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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

 

 

Birgit Utz

 

Alles ist anders

 

Roman

 

 

 

K&S digital

Kapitel 1

 

 

Mel

 

»Nein, heute will ich allein schlafen«, habe ich zu Mona gesagt, als sie mit zu mir nach Hause kommen wollte. Es ist November, unfreundliches Wetter. Sie hätte mich im Auto mitgenommen, aber ich wurde lieber nass. Wir hatten Premiere; sie ist extra früher von der Arbeit gekommen, um dabei zu sein, und danach stieg noch eine Party, doch ich hatte keine Lust.

Und so sitze ich jetzt hier in der Küche mit Sammy, das geht gar nicht. Sie streckt mir ihren Joint hin. Ich schüttele den Kopf. Mir ist jetzt schon schwindelig, ich habe genug. »Mit jedem Zug wird der Weg zu meinem Zimmer weiter«, erkläre ich ihr.

Sie zieht selber noch einmal, drückt dann den Stummel aus, zieht einen Mundwinkel hoch; ihre grünen Augen funkeln hinter einem Schleier aus Haaren. »Och, auch egal«, meint sie, stützt sich auf den Küchentisch auf; ihre Lippen sind so nah.

Ich reiße mich los. Puh, das ist hart. »Schlaf schön«, sage ich, stemme mich aus dem Sessel, beuge mich über sie und wuschle ihr durch die dunklen Locken. Darunter sind ihre Haare abrasiert. Sie sind so dicht gelockt, dass sie das halbe Gesicht verdecken. Ich ziehe ein bisschen an ihrem Schopf, und sie hält meine Hand fest, holt mich näher zu sich heran.

»Nur einen«, sagt sie, und ihre Haare kitzeln. Unsere Zungen kennen sich schon, aber nur flüchtig. Das letzte Mal haben wir auf der WG-Party geknutscht, vor einer Woche, und danach habe ich beschlossen, so zu tun, als sei nichts gewesen. Soweit ich das mitbekomme, küsst Sammy sowieso ziemlich viel, und ich küsse Mona. Nicht so gierig oder so dringend, schon lange nicht mehr, vielleicht noch nie, aber es ist nicht so, dass ich Mona – ich liebe Mona, echt. Sie ist so etwas wie ein Zuhause, wenn es das gibt. Nur – ich hätte sie mitnehmen müssen.

Was mache ich schon wieder in Sammys Mund? Kein Sex in der WG, habe ich Samstag gesagt, und wir haben gelacht und sind nicht zusammen im Bett gelandet, sondern jede in ihrem eigenen, nur: Seitdem habe ich Herzklopfen, wenn ich sie sehe. Ihre Zunge windet sich um meine, sie tanzt. Das hier soll niemals aufhören.

Denke ich noch, da löst sie sich schon wieder, sagt: »Träum was Süßes«, steht auf, wischt sich mit ihrem Ärmel über den Mund und läuft an mir vorbei, den Flur hinunter.

Die Dielen knarzen, ihre Tür quietscht, fällt ins Schloss; wenn da mal nicht Dörthe aufwacht. Sammy wird noch ins Bad gehen, um sich die Zähne zu putzen, an meinem Zimmer vorbei. Egal was war, sie putzt sich immer die Zähne. Langsam gehe ich auf mein Zimmer zu. Sehe zu ihrem Zimmer, den Gang hinunter. An ihrer Tür hängt Patti Smith, guckt total ungerührt in meine Richtung. Scheiße, ich muss mit Mona Schluss machen.

Haralds Freundin Helen ist noch bei einer Kollegin, und Mona arbeitet bis halb sieben. Draußen ist es schon dunkel, viel zu früh. Ich sitze auf der Eckbank und schnipple Gemüse für den Wok. Wir hören Nirvana. Harald steht am Herd und summt leise mit.

Klar ist es ordentlicher, seit Helen hier wohnt. Ist ja auch keine Kunst, würde meine Schwester Bettina sagen. Ordentlicher, aber voller. Neben Haralds Theaterplakaten hängen noch die von ihr; viele aus der Schweiz. Sie hat jahrelang in Zürich gearbeitet. Und ein paar Regale und Stühle hat sie auch mitgebracht. Das Zimmer, in dem ich mein erstes Jahr in Hamburg verbracht habe, ist jetzt ihres, das heißt, eigentlich ist es eher wieder das Arbeitszimmer oder das Gästezimmer. Ein Schreibtisch, eine Matratze, falls Helen allein sein will oder Besuch kommt. Genau genommen hat Helen ständig Besuch. Von ihren beiden Schwestern, die in München und Stuttgart wohnen, die eine mit Mann und zwei Kindern, die andere allein. Von ihren Kolleginnen aus Zürich. Von ihren Freundinnen in Hamburg, die es nicht mehr vom Kiez heimschaffen. Und dann gibt es noch ein paar Berlinerinnen. Ich habe den Überblick verloren. Aber heute sind wir allein, nur wir vier, sozusagen die Kernfamilie.

»Hat dein neues Projekt schon angefangen?«, fragt Harald.

»Ja, wir machen gerade die Entwürfe. Diesmal darf ich ’ne Menge selber basteln.« Ein Weihnachtsmärchen für Kinder. Da kann man sich richtig ausleben, alles bunt und überdreht machen. Doris wird das planen. Ich werde diejenige sein, die herumrennt, Material und Requisiten besorgt und den Technikern beim Basteln hilft, ihnen nebenher in den Arsch tritt, damit es schneller geht, die richtige Zeit abpasst, wann ich dem Regisseur wieder nervige Fragen stellen darf, und das Budget im Auge behält. Es ist eine kleine Bühne. Und ich bin das Mädchen für alles. Im Dezember muss ich dann eigentlich schon den nächsten Job an Land gezogen haben.

»Ich dachte, du bastelst gern?«, unterbricht Harald meine Gedanken.

