinkt, ich weiß. Sie ist voller Autos, geltungssüchtiger Emporkömmlinge, in die Jahre gekommener Yuppies und junger Berlusconi-AnhängerInnen, für die Geldverdienen und schöner Schein entschieden mehr zählen als das Sein – eine Stadt, deren Werte immer schwieriger zu teilen sind. Mailand hat eine Generation von Aperitifsüchtigen hervorgebracht – meine Generation –, in der Negronis getrunken werden wie Fruchtsaft und alle mehr oder weniger dem Konsum verfallen sind, ebenso wie den leichten und harten Drogen.

Aus diesen und noch vielen anderen Gründen bin ich gegangen, aber ich habe es nicht ausgehalten. Ich habe sechs Jahre lang auf dem Land gelebt, fasziniert von der Umgebung, in der jede Jahreszeit ihre eigenen Düfte und Reize hat. In der Stadt wird der Schnee innerhalb weniger Stunden zu ekeligem Matsch, auf dem Land dagegen bleibt der weiße Mantel tagelang intakt, bis der Schnee schließlich an Kompaktheit verliert und sauber und wohltuend zu schmelzen beginnt. Früh am Morgen, wenn es Nachtfrost gegeben hat, sind die Zweige der Bäume und die Gräser weiß von Raureif, wie von Stickereien ummantelt, pure Poesie. Noch nie habe ich in Mailand Raureif gesehen, außer morgens auf den Autoscheiben, als gefrorene Kruste, der unmöglich beizukommen ist. Auf dem Land verströmt der Frühling mit seinen tausendfachen Blüten Düfte von Honig und Jasmin, und in der Stille werden Geräusche hörbar, die in der Stadt vom Verkehrslärm verschluckt werden: das Summen der Insekten, tausend verschiedene Vogelstimmen, sogar das Nagen der Holzwürmer. Und dennoch. An bestimmten Frühlingstagen weht in Mailand ein sanfter Wind, der die Luft mit Lindenduft erfüllt, auch wenn Stefania, meine Liebste, behauptet, ich sei verrückt, niemand außer mir könne das wahrnehmen.

Es gibt Ecken in der Stadt, die mit so vielen Emotionen verknüpft sind, dass ich sogar bei hektischen Autofahrten, wenn ich mich zwischen Mopeds und lebensmüden Passantinnen und Passanten hindurchschlängele, von einem unbestimmten wohligen Gefühl ergriffen werde, und obwohl diese Erinnerungen nicht immer nur glücklich sind, sind sie doch die Erinnerungen an die glücklichen Tage meines Lebens. Es ist ein bisschen so, wie wenn man auf einer Reise ist, bei der alles schiefgeht, weil es in der Gruppe oder mit der Freundin ständig Streit gibt, die Museen wegen Restaurierung geschlossen sind, die Stadt hässlich ist und man sich langweilt und die sich dann ein Jahr später in der Rückschau trotzdem in einen absurden, aber sehr vergnüglichen Urlaub verwandelt. Man würde gerne noch einmal hinfahren, um die Museen anzuschauen, die inzwischen sicher wieder geöffnet haben, um in diesem netten Lokal zu essen, in dem man damals keinen Platz bekommen hat. Ich habe nie verstanden, warum das so ist, aber es ist so. Genauso ist es auch mit Mailand und den Dingen, die mich dazu gebracht haben, die Stadt zu verlassen: Ich weiß, dass ich tausend Gründe hätte, die Stadt zu hassen. Und dennoch.

Auf dem Land sind die Menschen entspannt, ehrlicher, hilfsbereiter und weniger hektisch, und das sollte es eigentlich erleichtern, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Doch wenn man in der Bar sitzt, um ein Schwätzchen zu halten, merkt man, dass die alltäglichen Erlebnisse derart eingeschränkt sind, der Austausch mit anderen derart selten, die intellektuellen Anreize derart spärlich und die Tätigkeiten der Personen so ähnlich, dass die Qualität der menschlichen Beziehungen im Endeffekt auch nicht besser ist als in der Stadt. Als ich auf dem Land lebte, ging ich irgendwann nur noch in Begleitung anderer in die Bar. Das hat sowohl meine Leber als auch mein Portemonnaie geschont, doch es hat mich eines großen Vergnügens beraubt: Fremde zu treffen, die einem ihre unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählen, abends auszugehen, ohne vorher zu wissen, was geschehen wird, wen man treffen wird, ob man etwas Neues entdecken, über Politik, Gartenkunst oder Häkeln sprechen wird. Doch eine Sache habe ich mehr als alles andere vermisst, als ich fort aus Mailand war: die Frauenlokale und die Möglichkeit, jederzeit dort hinzugehen. Denn letztlich macht vor allem das mein Mailand aus: die Stadt der Frauen. Eine Stadt für sich, die den meisten unbekannt ist, die vor allem aus Bars, Privathäusern, Clubs und Diskotheken besteht, eine nächtliche Stadt, in der Freundschaften und Lieben unauflöslich verwoben sind, in der sich große Leidenschaften und große Tragödien abspielen, wo man über die Liebe diskutiert (sehr viel), aber auch über Politik und Kultur. Das ist die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und die mir mehr als alles andere gefehlt hat in den sechs Jahren meines selbstverordneten Exils, und es ist die Stadt, in der dieser Roman spielt.