»Ja, klar.«

»Das klingt aber nicht begeistert«, meint er.

»Ich weiß auch nicht«, sage ich. »Das Thalia Theater hat noch nicht gezahlt, ich bin in den Miesen, und ich müsste mal wieder im Café anfragen, ob ich ein paar Schichten kriege. Aber ich hab keine Lust auf gar nichts.«

»Du musst endlich mal dein eigenes Bühnenbild machen, nicht immer nur Assistenz«, sagt er. »Oder du suchst dir eine Festanstellung.«

Ich schüttele den Kopf, lache. »Ach komm, du weißt doch, wie viele es davon in Hamburg gibt.«

»Es muss doch nicht Hamburg sein. Mel, in unserer Branche gehört es dazu, ab und an umzuziehen.«

»Aber ich bin hier zu Hause. Ich brauche den Hafen und alles – nee, Harald, für mich ist das Vagabundenleben nichts. Ich hab da keine Lust drauf.«

»Du willst Mona nicht allein lassen, oder?«, meint er.

Ich rutsche auf die Kante vor. Was soll ich mit ihm über Mona reden? Die kommt ja gleich. »Sie liebt ihren Job«, sage ich also, statt Probleme aufzuwühlen. Ich habe gar keine Zeit für Probleme. Mona arbeitet im Obdachlosentreff auf St. Pauli. Kleiderausgabe, medizinische Versorgung, im Winter der Notbus. Punker, Junkies, Alkies, Mädchen, die von zu Hause abgehauen sind. Die ganzen Gestrandeten. Mona macht das schon seit acht Jahren, seit sie ihr Studium abgeschlossen hat. Manchmal muss ich daran denken, was Papa sagen würde, wenn er von ihr wüsste. Und ich finde eigentlich, wenn er ehrlich ist, müsste er zugeben, dass sie eine Heilige ist.

»Aber für dich würde sie ihn aufgeben«, sagt Harald. »Das weißt du genau. Und sie würde auch woanders was finden.«

»Sie hat das alles aufgebaut. Es würde – sie wäre nicht dieselbe. Ohne den Treff kann ich sie mir gar nicht vorstellen.«

Richtig verliebt habe ich mich, als ich sie das erste Mal dort erlebte. Ich kannte sie schon eine Weile aus der Frauenkneipe, wo sie immer gemütlich ihr Bier trank. Vom Camelot, wo sie den anderen Frauen gern beim Tanzen zuschaute, vor allem aber mir. Sie ist schön mit ihren kurzen dunkelbraunen Haaren, den Falten auf der Stirn, den Lederarmbändern und ihrem festen, kompakten Körper. Man sieht, dass sie Karate macht. Sie hat mir schon immer gefallen, aber ich selbst hätte sie wohl nie angesprochen. Sie sitzt gern in den Ecken und unterhält sich oder schweigt. Während ich immer in Bewegung war. Alles war damals durcheinander, und es wurde mir langsam zu viel: Jobs, Affären, Wohnungswechsel; ich war immer noch nicht wirklich in der Stadt angekommen. Irgendwann hat sie mich dann zum Essen eingeladen. Nicht zu sich nach Hause, sondern in den Obdachlosentreff.

Da stand sie, an der Essensausgabe, mit ihrer tiefen, vollen Stimme, und sie war der Pol, um den alles kreiste. Sie gab jedem seinen Teller Suppe auf, und meistens lächelte sie dabei. Wenn sich jemand vordrängelte, blaffte sie ihn an, aber nie böse. Wenn sie etwas brauchte, streckte sie kurz den Kopf in die Küche. Und als alle was hatten, setzte sie sich neben mich.

Ich hatte schon eine Gesprächspartnerin gefunden. Das heißt eine Frau, die mir ihre Lebensgeschichte erzählte. »Und dann hatte ich irgendwann genuch. Dann hab ich gesagt: Nee, das machst du nich. Mit mir machst du das nich. Aber dann war eben auch die Wohnung wech. Und dann erst mal: Frauenhaus.«

Eigentlich habe ich nur genickt, und als Mona sich setzte, ihren Körper neben mir gespürt, seine Wärme, seine Sicherheit. Schon dort wollte ich mich sofort bei ihr anlehnen, mich in sie fallen lassen.

Als sie mit der Arbeit fertig war, haben wir es getan. Nachdem wir uns zusammen den Geruch der Obdachlosenküche weggeduscht, uns gegenseitig eingeseift hatten. Wir haben uns Zeit gelassen. Und danach habe ich so tief geschlafen wie lange nicht mehr. Habe mir das Frühstück ans Bett bringen lassen. Bin einfach bei ihr geblieben. Ganze drei Tage haben wir das Haus nicht verlassen. Seitdem sind wir zusammen. Inzwischen ist das fast drei Jahre her.

Ich erschrecke, als es klingelt. Das passiert mir oft mit Harald: Wir reden kurz, und dann tun wir wieder irgendetwas, jeder für sich, in seine eigenen Gedanken versunken, und doch ist es viel gemütlicher, als wenn man allein wäre. Man könnte jederzeit wieder anfangen zu reden, aber man muss auch nicht. Harald und ich können gemeinsam schweigen, und das ist etwas Besonderes, finde ich, nicht mal mit Mona kann ich das länger. Er sieht mich auffordernd an. Ich reiche ihm das geschnittene Gemüse.

»Na, das haben wir gerade noch rechtzeitig geschafft«, sagt Harald. Ich versuche zu lächeln. Er sieht ernst aus. »Mel, sag mal, irgendwas stimmt bei dir nicht, oder?«, fragt er tatsächlich. Ich nicke und zucke die Achseln. Er streicht mir über die Schulter. Wir werden telefonieren. Dann geht er zur Tür und begrüßt Mona.

Ich hole solange die Teller aus dem Schrank und mache schon mal den Fernseher an. Gleich kommt Lindenstraße.

 

 

 

Sammy

 

Am Montagmorgen gehört die Wohnung stets mir ganz allein. Ich ziehe die Vorhänge zur Seite, öffne das Erkerfenster und atme die Luft voller Abgase ein, lausche dem Lärm der Stadt, gucke Autos an und Menschen, die an der roten Ampel warten. Zuweilen kann es auch mir zu viel werden, aber überwiegend ist es so: Es beruhigt mich ungemein zu wissen, dass sie alle da draußen sind: die Erfolgreichen im Neuwagen, die Leute auf ihren Fahrrädern, beide fahren auf ihrer Spur um die Wette, während Massen von Menschen aus der S-Bahn strömen, sich mit den Fahrradfahrenden in die Quere kommen: Musical-Besucher, Durchreisende, Anwohnerinnen, die sich nicht kennen. Nicht weil die Großstadt allgemein anonym wäre – in London wohnte ich mit meinen Eltern in Chelsea, da kannte ich alle –, aber in dieser Trasse sind wir im Grenzbereich zwischen zwei Kiezen. Deshalb trifft man sich nicht automatisch. Mir kommt das entgegen.

Ich gähne, stecke mir eine Zigarette an, gucke an mir herunter und freue mich an dem viel zu großen Feinrippunterhemd. Inzwischen ist es eines von fünf, etwas anderes kaufe ich nicht mehr. Gemessen an der Haltbarkeit ist es ein fairer Preis, sie sind weich und haben doch Charakter, und sie sind nichts für Mädchen. Du bist ja hundert Prozent Butch, hat Mel einmal gesagt. Womit sie sich täuscht. Ja, ich habe inzwischen zwei Mal mit ihr geknutscht, aber davor habe ich hauptsächlich mit Jungs meinen Spaß gehabt. One of the boys, mit zahlreichen problemlosen Affären – das bin ich. Insofern hat Mel vielleicht auch wieder recht: Bei den Jungs war ich auf jeden Fall immer Butch, sofern man das Wort auf Heteras anwenden will.

Ich weiß nicht, wie es wäre, mit Mel weiterzugehen. Einmal habe ich das getan, mit einer engen Freundin. Was vielleicht ein Fehler war. Aber ich glaube, mit Mel wäre ich ganz anders, womöglich schüchtern. Nur werde ich das kaum je herausbekommen: Mel ist gebunden, und ich bin keine zuverlässige Alternative zu M., die sie wirklich vergöttert.

Diese Gedanken sind vollkommen fehl am Platz. Ich schaue noch einmal hinaus und lasse den Blick schweifen, bis ich mal muss und dann will, nämlich ein wunderbar dekadentes Vollbad nehmen, diesmal mit Jasminduft. Das Wasser läuft ein, derweil belade ich in der Küche ein Tablett mit allem, was nötig ist: Kaffee und Hefezopfreste, Honig und Butter plus eine fertiggedrehte Zigarette. So ein Badewannenfrühstück ist einfach wunderbar.

Ich aale mich im Wasser, und dann esse ich genüsslich. Ich frage mich, was das mit Mel soll und ob sie mit M. wirklich glücklich ist. Wie sie wohl schmeckt? Mir schwindelt. Ob ich Nico anrufen sollte, um ihm von ihr zu erzählen? Aber in Beziehungssachen ist Nico nicht wirklich ein guter Ratgeber. Mein Bruder hat schlicht zu wenig Erfahrung. Doch dafür ist er ein guter Zuhörer, er stellt oft die richtigen Fragen. Und nicht zuletzt kennt mich einfach niemand so gut wie er. Vielleicht rufe ich ihn ja an, wenn ich hier fertig bin. Heute habe ich nur ein Seminar um zwei Uhr und ansonsten massig freie Zeit.

Zuerst werde ich mich jedoch noch ein bisschen hier vergnügen. Ich räume das Essen weg und tauche unter. Meine Haare schwimmen um meinen Kopf herum. Ich könnte sie auch mal verfilzen lassen, wie Nico. Aber kurz vor dem wunderbaren Dämmerzustand, in dem ich oft die besten Ideen habe, zum Beispiel für Liedtexte oder für Hausarbeiten, fällt mir siedend heiß ein, dass ich heute ein Referat halten soll, das ich noch gar nicht geschrieben habe. Das war’s dann also mit der Erholungsphase. In vier Stunden sollte ein Referat irgendwie zu machen sein. Oder etwa nicht? Die Rezeptionsgeschichte von The Scarlet Letter. Es gibt da ein paar Artikel, die ich mir zum Glück schon letzte Woche kopiert habe. Ich muss sie nur noch lesen. Und exzerpieren. Und mir meine eigenen Gedanken machen. Und schreiben. Ganz einfach. Na, denn: Let’s go.

 

 

 

Mel

 

Sunday bloody Sunday … Als Doris rausgeht, in der Kantine was essen, lege ich erst mal eine andere Kassette ein und drehe die Musik lauter. PJ Harvey singt »Man-Size«, und ich mache die Stehlampe an. Tageslicht gibt’s schon lange keins mehr; es ist ja fast Dezember.

Ich zerrupfe weiter Zeitungen, ein ganzer Berg hat sich schon in einem Karton angehäuft. Daraus werden dann Masken aus Pappmaché. Kobolde statt Engel, ganz cool. Und ein bisschen wie Kindergarten. Alleine arbeiten ist am schönsten, finde ich. Aber lange geht es nicht. Jemand klopft. Höflich, fast zögernd. Also niemand, der hier arbeitet. Eigentlich klopft man hier sowieso gar nicht. Und wenn überhaupt, dann so, dass es keine Frage, sondern eine Vorwarnung ist: Klopfen, Tür auf, sprich, bis du hochguckst, ist dem Klopfen schon ein Kopf gefolgt, wenn nicht gar eine ganze Person.