Die Kriminalgeschichte ist für mich eher ein Vorwand gewesen, um von einem Mailand zu erzählen, das nur wenige kennen, von Menschen, die täglich mit Forderungen und Fragen konfrontiert sind, von denen außer den direkt Beteiligten niemand etwas ahnt. Diese Stadt ist geboren aus Wünschen und Ängsten, aus der Schwierigkeit, die eigene Homosexualität offen zu leben, aus dem Wunsch, Gleichgesinnte zu treffen, der Hoffnung, sich einen Platz an der Sonne zu erkämpfen, und auch aus der Feindseligkeit und Gleichgültigkeit eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft. Wenn euch das alles übertrieben erscheint, dann denkt an die Polemiken, die der Gesetzesvorschlag zur eingetragenen Lebenspartnerschaft hervorgerufen hat, zählt einmal nach, wie viele offene Lesben es in Musik, Sport, Politik und Literatur gibt, lest die Erklärungen des Vizebürgermeisters von Mailand (dem anderen Mailand), De Corato, zur Ablehnung der Finanzierung des schwul-lesbischen Filmfestivals und die von Bürgermeister Moratti über die Ausstellung homosexueller Kunst, die von Sgarbi gefördert wurde und schließlich der Zensur zum Opfer gefallen ist.

Und so versucht das lesbische Mailand – Gleiches gilt übrigens für jede andere Stadt Italiens –, sich vor den zudringlichen Augen jener zu verstecken, deren Unverständnis man fürchtet. Mein größter Wunsch ist es, dass es mir gelingen möge, dieses Mailand ein wenig verständlicher zu machen, zugänglicher und realer auch für diejenigen, die bisher vielleicht nicht einmal über dessen Existenz nachgedacht haben – durch ein Schmunzeln hie und da über die Geschichte des Buches, die Gefühle sowie Laster und Tugenden der Personen, die denen aller anderen Menschen so ähnlich sind.

Es ist jedoch wahr, dass ich dieses Buch vor allem in Gedanken an die anderen Lesben geschrieben habe, die es lesen werden und die, so hoffe ich, sich wiedererkennen und amüsieren werden wie ich beim ersten Mal, als ich den Text noch einmal las.

S.S.

Ich danke Stefania, die mein endloses nächtliches Getippe ertragen und ermutigt hat, und ich danke Elena Dall’Ovo, Autorin und Theaterschauspielerin, die mich bei der Ausarbeitung der Drehbuchszenen im Text unterstützt hat.

1

Tot. Seit Stunden schon lasse ich meine Gedanken um dieses Wort kreisen, ohne zu verstehen. Ab und zu höre ich mit dem Denken auf, um zu Simo zu sagen: »Verdammt, das ist doch nicht möglich! Ich habe gestern um halb elf noch mit ihr gesprochen …«, und ähnliche Banalitäten, als ob der Tod sich anzukündigen pflegt und diesmal eine unbegreifliche Ausnahme gemacht hat.

Wir hatten vor dem Kiosk gestanden, bereit für die erste Aufnahme, mit einer etwas zusammengewürfelten, aber enthusiastischen Truppe; die Statisten standen in den Startlöchern, und der Zeitungsverkäufer, der in der ersten Szene des Films erscheint und sich selbst spielt, platzte fast vor Stolz.

Es lag ein Knistern in der Luft, und auch wenn sich die spielerische Leichtigkeit, mit der wir das Projekt ins Leben gerufen hatten, inzwischen in einen enormen Leistungsdruck verwandelt hatte – ganz tief drinnen waren wir außer uns vor Freude. Wir hatten es geschafft, es ging los, alles war bereit, nur eine fehlte: ich. Das heißt, nicht ich fehlte, sondern Silvia, die die Rolle der Chiara, also mich, spielen soll, pardon, sollte.

Wir haben immer wieder versucht, sie anzurufen, zuerst wütend, dann besorgt, und schließlich gaben wir auf: Bei ihr zu Hause ging niemand ans Telefon, auch auf dem Handy nicht, und so blieb uns nichts anderes übrig, als den so sehnsüchtig erwarteten ersten Take zu verschieben, überzeugt, es handle sich um den üblichen coup de foudre, dem immer wieder mal eine von uns zum Opfer fällt, die dann tagelang verschwindet, ohne sich um Arbeit, Mutter oder Partnerin zu scheren. In so einem Fall kennt jedoch eine gute Freundin den geheimen Rückzugsort – für Notfälle –, die dann ihrerseits zwei weitere gute Freundinnen ins Vertrauen zieht, die es wieder zwei anderen erzählen und so weiter, bis am Ende alle wissen, wo man sich aufhält und mit wem, inklusive dem Arbeitgeber, der Mutter und der inzwischen zur Ex gewordenen Liebsten. In Silvias Fall jedoch war es unmöglich, diese Informationen zu bekommen, denn niemand kannte sie. Sie hatte jahrelang in London gelebt und war gerade erst nach Italien zurückgekehrt; bei dem Filmprojekt wollte sie auch deshalb mitmachen, um ein paar Freundinnen zu finden. Also mussten wir abwarten, bis sie von sich hören ließ, um ihr den Kopf zu waschen, sie uns vorzuknöpfen und herauszubekommen, mit wem sie sich eingelassen hatte.