»Komm rein«, sage ich. Klar kenne ich das Klopfen. Mona schiebt sich langsam in den Raum, lächelt vorsichtig, sieht sich sorgfältig um. Ich lege die Zeitung weg, besser gesagt, das, was von ihr übrig ist, und gehe ihr entgegen. Umarmung, Begrüßungskuss.

»Du bist noch mittendrin, oder?«, fragt sie, versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Wir haben sozusagen gerade erst angefangen«, erkläre ich.

Sie zögert. Ich gehe zum Kassettenrekorder, mache die Musik leiser. »Willst du einen Kaffee?«, frage ich.

Sie runzelt die Stirn. »Tee«, meint sie, ein bisschen genervt. Okay, klar weiß ich, dass sie am Nachmittag keinen Kaffee mehr trinkt. Eigentlich trinkt sie sowieso fast nie Kaffee, aber es hätte ja sein können. Ich meine, wie hält man sich sonst im Winterhalbjahr ab vier Uhr nachmittags wach?

»Kamillentee?«, frage ich also. Den gibt es hier, falls jemand mal Magenprobleme hat oder so. Und sie nickt, läuft hinter mir her, bis zur Tür.

Dann dreht sie um, hat es sich anders überlegt. »Ich warte«, meint sie.

Als ich aus der Kaffeeküche zurückkomme, sitzt sie in der Ecke auf dem Sofa, hat die Schuhe ausgezogen, die Beine untergeschlagen und guckt sich um.

»Danke«, sagt sie, nimmt die Tasse, trinkt einen Schluck.

»Sorry, ich muss dann wieder …«, erkläre ich, laufe durch den großen Raum, von ihr weg.

»Kann ich dir helfen?«, fragt sie hinter mir.

»Klar.« Ich versuche, fröhlich zu klingen, stelle ihr einen Stuhl neben meinen.

»Du kannst die Musik ruhig wieder lauter machen«, meint sie. Und das tue ich auch. Wir rupfen Zeitung, synchron, schweigen, ich wippe mit dem Fuß. Irgendwann kommt Doris wieder, Begrüßung, Lächeln.

Wir rühren Leim und Papierschnipsel an, blasen riesige Luftballons auf, jede nimmt einen und schmiert ihn mit dem Brei ein. Mona beobachtet mich, während sie weiterrupft. Hier hat sie mich noch gar nicht besucht, es ist das dritte Theater in diesem Jahr. Wenn Mona da war, kam ich mir immer vor, als würde ich etwas Besonderes machen. Als lebte ich in einer Glitzerwelt und hätte dort wirklich eine Rolle, also eine, die gesehen wird. Die Frage, ob oder was ich hier zu melden habe, ob ich wichtig bin, stellt sich für Mona nicht. Und das fand ich immer toll.

Aber heute, jetzt, nach all der Zeit, denke ich auf einmal, dass sie es besser wissen müsste, dass sie mich doch besser kennen, dass sie wissen müsste, dass das hier auch nur eine Kackmaloche ist, dass ich nichts zu melden habe, egal wie gut ich dabei aussehe.

Andererseits: Natürlich hilft es, wenn einen jemand gut findet, super sogar, was auch immer. Ja, ich spüre es, es ist echt. Mona ist immer noch in mich verliebt. Doris und ich basteln lange Nasen und große Ohren an unsere Luftballons. Die müssen jetzt erst mal trocknen, und da beschließt Doris, dass es für heute genug ist. »Macht euch noch einen schönen Abend«, meint sie und zwinkert uns zu. Ich drehe mir eine Zigarette, und auch Mona nimmt eine. Doris zieht ihre Schachtel aus der Hosentasche. Sie gibt uns Feuer, wir rauchen alle zusammen. Danach verabschieden wir uns. Arm in Arm laufen Mona und ich den dunklen Flur entlang. Ihre Hand wandert in meine Tasche am Hintern.

Und das geht mir zu schnell. Schon wieder zu schnell. Dabei dachte ich vorhin noch, ich sollte mal wieder diejenige sein, die sie verführt. Keine Ahnung, wann es das letzte Mal so rum war. Immer nur sie. In letzter Zeit sehr oft. Als wollte sie es wissen. Und bei mir verschließt sich dann etwas. Die Schranke geht runter. Ich nehme ihre Hand, schiebe sie weg. Sie läuft schneller. Gleich wird sie sagen, dass sie später noch was vorhat.

 

 

 

Sammy

 

Sie sitzt ganz allein in der Küche und liest Zeitung, während ich noch überhaupt nicht richtig wach bin; gestern ist es spät geworden, denn nach der Bandprobe waren wir noch alle zusammen in der Roten Flora, dem autonomen Zentrum am Schulterblatt. In einer Stunde fängt das Virginia-Woolf-Seminar an. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich zu Mona zu setzen. Sie hat mich ohnehin schon gesehen und schenkt mir ein rundes, freundliches Lächeln. Alles an ihr ist rund. Wenn ich sie mit drei Adjektiven beschreiben müsste, würde ich sagen: fest und rund und schön. Sicher hat Mel sie schon fotografiert, und auf einem Bild von Mel wird sie selbstverständlich noch schöner aussehen. Aber in ihrem Zimmer hängt kein Foto von Mona, was ich, wenn ich so darüber nachdenke, erstaunlich finde.

»Morgen«, murmele ich und drehe ihr den Rücken zu, um Wasser in den Wasserkocher laufen zu lassen. Ich brauche zum Frühstück eine Kanne starken Kaffee und eine Zeitung, und dabei ist es mir ganz egal, wer in der Küche sitzt, denn vor allem und überhaupt ist es meine Küche – unsere Küche. Die Küche von Suzanna aus Spanien, Dörthe aus dem Allgäu, Mel und mir. Mona ist nur ein Gast. Dazu einer, der sich in letzter Zeit eher selten gezeigt hat.

Ich nehme an, dass Mel lieber bei ihr ist. Sie wohnt alleine, und ich kann mir schon vorstellen, dass es in ihrer Wohnung furchtbar ordentlich und gemütlich zugleich ist. Wahrscheinlich gibt es stets Tee und Kekse, und im Winter brennen Kerzen in alten Rotweinflaschen, die natürlich vorher zusammen ausgetrunken wurden. Und in ihrem Schlafzimmer wird es so ruhig sein, dass man morgens die Vögel hört. Auf keinen Fall werden an dem Haus, in dem Mona lebt, täglich hunderttausend Autos vorbeifahren.

Wahrscheinlich wohnen zudem in dem Haus, in dem sie lebt, außer ihr nur Familien und Rentner. Wenn Mel spätabends aufkreuzt, muss sie sich bemühen, nicht zu schnell und zu laut die Treppen raufzupoltern. Nein, das schafft Mel garantiert nicht. Womöglich hat Mona deswegen schon Ärger bekommen. Doch selbst wenn es so wäre, würde sie das, wie alles, mit Fassung tragen.

Okay, mir ist schon klar, dass das nichts als wilde Spekulationen sind; ich habe Mel noch nie gefragt, wie Mona wohnt. Überhaupt scheint es zwischen uns ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, nie über Mona zu reden. In letzter Zeit reden wir eigentlich fast nur noch über Bücher, wenn wir mal zu zweit sind. Seit wir uns geküsst haben, vermeiden wir es, allein zu sein. Oder sagen wir eher, seit wir uns küssen, denn in den letzten zwei Monaten waren das immerhin drei Male, und ich finde, das ist mindestens ein Mal zu viel, um es im Perfekt abzuhandeln.

Vor allem aber liest Mel sich durch mein ganzes Bücherregal. Jetzt hat sie sogar das erste englische Buch ausgeliehen. Mit ihrem Oxford Dictionary, das sie hier bei Robert im Secondhand-Buchladen gekauft hat, liest sie derzeit Alice in Wonderland. Ich besitze eine alte Ausgabe mit den Illustrationen von Sir John Tenniel, ein Weihnachtsgeschenk von Dad, das er früher meinem Bruder Nico und mir gemeinsam vorgelesen hat. Und ein Vokabelheft hat sie auch schon.

Ich meine, dass man sich küsst, kann mal passieren. Das muss in meinen Augen nicht gleich was heißen. Aber das mit den Büchern ist doch nicht normal. Es ist ja nicht so, dass man keine Bibliothek um die Ecke hätte, die ebenfalls eine breite Auswahl an Literatur bietet. Ich kann das einfach nicht anders interpretieren, als dass sie ein gewisses Interesse an meiner Person haben muss – über die Küsse hinaus, an denen es ihr wahrscheinlich auch ohne mich nicht mangelt.

Das Brot steht schon auf dem Tisch. Ich nehme das große Messer, säble damit durch Sonnenblumenkerne und Hafer – wir kaufen bei der Food-Coop ein – und lasse zwei Scheiben auf das dicke Holzbrett fallen. Dann sinke ich auf das Sofa, auch wenn das nicht wirklich ein geeigneter Platz zum Frühstücken ist, denn der Aufwand, sich nachher wieder rauszuhieven, ist schlicht viel zu groß. Aber auf der anderen Seite des Tisches sitzt schon Mona, und ich brauche Platz. Platz und ein Stück Zeitung, am liebsten den Lokalteil.

Mona sieht auf: »Was kann ich dir geben?«, fragt sie und streckt mir die taz hin. Ich nehme den Lokalteil, gebe ihr den Rest zurück und stelle das Radio an. »Ist das okay?«, frage ich.

Sie nickt freundlich. Mona ist immer freundlich, und das macht es noch schlimmer. Ich schenke mir Kaffee ein, wobei ein Schluck überschwappt – fast hätte ich mich verbrüht, das fehlte noch. Gestern Abend habe ich wieder zu viel gekifft. Ich trinke ja nicht, also muss man irgendwas tun, während die anderen saufen, nicht nur die Bandgenossinnen, sondern einfach alle in der Kneipe.

Ich schmiere mir ein Brot mit Orangenmarmelade und lese einen Artikel über das Hafenkrankenhaus. Die Stille zwischen uns ist angespannt. Jedenfalls empfinde ich es so, und im Grunde bin ich dann doch ein höflicher Mensch, höflicher als die meisten Hamburger inklusive -innen. Also fühle ich mich schließlich bemüßigt, Smalltalk zu machen. »Na, was habt ihr Weihnachten vor?«, frage ich.

»Ich bin bei meinen Eltern in Itzehoe, und zwischen den Jahren kommt Mel dazu«, sagt sie. Sie hat eine furchtbar schöne, tiefe Stimme. »Sie ist erst in Gummadingen. Silvester sind wir dann mit ein paar Freundinnen auf Amrum.«

»Super«, sage ich, während ich mit den Füßen blöde zu »Under the Bridge« von den Red Hot Chili Peppers wippe; den Kopf habe ich zum Glück gerade noch im Griff, auch wenn es schwerfällt. Dass Mel nach Hause fährt, hätte ich jetzt gar nicht gedacht. Sie spricht eigentlich nur schlecht über Gummadingen, das Kaff, aus dem sie kommt, genauso wie über ihre Eltern, die ja schon lange nicht mehr zusammen sind.

»Und du?«, fragt Mona zurück.

»Ich fliege nach San Francisco«, sage ich, absichtlich englisch ausgesprochen, genieße, wie ihre Augenbrauen sich erstaunt heben, und schiebe hinterher: »Mein Vater ist gerade für zwei Jahre in Berkeley, um britische Literatur an der Universität zu unterrichten.«

»Ach so«, meint Mona.

Ich schmiere Streichkäse auf mein zweites Brot und nehme mir dazu eine saure Gurke aus dem Glas, das auf dem Tisch steht.