In diese Grübeleien war ich versunken gewesen, als Simo plötzlich blass und atemlos vor meiner Tür stand, mir wortlos die Zeitung in die Hand drückte und auf eine der Kurznachrichten im Lokalteil zeigte:

Silvia S. aus Mailand, 25, wurde erhängt in ihrer Wohnung gefunden. Die Mutter der jungen Frau entdeckte die Leiche …

O Gott … wie wär’s mit einem Joint? Simona rollt schweigend eine ihrer üblichen krummen, buckeligen Tüten – nach jahrelanger Übung hat sie immer noch nicht raus, wie man es macht –, während ich zum fünften Mal den Artikel lese.

»Ich kann das nicht glauben. Hättest du je gedacht, dass sie sich umbringen wollte?«

»Nein, auf keinen Fall, aber so gut kannten wir sie ja nicht …«

»Stimmt, aber sie kam mir nie so verzweifelt vor – irgendetwas hätte man ihr doch angemerkt! Ich kann nicht glauben, dass es einer so schlecht gehen kann, dass sie sich am Kronleuchter aufknüpft, ohne dass irgendjemand in ihrem Umfeld etwas bemerkt!«

»Vielleicht hat sie ihre Lieblingsunterhose versehentlich in den Ofen gelegt anstatt in die Schublade, und dann hat sie ihn eingeschaltet, um einen Apfelkuchen zu backen, und als sie ihren Fehler bemerkte, war es schon zu spät, woraufhin sie beschloss, dem Ganzen ein Ende zu setzen …«

»Du bist wirklich bescheuert, weißt du das?«

»Komm, ich mache doch nur Spaß. Wenn wir es nicht wenigstens unter uns ein wenig leichter nehmen … Vielleicht hat sie LSD genommen und plötzlich schreckliche Dinge gesehen, die schlimmsten Monster, die man sich vorstellen kann – es wäre ja nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.«

»Aber das hätte doch in der Zeitung gestanden, oder nicht?«

»Was weiß ich.«

»Wenn eine sich umbringt, machen sie dann eine Autopsie?«

»Keine Ahnung, wirklich. Ich wüsste auch nicht, wen man so etwas fragen könnte … Fällt dir jemand ein?«

»Hm, einen Arzt vielleicht, oder einen Polizisten …«

»Kennst du da welche?«

»Polizisten? Also bitte, jede Menge!«

Simona hat ein lustiges, sehr ausdrucksstarkes Gesicht, dunkle Augen, die ständig in Bewegung sind, eine kräftige Nase und glattes, mittellanges Haar; ihre Bewegungen sind etwas träge und wenig graziös, und es gelingt ihr stets, die Dinge von ihrer komischen Seite zu betrachten, wobei sie häufig ins Zynische oder Surreale abrutscht – je nach Laune, Qualität und Quantität der psychotropen Substanzen, die sie zu sich genommen hat. Nachdem wir jahrelang davon gesprochen hatten, irgendwann einmal zusammen einen Kurzfilm zu drehen, sobald uns eine gute Idee über den Weg liefe, kam uns die Idee eines Tages ganz plötzlich, während wir in unserem Stammcafé an der Bar saßen und ich einer Gruppe Freundinnen mit dramatischen Ausschmückungen von meinem letzten fehlgeschlagenen Liebesabenteuer erzählte. Simonas Augen funkelten lebendig, nach dem dritten Cocktail nur eine Spur ironischer als sonst, doch sie versuchte, ernst zu bleiben. Man merkte ihr an, dass sie sich nur mühsam zurückhielt. Irgendwann konnte sie nicht mehr, sprang vom Stuhl und platzte heraus: »Ich hab’s! Jahrelang hatten wir es vor der Nase, ohne es zu bemerken!«

»Was denn?«

»Na, den Film! Dein Leben ist eine fantastische Vorlage – so eine Person könnten wir uns nie ausdenken … die vielen Verwicklungen und Missgeschicke!«

Wir anderen stiegen nicht sofort auf ihre Idee ein – ich, weil ich nicht in der richtigen Stimmung war, unsere Freundinnen, weil sie Simonas spöttische Art kennen und auch weil man über mein Leben eher eine ganze Serie drehen könnte als einen Kurzfilm. Sie insistierte jedoch so lange, bis ich überzeugt war: Wenn weder sie noch ich, noch irgendjemand sonst ernst bleiben konnte, wenn ich von meinen Misserfolgen erzählte, warum sollte man daraus nicht wirklich etwas machen können? Gar nicht zu reden vom therapeutischen Effekt: vom Niederschreiben bis hin zur öffentlichen Aufführung, eine einzige Psycho-Kur, die mich von jeder Paranoia befreien würde.

Nachdem die Entscheidung gefallen war, machten wir uns sofort auf die Suche nach einer, die ein glaubhaftes Drehbuch schreiben konnte. In unserem Umfeld gab es genügend schreibbegeisterte Frauen und auch viele, die privat oder beruflich mit Leuten aus dem Literaturbetrieb, dem Theater oder Kino zu tun hatten. Und doch war es nicht einfach, eine zu finden, die sich die Zeit für ein no-budget-Projekt wie das unsere nehmen wollte, das von zwei blutigen Anfängerinnen, um nicht zu sagen Dilettantinnen, ins Leben gerufen worden war, wobei eine von beiden ständig damit beschäftigt war, jede Art von Drogen auszuprobieren, die sie in die Finger kriegte, und die andere in ihrem Bemühen, die wahre Liebe zu finden, jede geneigte und weniger geneigte Frau der Stadt im biblischen Sinne kennengelernt hatte. Zu unserem Glück konnten wir Elena, eine professionelle Drehbuchschreiberin, schließlich für unser Projekt begeistern.