Die Wohnungstür geht, und ich höre Mel atmen. Es klingt schnell und erschöpft, als wäre sie noch die drei Stockwerke hoch weitergehetzt, und das am frühen Morgen. Sie war im Wohlerspark joggen; das macht sie seit Neuestem schon fast regelmäßig, schätzungsweise zweimal in der Woche. Wie kann man Laufen gehen, während die Geliebte noch im Bett liegt? Mel ist mir in vielerlei Hinsicht ein absolutes Rätsel. Gleich wird sie den Kopf in die Küche stecken, um dann in der Dusche zu verschwinden. Meistens muss ausgerechnet in den zehn Minuten, die sie dort verbringt, Dörthe auf die Toilette.

Ich gucke auf Mona, die wiederum auf die Tür guckt. Mel schaut herein und winkt kurz, ohne eine von uns wirklich anzusehen. Als sie dann sofort wieder verschwindet, muss ich grinsen. Mona dagegen blickt ein bisschen enttäuscht drein. Und ich hasse mich dafür, dass mir das so eine diebische Freude bereitet. Denn ich weiß, dass Mel sie braucht, dass jede ihren Platz hat und ich mich an meinem ohne Häme einrichten sollte. Überhaupt: Was will ich letztendlich mehr, als ich sowieso schon habe?

Ganz sicher jedenfalls kein eheähnliches Verhältnis, wie die beiden es pflegen. Niemals werde ich irgendjemandem Rechenschaft darüber ablegen, mit wem ich wann wo Küsse oder auch mehr ausgetauscht habe. Niemals werde ich jemandem den Schlüssel für meine Wohnung geben, und ich habe auch dafür gesorgt, dass Mona keinen von uns bekommt.

Allerdings hatte ich den Eindruck, dass ich Mel damit entgegenkam. Ein verschämtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als ich entschieden sagte: »Das kommt mir nicht in die Tüte. Ich hab sie nicht als Mitbewohnerin ausgesucht, und sie wird auch keine sein. Was natürlich nicht heißt, dass sie nicht willkommen wäre. Aber es ist doch nicht so, als ob sie der einzige regelmäßige Übernachtungsgast wäre. Wer will denn dann bitte schön noch alles einen Schlüssel?« Mel hat sich schnell wieder gefasst und tat so, als sei sie enttäuscht. Aber ich habe ganz genau gesehen, wie ihre Mundwinkel kurz nach oben gewandert sind. Das war allerdings noch vor dem ersten Kuss mit mir. Jedoch schon in der Zeit, wo zumindest ich schon häufig an Küsse mit ihr gedacht habe.

Als Mel mit Duschen fertig ist und ihre Schritte sich in ihr Zimmer bewegt haben – früher lief sie immer nackt durch den Flur, aber seit ein paar Wochen tut sie das nicht mehr –, stopfe ich mir den letzten Bissen in den Mund und verabschiede mich. Gemeinsam mit Mona und Mel zu frühstücken geht mir denn doch zu weit. Gestern wäre es okay gewesen, denn da hatte ich Übernachtungsbesuch, aber so nicht. Und womöglich tue ich Mel auch hiermit wieder einen Gefallen; überhaupt bin ich viel zu nett zu ihr, wo sie doch schon so eine freundliche Freundin hat.

»Tschüs«, sage ich zu Mona und witsche hinaus. Wenn ich von der Uni zurückkomme, wird Mel im Theater sein. So geht es ganz gut, unser Leben nebeneinanderher und manchmal über Kreuz. Und jetzt werde ich mich sowieso zu allererst um Orlando kümmern.

 

Tracy zählt mit den Stöcken an, und Diana setzt mit einem treibenden Basslauf ein, der leider leicht versetzt ist; die beiden sind immer noch nicht so perfekt eingespielt, wie Lasse und Tracy es waren. Aber als Kim mit ihrem zuckersüßen Gitarrenriff dazukommt, ist mir das vollkommen egal. Ich lächle sie an, und sie lächelt zurück, mit ihrer charmanten Zahnlücke links hinter dem Schneidezahn. Ich atme einmal tief durch. Und singe.

»He’s my babe. She’s my man.«

Wir tragen alle Anzüge, Chucks und angeklebte Bärte. Für jeden Auftritt denken wir uns etwas Neues aus, und es macht immer wieder Spaß, die irritierten Gesichter im Publikum zu sehen.

Ich kenne die Frau nicht, und das ist meistens so; sie steht relativ weit hinten, sodass man eine ganze Strecke weit gucken muss, bis man über die Männer in der ersten Reihe hinwegsehen kann. »Ladies. Could I please have some ladies in the front row?«, bitte ich, als das erste Lied vorbei ist, lächle in die Menge und streiche mir die Haare aus dem Gesicht. Die Jungs weichen ein Stück zurück – die meisten hier sind ja gut erzogen. Und die Frau, der ich in die Augen geschaut habe, kommt mit ein paar Freundinnen im Schlepptau nach vorne. Ich habe nichts gegen Männer, aber die meisten von ihnen sind einfach zu cool, um sich zu bewegen; nur mit Frauen in der ersten Reihe kann der Abend zu einem Tanzerfolg werden.

»Thank you. Thank you so much. Und jetzt noch ein Kampflied: ›Who Needs Work When You Can Have Fun Instead?‹«

Irgendwann haben wir sie so weit, dass sie tanzen. Irgendwann singen Kim und ich im Duett »Duck and Cover«, und ich ziehe mein Jackett aus. Jemand johlt. Ich spucke in seine Richtung.

Beim letzten Lied wird es still. Die Leute sind müde getanzt, und ich selbst bin vollkommen verschwitzt. Ich setze mich auf einen Barhocker und fange an, Patti Smiths »Because the Night« zu singen. Da sehe ich, dass Mel am Eingang steht. Wahrscheinlich kommt sie direkt aus dem Theater. Sie sieht mich so nüchtern, so prüfend an, dass es mich kurz aus dem Rausch herausreißt. Bevor ich die Kontrolle verliere, gucke ich schnell woanders hin. Und als ich wieder in ihre Richtung schaue, ist sie schon verschwunden.

Es ist nicht das erste Mal, dass sie uns zuhört, um sich dann still und leise aus dem Staub zu machen. Wahrscheinlich ist es besser so, denn wenn es irgendeinen Punkt gibt, an dem ich regelmäßig irrationaler handele, als ich es womöglich sonst schon tue, dann ist es nach Konzerten. Die Gefühle übernehmen ganz klar die Oberhand, und es gibt kein Morgen. Aber trotzdem versetzt es mir einen seltsamen Stich, dass sie weg ist.

Ich könnte jeden Abend auftreten – das wäre mein ganz persönliches Paradies. Selbst wenn dem regelmäßig die Trauer am nächsten Morgen folgt, darüber, dass es vorbei ist. Dann fühle ich mich immer verlassen, egal ob ich meine Band oder sonst wen um mich habe. Aber das geht vorbei, und es ist eben der Preis. Für jeden Rausch bezahlst du.

Mein letzter Freund hat sich getrennt, weil er eifersüchtig auf meine Band war. Er wolle auch mal was zu zweit machen, hat er gemeint, beschwerte sich, dass ich nie Zeit hätte, dass er immer nur die zweite Geige spiele. Ja, er hatte recht, die Band war wichtiger als er: Garlick gibt es seit zwei Jahren, und es ist die längste Beziehung, die ich bisher hatte. Wegen ihnen bin ich in Hamburg geblieben, als meine Eltern letztes Jahr nach San Francisco weitergezogen sind. Wegen ihnen und um hier noch Abi zu machen, aber wichtiger waren sie.

Wenn ich nach Hause komme, werde ich Mum anrufen. Bei ihnen ist dann Spätnachmittag, und wahrscheinlich wird sie in ihrem Atelier sitzen, um Bilder für ihre neue Fotoausstellung Harbours zu rahmen. Ich bin froh, dass ich sie besuche. Weihnachten ohne Kinder wäre zu traurig für sie, Weihnachten in Hamburg für mich zu leer. Später könnte ich in der Flora feiern, aber davor, zum Abendessen, sind sie doch alle in Itzehoe oder Pinneberg oder vielleicht auch Eimsbüttel.

Manchmal ist Hamburg zu klein, zumindest wenn man mal in London gelebt hat. Manchmal denke ich, ich hätte doch mit nach San Francisco gehen sollen. Okay, genau genommen wohnen meine Eltern in Berkeley, aber das ist auch nicht zu verachten: eine kleine Studentenstadt, garantiert auch mit linker Szene. Man könnte dort ohne den Winter leben. Es erstaunt mich immer wieder, dass Nico und ich in Deutschland hängengeblieben sind. Nur schade, dass wir das halbe Land zwischen uns haben – er wohnt in Freiburg.

Während er mit unseren Eltern nichts mehr zu tun haben will, telefonieren wir fast jede Woche miteinander. Er, der lange nur allein vor dem Computer hockte, ist mit Mitte zwanzig doch langsam auf die Idee gekommen, dass es hier draußen in der Welt etwas zu tun gibt. Er macht in Freiburg Radio, und er deutete auch etwas von einer RAF-Unterstützergruppe an, wechselte aber schnell das Thema, als hätte er sich verquasselt. Ich kenne das nur zu gut von ihm: dass er die Hand ausstreckt, um sie plötzlich wieder zurückzuziehen. Ich kann damit leben. Denn irgendwie schafft er es doch nicht wirklich, irgendetwas vor mir zu verbergen. Dafür kennen wir uns einfach zu lange.

Wir haben aufgehört zu spielen. Es wird laut geklatscht, und die Frau in der ersten Reihe strahlt mich an. Ich komme langsam zu mir und gehe hinaus, dann wieder, mit allen zusammen, hinein. Wir verbeugen uns. Mel sehe ich nicht mehr. Aber sie läuft mir ja nicht davon, denke ich lächelnd, während ich die Bühne endgültig verlasse.

Kapitel 2

 

 

Mel

 

Als ich die Treppen hochkomme, telefoniert Mona mit ihrer Ex. Ganz normal, das macht sie eigentlich ständig. Nur dass sie diesmal gleich auflegt, als sie mich zur Tür reinlässt. Ob ich noch Suppe will, fragt sie; ein Rest sei noch da.

Ich schüttele den Kopf, werfe meine Sachen über die Garderobe. Mona wohnt in einem Klinkerbau in Eimsbüttel, einer ruhigen Wohngegend nördlich vom Schanzenviertel, ziemlich genau seit wir zusammen sind, da war sie gerade frisch aus ihrer letzten WG ausgezogen. Zu viele Leute auf Arbeit, meinte sie, da brauche sie zu Hause ihre Ruhe.

Das Sofa hat sie aus ihrer WG mitgenommen, sozusagen als Abschiedsgeschenk. Leder, mit Platz für sechs Leute, selten ausgelastet. Ich schnappe mir ein Kissen und lege mich in eine Ecke, lächle, schaue zum Fernseher, da läuft die Tagesschau. Ob ich einen Tee will, fragt Mona aus der Küche. Natürlich will ich einen. Noch mal abhängen, noch mal fernsehen, noch mal in Monas Armen liegen, bevor ich morgen früh nach Gummadingen fahre.

Aber als sie in der Tür steht, mit einer steilen Falte zwischen den Augen, ist klar: Daraus wird nix. Wie sie auf mich zugeht, mit entschlossenen Schritten, ein Tablett mit Tee und Keksen in den Händen, ist klar, dass sie reden will. Sie macht den Fernseher aus, schenkt mir Tee ein.