Das erste Mal traf ich sie bei einer Feier, für die sie eine Konzertaufführung organisiert hatte. Sie war weder groß noch klein, weder dick noch dünn, dunkelhaarig, alterslos, wie die meisten Lesben. Sie sah interessant aus in ihrem Dirigentenfrack, wie sie konzentriert und mit zerzaustem Haar vor ihrem Orchester stand. Sie war bei weitem die beste von allen, doch an diesem Tag war meine Aufmerksamkeit von irgendeiner anderen Frau angezogen worden, die meine Hormone stärker in Wallung brachte – zu diesem Zeitpunkt die einzige Art, menschliche Sympathien in mir zu wecken. Ich habe damals nicht mit ihr gesprochen und auch in der Zeit danach nie persönlich mit ihr zu tun gehabt, aber viel von ihr reden hören. Eine Freundin, die heimlich für sie schwärmte, erzählte mir von ihrer Militanz, und es war auch dank dieser gemeinsamen Freundin, dass wir uns schließlich kennenlernten und unsere starke intellektuelle Verbundenheit und unseren großen Respekt füreinander entdeckten.

Die Tatsache, dass Elena eingewilligt hat, an dem Film mitzuwirken – inzwischen haben wir die Idee des Kurzfilms aufgegeben und wollen einen richtigen Film daraus machen, wahrscheinlich mit Überlänge –, hat mich besonders gefreut, vor allem weil wir auf diese Weise vielleicht unser mangelndes Kapital sowie fehlende Mittel und Erfahrung durch ein professionelles und unterhaltsames Script ausgleichen können. Außerdem hat sich meine Beziehung zu ihr rapide verändert, und wir sind in Rekordzeit vom Abstrakten, Politischen zum Persönlichen übergegangen, das heißt, in der Zeit einer filmischen Fiktion anstatt in Echtzeit. Wir haben uns ein paar Mal allein getroffen, um über Personen und Handlung des Films zu sprechen, und ich habe angefangen, ihr gegenüber unanständige Gedanken zu hegen und mir unwahrscheinliche Situationen auszumalen, die ich niemals suchen werde zu verwirklichen, entschieden wie ich bin, den Kopf, die Hände und den ganzen Rest unter Kontrolle zu halten, wenigstens bei ihr.

Während Elena am Drehbuch schrieb, fingen Simo und ich an, darüber nachzudenken, wie wir es umsetzen wollten. Wie lange kenne ich sie schon? Zwölf Jahre? Dreizehn? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich erinnere mich genau an all die Projekte, die wir zusammen ausgeheckt haben, und an all die Stunden, die wir damit verbrachten, ohne je eines zu Ende zu bringen. Ganze Nachmittage und Abende haben wir Probleme analysiert, Lösungen ersonnen, verschiedene Szenarien durchgespielt. Jedes Mal, wenn es dann darum ging, zu handeln und unsere Fantasien zu konkretisieren, schob sich irgend ein externes Hindernis zwischen uns und unser Ziel, üblicherweise eine Partnerin, die die Beziehung mit Simona beendete, oder eine neue, die in ihr Leben trat.

Wohl wissend, dass es sich um ein neues Projekt ohne Zukunft handeln könnte, aber wie immer vollkommen unfähig, den einmal in Gang gesetzten Mechanismus zu stoppen, verbringen wir also Stunden damit, detailliert zu besprechen, wie unser Film aussehen wird, alles bis in die kleinsten Einzelheiten zu durchdenken, die Schauspielerinnen auszusuchen und zu beschreiben, welche Einstellungen, welche Schnitte, welche Dialoge wir uns vorstellen können.

Wie gesagt, die Grundidee ist einfach: Wir erzählen die Geschichte meines Lebens. Die letztlich ähnlich ist wie die Geschichte aller, die ich kenne, nur dass bei ihnen irgendwann das Unglück seine Fänge lockert und alles gut ausgeht. In meinem Leben öffnet sich jedes Mal, wenn sich ein Happy End am Horizont abzeichnet, eine Falltür unter meinen Füßen, und während ich falle, erhasche ich einen Blick auf meine Partnerin, die die Gelegenheit nutzt, sich mit einer anderen davonzumachen. Um zu überleben, habe ich gelernt, mein Herz von meinem Magen und Gehirn abzukoppeln – aber erst nachdem ich von Katia, dann von Carmen, Annalisa und Pia verlassen worden war. Ab Patrizia habe ich aufgehört zu glauben, dass die Liebe eine menschliche Regung ist und beschlossen, sie für Einbildung zu halten – ein Produkt der Fantasie, die nur auf dem Papier und auf dem kleinen und großen Bildschirm Realität wird, aber niemals im wahren Leben.

Absicht unseres Films jedenfalls ist es, zum Lachen zu bringen: Wir wollen, dass es eine brillante Komödie wird, eine kleine Reise durch das lesbische Universum, durch verschiedenste Neurosen, Kommunikationsprobleme, den Hang zur Verstellung, ständige Betrügereien, Verführung um der Verführung willen und einen andauernden und absoluten Willen, sich ausschließlich um die eigene Achse zu drehen. Nicht unbedingt politisch korrekt, aber gewürzt mit einer ordentlichen Prise Selbstironie.

»Joint?«

Simonas Frage reißt mich aus dem unkontrollierbaren Sog von Erinnerungen und Gedanken und holt mich brüsk in die Realität zurück. Silvia ist tot. Wir kannten sie kaum und erst seit kurzem, darum trifft uns diese Nachricht emotional nicht so sehr. Doch sie war ein Mensch, den wir seit einiger Zeit regelmäßig trafen, und die Vorstellung vom Tod eines jungen Menschen, den man kannte, ist immer ziemlich schockierend. Eine nach der anderen steigen die Erinnerungen in mir auf: zuerst ihr Gesicht, das Gesicht einer hübschen jungen Frau mit hellbraunen Haaren und pechschwarzen, manchmal zu schwarzen Augen. Dann ihre schlaksige Art sich zu bewegen, immer in blauen Leinenhosen, blauem Pullover und blauen Clarks. Ein paar hin- und hergeworfene Frotzeleien, ein Lächeln, der Tag des Castings, als wir sie kennenlernten und beschlossen, sie sei perfekt, um mich zu verkörpern. Und dann dieser andere Gedanke, der unvermittelt auftaucht: Wenn sie ich sein sollte, hätte ich ebenso gut sie sein können. In dem Moment, in dem sie beschließt, allem ein Ende zu setzen, den Strick nimmt, auf den Stuhl steigt, den Strick am Kronleuchter befestigt und ihn sich um den Hals legt. Sie, die noch ein letztes Mal darüber nachdenkt, einen Grund sucht, es nicht zu tun, doch das Telefon klingelt nicht, niemand klopft an der Tür. Sie, die sich entschließt, sich fallenlässt, stirbt. Es überläuft mich eisig. Dann schüttele ich mich, weil ich neben all den anderen Überlegungen einen ganz anderen, ekelhaft nüchternen Gedanken nicht loswerden kann: Silvia war die Hauptperson des Films. Eine ziemliche Katastrophe. Ich beschließe, laut auszusprechen, was wir sicher beide denken, das zuzugeben sich bisher jedoch keine getraut hat.

»Was machen wir denn jetzt? Silvia war perfekt, um Chiara zu spielen – wir werden wohl kaum so schnell eine andere finden. Noch dazu die Hauptperson! Hätte nicht der Zeitungsverkäufer sterben können, wenn unbedingt jemand sterben musste?«

»Nein, Mario ist so ein Netter!«

Sie lacht. Ein bisschen ist es der Joint, ein bisschen ist es einfach deshalb, weil Simo eben Simo ist. Von jemand anderem hätte ich einen Tritt in den Hintern kassiert.

»Wir müssen wohl ein neues Casting machen.«

»Und was ist daran so schlimm?«

Tatsächlich ist nichts daran schlimm, normalerweise muss man ins Ausland reisen, um neue Frauen kennenzulernen, da reicht es nicht, nur die Stadt zu wechseln. Nach der Immaginaria, dem internationalen Frauenfilmfest, und all den lesbischen Wochen, die organisiert worden sind, kennt inzwischen jede jede in ganz Italien. Es sagt sich leicht, dass man nicht mit einer etwas anfangen sollte, die man schon seit zwölf Jahren kennt und die außerdem mit deiner Ex zusammen war, die wiederum die Geliebte ihrer Ex war. Um neue Frauen kennenzulernen, muss man die üblichen Kreise verlassen, es zum Beispiel mit Annoncen und Chats versuchen, aber für solche Begegnungen musst du geschaffen sein. Du musst genau wissen, was du willst, musst in der Lage sein, mit einer Wildfremden, die du nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hast, eine scharfsinnige Unterhaltung zu führen, und du musst das Risiko eingehen, jemanden zu treffen, die du schrecklich findest, ohne zu wissen, wie du es ihr auf freundliche Weise zu verstehen gibst. Eine gute Alternative ist es, ein Casting zu veranstalten. Abgesehen von allem anderen, befindet man sich dabei in einer Machtposition, was nie schadet und dich definitiv interessanter macht. Beim ersten Mal hatten Simona und ich Herzflattern – nichts lag uns ferner, als die Situation auszunutzen. Es war der erste konkrete Schritt, den wir zusammen in Richtung Inszenierung taten, und wir waren wahnsinnig nervös. Außerdem hatten sich damals vollkommen unerwartet zwölf Frauen gemeldet, noch dazu zwölf unbekannte.

»Ich glaub’s nicht – das ist besser als die Anzeigen in Noi Donne.«

»Simo, vergiss nicht, dass wir hier sind, um Schauspielerinnen zu finden, und nicht zum Aufreißen. Du willst doch nicht zu einem dieser ekeligen geilen Produzenten mutieren?«

»Nein, nein.«

Die Art, wie sie lächelt und sich die Hände reibt, überzeugt mich nicht wirklich.

»Na meinetwegen, wir haben sowieso einen ganz verschiedenen Geschmack.«

»Nun mach mal halblang. Du bist doch sonst die Ernsthafte von uns beiden.«

»Ernsthaft – ich? Seit wann denn das?«

Schließlich war die Besetzung komplett: Silvia alias Chiara, ein bisschen schlampig, aber geistesgegenwärtig und intelligent, ein bisschen ungeschickt und unbefangen, einfach, direkt, spontan. Tot … Dann Elisa, großes Ego, durchsetzungsfähig, vielleicht ein bisschen aggressiv, klein, dunkelhaarig, spritzig. Perfekt für die Rolle der Katia, auch wenn uns schon vor dem Moment graust, in dem wir ihr am Set eine Bewegung, einen Ausdruck vorgeben müssen. Sie weiß, wie der Hase läuft, denn sie hat in der Grundschule einmal Zwerg Pimpel in Schneewittchen gespielt, und damals haben alle ihre Bühnenpräsenz bewundert. Sie hat danach nicht weitergespielt, weil sie nie die Zeit dazu fand, doch als sie unsere Anzeige sah, war ihr klar geworden, dass dies der rechte Augenblick war, wieder anzufangen.

Dann gibt es noch Rossana. Als Simo und ich sie sahen, waren wir beide sofort Feuer und Flamme. Nicht wegen ihrer atemberaubenden Sinnlichkeit, auch nicht weil ihre elegant aufgeknöpfte Bluse den Blick auf ein ansehnliches Dekolleté freigab und auch nicht weil sie jeder von uns, ohne dass die andere es merkte, ein strahlendes Lächeln voller (komplett eingebildeter) verborgener Bedeutungen schenkte – sondern weil sie Valentina ist. Das heißt, in Wirklichkeit ist Valentina überhaupt nicht wie sie, aber trotzdem könnte niemand sie besser verkörpern als diese Frau, die sich ihrer eigenen Verführungskünste so vollkommen sicher ist. Selbst wenn sie stumm wäre oder durch eine schlimme Krankheit vollständig gelähmt, würde ein Blick von ihr ausreichen, ein Lächeln, um bei allen Zuschauerinnen denselben Stich in der Magengegend auszulösen, der mich jedes Mal plagte, wenn ich Valentina sah oder mit ihr telefonierte oder jemand mir sagte, dass sie in Mailand war …

Und dann Maria. Auch wenn der Name etwas ganz anderes vermuten lässt, versetzt eine ihr Anblick sofort in die glühende Atmosphäre San Franciscos, wo im verruchtesten Sexclub der Szene eine tätowierte Schwarze enthusiastisch den Hintern schwingt, der du, arme kleine bürgerliche Lesbe, alter Hasenfuß, dich niemals nähern würdest. Das also ist unsere Sandra, die sich auf unsere Anweisung, sich ein bisschen spontan und provokant zu bewegen, kurzerhand auszog, mit gespreizten Beinen vor uns hinsetzte und vollkommen ungerührt den Blick auf eine rundliche und gut rasierte Möse freigab, mit der Aufforderung, wir sollten ruhig ein wenig näher kommen, wir zwei heißen Feger …

»Chiaraaaaa?«

Ich fahre zusammen. Simo schüttelt mich und fragt, woran ich denke, sie habe mich schon drei Mal gerufen und ich antworte nicht.

»Entschuldige, ich habe an die Besetzung des Films gedacht, und über Maria bin ich auf Sandra gekommen, und da habe ich mich verloren. Du weißt ja, wie das ist.«

»Los, wir müssen gehen, die Mädels erwarten uns zum Aperitif. Ist dir aufgefallen, dass Radio Saffo gar keinen großen Wirbel um Silvias Geschichte gemacht hat? Das Telefon hat noch nicht ein Mal geklingelt. Silvia war wirklich eine ganz schöne Außenseiterin, wenn niemand ihr Verschwinden bemerkt hat. Du wirst sehen, was die alle für Gesichter machen, wenn wir das heute Abend erzählen.«

Sie machen entgeisterte Gesichter, so wie ich, als mir Simo heute Morgen die Zeitung unter die Nase hielt, doch nachdem ein paar Theorien darüber aufgestellt wurden, warum so etwas hatte geschehen können, ohne dass jemand auch nur die kleinste Vorahnung gehabt hätte, wird bald das Thema gewechselt. Letztlich kannte sie niemand sehr gut, und obwohl ich ziemlich mitgenommen bin, verliere auch ich das Interesse, nachdem mir die anregenden Gesprächspartnerinnen ausgegangen sind und ich nichts Neues mehr zu sagen weiß. Mein Interesse konzentriert sich dafür jetzt ganz und gar auf eine atemberaubende Frau um die vierzig, so sehr, dass es beinahe peinlich wird. Ich beginne um sie herumzuschwirren und versuche etwas Intelligentes zu sagen, aber mir fällt nichts ein. Ich bin ziemlich angeheitert, und ich weiß, wenn ich mich nicht beeile, bin ich bald sternhagelvoll und tue etwas, das ich später bereue. Irgendwann steht sie auf und geht; ich versuche ihr zu folgen, doch ich verliere sie in der Menge. Verdammt, sie ist verschwunden, dabei ist die Bar nicht sehr groß, wahrscheinlich ist sie schon draußen und um die nächste Ecke gebogen. Ich beschließe, Maria zu fragen, die immer auf der Stufe draußen vor der Tür sitzt, aber erst gehe ich zur Toilette, sonst sterbe ich. Ich stehe im Vorraum und warte, dabei frage ich mich, ob ich sie vielleicht zu sehr bedrängt und mich bis auf die Knochen blamiert habe. Ich sage mir, dass ich nichts Schlimmes getan habe, ich habe nur einen intensiven Blick auf eine Frau in einer Gay-Bar geworfen, und das ist schließlich kein Verbrechen. Selbst wenn es eine Hetero-Bar gewesen wäre, hätte ich nichts Schlimmes getan – es wäre nur schlauer gewesen, ich hätte aufgehört, sie anzustarren und stattdessen die Initiative ergriffen. Während ich zwischen diesen verschiedenen Gemütszuständen schwanke und meinen Cocktail schlürfe, öffnet sich die Tür zur Toilette, und da steht sie. O Gott, was mache ich jetzt? Ich trinke. Das ist eine automatische Reaktion, wie jemand sich eine Zigarette anzündet oder den Kopf kratzt – ich lächle, tue so, als wäre nichts, und dann geht sie und dieser Moment schrecklicher Peinlichkeit ist vorüber. Na wunderbar, denke ich und muss lachen. Ich setze mich auf den Hocker an der Bar und denke über die Ironie der Situation nach: Erst spreche ich sie nicht an, weil ich mich nicht traue, und dann lasse ich mich vor der Toilettentür erwischen …

»Warum kicherst du so vor dich hin?«

Ich drehe mich um, weil ich sehen will, wer da gesprochen hat, und ich spüre, wie mir von einer Sekunde zur nächsten der Kopf heiß wird und meine Hände kribbeln, wie wenn ich mich beim Autofahren erschrecke, denn neben mir sitzt sie.

»Hallo, ich bin Carmen.«

»Carmen …«

»Störe ich?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich bin Chiara.«

»Warum kicherst du so? Es muss ziemlich lustig sein, denn du hast schon gelacht, als du aus der Toilette kamst.«

Erst denke ich, dass sie mich auf den Arm nehmen will, aber als mir klar wird, dass die Frau keinerlei böse Hintergedanken hat, beschließe ich, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Ich habe über mich gelacht und darüber, was du wahrscheinlich gedacht hast, als du mich vor der Tür stehen sahst …«

»Ich habe gehofft, dass du meinetwegen da stehst, aber dann hast du nichts gesagt … und da dachte ich, wenn ich nicht den ersten Schritt mache, wird das nie was!«

»Guter Gedanke. Ich bin wirklich nicht gerade das größte Talent im Abschleppen.«

»Hast du Angst vor Abfuhren?«

»Nein, ich habe Angst, nicht zu wissen, was ich sagen soll. Ich habe eine Freundin, die ist unglaublich – einmal waren wir in der Disco, und sie hat eine ins Auge gefasst, ist ein bisschen um sie herumgeschwirrt, irgendwann setzten wir uns in ein kleines Séparée. Laura, meine Freundin, war allein auf einem Sofa für zwei, und nicht weit von uns saß das Mädchen, an einem Tisch mit anderen Leuten. Laura ruft sie und fragt, wie sie heißt, die andere antwortet: ›Luisa.‹ Und Laura: ›Komm her, Luisa, setz dich zu mir.‹ Luisa steht auf und setzt sich neben Laura.«

»Das glaube ich ja nicht!«

»Ich schwöre es! Ich war vollkommen perplex. Wenn du eine vollkommen Fremde einlädst, sich zu dir zu setzen, worüber sprichst du dann mit ihr?«

»Über deine Freundin, die so gut darin ist, Unbekannte anzusprechen!«

Wir unterhalten uns noch ein wenig. Carmen ist genauso schön, wie sie mir auf den ersten Blick erschien und noch dazu sympathisch. Wir reden immer weiter, sie neckt mich, wir lachen, rauchen noch eine Zigarette, trinken noch einen Rum. Die Bar leert sich langsam, und wir sitzen immer noch hier drinnen und plaudern, sie macht keine Anstalten zu gehen und ich ebenso wenig. Alex, der Barmann, gibt uns noch einen Rum aus – das ist seine Art, Amor zu spielen – wahrscheinlich denkt auch er, dass die Geschichte vielversprechend aussieht. Dann lächelt er zufrieden und geht. Die Situation fesselt mich immer mehr; mir gefällt die Art, wie ihr die Haare in die Stirn fallen, und sie hat blaue Augen – ich liebe blaue Augen. Ich mache einen schlechten Witz, und sie lacht. Sie lacht laut und fragt, ob ich sie verführen wolle. Aber ich habe keine Zeit, mir eine spritzige Antwort auszudenken, denn sie nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich – ein bisschen mehr und ich kippe um –, dann sagt sie: Du hast aber ganz schön lange gebraucht. Sie dagegen verliert wahrlich keine Zeit.

Die Zahlen, die der Wecker an die Wand wirft, sagen mir, dass es Viertel nach zehn ist. Morgens. Es ist weder mein Wecker noch meine Wohnung. Durch die Jalousien dringt ein wenig Licht, so dass ich die Silhouette des Körpers erkennen kann, der da neben mir liegt. Nein, neben mir stimmt nicht, eher in mich verknotet in einem seltsamen Gewirr aus Armen und Beinen. Ein schöner Körper, keine Frage. Und ich habe keinerlei Lust zu fliehen, im Gegenteil, die Hitze steigt schon wieder in mir auf. Das muss auch sie bemerkt haben, denn sie rückt im Halbschlaf noch näher an mich heran, wenn das überhaupt möglich ist, und beginnt schwerer zu atmen. Was jetzt passiert, werde ich nicht beschreiben, die Kamera muss leider draußen bleiben: Sex ist eben Sex, die immergleiche Verschlingung von Mündern, Händen, Armen, Körpern, dieselbe Hitze, die sich der Wollust hingibt, dieselbe Art, sich gegenseitig Lust zu verschaffen. Auch die Gedanken dabei sind häufig dieselben, von Frau zu Frau, von Bett zu Bett – was sich unterscheidet, ist das, was im Bauch passiert, die Gefühle.

Ich gebe es zu, auf meine Art bin ich Romantikerin, und diese warmen Ströme lassen mich immer an Liebe denken. Aber es ist besser, wenn ich jetzt nicht daran denke, sonst stehe ich auf, ziehe mich an und gehe. Denn plötzlich fällt mir ein, dass diese Frau kein Single ist. Das hat sie mir gestern Abend erzählt, als wir beschwipst an der Bar saßen. Ja, sie hat eine Freundin, die ist Flugbegleiterin und wegen der Arbeit häufig unterwegs, und ich reite mich hier gerade ganz schön in die Scheiße. Irgendwie muss ich dazu eine besondere Veranlagung haben, irgendetwas an mir, eine besonders narzisstische Persönlichkeit oder einen ausgeprägten Masochismus, den ich nicht kontrollieren kann. Oder einfach unheimliches Pech. Wenn ich weniger trinken würde, gelänge es mir vielleicht, etwas besser auszuwählen.

Glücklicherweise bleibt mir immerhin ein kleiner Rest Selbsterhaltungstrieb, bei allem Übel, das ich mir selbst tagtäglich zufüge, und so erfinde ich eine banale Ausrede, um ihr meine Telefonnummer nicht zu geben, und gehe, nachdem ich mich für die tolle Nacht bedankt habe. Ich weiß, dass ich das nächste Mal, wenn ich allein in mein Bett steige und eigentlich gerne jemanden bei mir hätte, daran zurückdenken und es bereuen werde, aber es ist trotzdem viel besser so.

Im Rückblick hat dieser Abend trotz allem meine Laune gehoben, und auf dem Nachhauseweg singe ich leise vor mich hin und denke an den Film, und ich überlege, wie wir Silvia ersetzen können. Wir müssen dringend jemanden finden, die die Chiara spielen kann, und in der Zwischenzeit versuchen, auch ohne sie weiterzudrehen. Das Problem ist, dass sie in beinahe allen Szenen mitspielt …

Ringring, ringring, ringring.

»Hallo, Simo, wie war dein Abend?«

»Wie üblich, sie lässt mich nicht ran, sie lässt mich nicht ran, sie lässt mich nicht ran! Und du? Du warst ganz schön hinüber, schien mir. Einmal habe ich mich umgedreht und gesehen, wie eine Frau dich küsste, dann warst du plötzlich verschwunden …«

»Ja, ich bin bei ihr zu Hause gelandet, aber egal, das erzähle ich dir später. Ist dir was eingefallen, was uns aus der Patsche hilft?«

»Ich hatte eine geniale Idee! Erinnerst du dich an El Mariachi, diesen schrecklichen, aber super genialen Film von Rodriguez? Er hatte keinen Pfennig Geld, um seine Schauspieler zu bezahlen, und sie hatten irgendwelche Probleme, keine Ahnung, jedenfalls konnten sie nicht alle zusammen drehen. Also hat er alle Szenen mit nur einem Schauspieler aufgenommen und dann alles zusammenmontiert, und ich garantiere dir, dass man nichts davon merkt, überhaupt nichts! So können wir weitermachen, bis wir eine neue Chiara finden.«

»Genial! Das ist eine erstklassige Idee. Dann komme ich jetzt zu dir, und wir überlegen genau, wie wir das machen, und rufen die Mädels an, wer die Erste sein will. Bis gleich.«

Ringring, ringring, ringring.

»Ja, bitte?«

»Guten Tag, spreche ich mit Signora Chiaretti?«

»Ja, das ist richtig.«

»Hier spricht Kommissarin Pastore. Ich untersuche den Tod von Silvia Sorini. Ich rufe Sie an, weil der letzte Anruf, den die Dame erhalten hat, von Ihrem Apparat kam.«

»Ah …«

»Ich muss Ihnen einige Fragen stellen. Macht es Ihnen etwas aus, ins Kommissariat zu kommen?«

»Nein, kein Problem. Ich habe gestern Morgen aus der Zeitung von ihrem Tod erfahren. Sie hat sich umgebracht, oder? Warum werde ich deshalb angerufen?«

»Ich werde Ihnen alles in Ruhe erklären. Kommen Sie bitte in die Via XX Settembre in den ersten Stock und fragen Sie nach mir. Wann können Sie da sein?«

»Na ja, ich bin in der Nähe vom Hauptbahnhof. Ich kann mich gleich auf den Weg machen.«

»Gut, vielen Dank, dann bis gleich.«

Ich tappe im Dunkeln. Warum wollen sie mit mir sprechen? Was ist das für eine Geschichte?

Tuuut, tuuut, tuuut.

»Simoooo!«

»Was ist los? Du hörst dich seltsam an!«

»Mich hat eine Kommissarin von der Polizei angerufen, wegen der Geschichte mit Silvia. Sie haben meine Nummer in ihrer Anruferliste gefunden. Es scheint so, als wäre ich die Letzte, die mit ihr gesprochen hat. Sie wollen mich sehen – ich bin gerade auf dem Weg dahin.«

»Wohin denn? Soll ich mitkommen?«

»Nein, nein, nutze die Zeit lieber, um ein bisschen zu arbeiten. Ich komme direkt danach zu dir.«

Schweigen.

»Simo, meinst du … sie wurde umgebracht?«