»Spuck’s aus«, sage ich. Auf einmal bin ich wieder wach. Sie hat es also doch kapiert. Sammy hat irgendwas in meinem Zimmer liegen lassen. Oder – sie kennt mich eben einfach. Es fühlt sich gefährlich an, aber auch irgendwie aufregend.

Mona setzt sich ans andere Ende vom Sofa und guckt genervt. »Was denn?«

»Na, du telefonierst nicht weiter, wenn ich reinkomme, du machst den Fernseher aus und lässt das große Licht brennen. Ich bin doch nicht blöd. Du willst doch irgendwas bereden, oder?«

»Jetzt sei mal nicht gleich so aggressiv. Hattest du Stress auf der Arbeit, Süße?«

Ich mag es nicht, wenn sie mich Süße nennt. Und natürlich habe ich Stress auf der Arbeit, das ist doch immer so. Manchmal hasse ich es, echt. Ich will in meinem Bett liegen und Musik hören. Oder durch die Gegend laufen und Fotos machen, was weiß ich. Ich schüttele den Kopf. »Nee. Heimfahren. Weißt du doch, ist immer ätzend.«

Sie nickt. Ich habe ihr viel von Gummadingen erzählt. Dorthin begleitet hat sie mich nie. Das wäre für niemanden witzig. Ich komme ja schon zu ihr mit, das reicht.

»Und deinen neuen Neffen kennenlernen«, sagt sie.

Ich nicke zurück. Ja, das auch noch.

»Wird Harald auch da sein?«

Harald, mein bester Freund, der über zwanzig Jahre älter ist als ich, kommt auch aus Gummadingen. Als Teenager war er mit meiner Mutter zusammen. »Nee. Die bleiben hier, haben Besuch aus Berlin.« Muss ich wohl alleine klarkommen. Ich lächle schief. Ich werde bei meiner Schwester Bettina wohnen. Mit der ist es eigentlich wieder einigermaßen okay. Als ich mein Coming-out hatte, war sie nicht gerade hilfreich. Aber sie hat’s akzeptiert. Das heißt, wir reden einfach nicht mehr darüber. Chantal, meine Freundin dort, ist dieses Jahr in Israel, im Kibbuz arbeiten. O Mann. Egal. Max, der mein erster und einziger Freund war, wohnt jetzt in Stuttgart in einem besetzten Haus. Vielleicht besuche ich den ja mal. Auf die Bahnfahrt freue ich mich jedenfalls. Ich nehme On the Road mit. Mal sehen, ob das auf Englisch geht. Ich habe ja mein kleines Wörterbuch dabei, und dick ist es nicht.

Mona schiebt ihre Füße gegen meine, handgestrickte Socken, kräftige Waden. Wenn wir Fußkämpfe machen, habe ich keine Chance, aber es sieht nicht nach einem Fußkampftag aus. Wir greifen gleichzeitig nach ihrem Tabak auf dem Tisch, wollen uns gegenseitig den Vortritt lassen, versuchen ein kleines Lachen. Sie dreht sich eine, gibt mir dann den Tabak rüber. Wir rauchen und gucken uns in die Augen. Ich bin immer noch aufgeregt. Bevor ich runterfahre, bin ich immer aufgeregt, und wie ich Mona ansehe, gefällt sie mir: ein bisschen wütend, hellwach, mit lebendigen Falten in den Augenwinkeln und auf der Stirn. Ich drehe mir auch eine, sie gibt mir Feuer, zieht selbst und lehnt sich zurück.

»Ich wollte fragen … Okay, ich sag’s einfach, aber bitte nicht erschrecken. Ich wollte fragen, ob du mit mir zusammenziehen willst.«

Mir fällt die Klappe runter. Wie automatisch ziehe ich an meiner Zigarette, schaue Mona an, dann einmal im Raum rundherum, ein karger Raum, der immer noch darauf wartet, wirklich eingerichtet zu werden. Als wäre die Wohnung hier eine Übergangslösung. Klar. Mona ist eigentlich keine Einzelgängerin. Ich habe ja auch noch nie allein gewohnt, davon abgesehen.

»Mona, wie – wie kommst ’n jetzt da drauf?«

»Muss ja nicht hier sein. Ich finde sowieso, wir sollten uns etwas Neues suchen. Etwas, wo wir zusammen einziehen, uns einrichten …« Sie zuckt die Achseln.

Meine Zigarette glimmt. »Du weißt doch am besten, wie mies der Wohnungsmarkt ist. Und mit meinem unregelmäßigen Einkommen …«

»Hey, das ist schon der zweite Schritt«, unterbricht sie mich. »Die Frage ist doch erst einmal, ob wir es überhaupt versuchen. Und es muss ja auch nicht sofort sein. Ich wollte nur mal grundsätzlich mit dir darüber reden.«

»Okay.« Ich drücke die Zigarette aus und drehe mir gleich die nächste. »Warum ausgerechnet jetzt?«

Sie zieht die Stirn kraus. »Warum nicht?«

»Ich meine, weißt du noch, gleich nach unserer ersten Nacht hast du gemeint: Zieh bei mir ein. Ich hab nur gelacht, und du hast nie wieder gefragt. Also, warum jetzt?«

Weil sie mit ihrer Ex telefoniert hat, die glücklich verheiratet ist, sozusagen, denke ich. Weil sie was gemerkt hat. Sie hat doch was gemerkt, aber damit muss sie schon selbst rausrücken.

Ihre Stirnfalten werden noch tiefer. Sie schiebt das Kinn vor, und ich wünschte, sie würde die Stehlampe anmachen statt der gnadenlosen Deckenleuchte.

»Ich finde dieses Hin und Her einfach anstrengend. Und – ich würde es gern mal ausprobieren. Wir müssten unsere eigenen Wohnungen ja nicht unbedingt gleich aufgeben. Man könnte zum Beispiel erst mal für ein Jahr untervermieten.«

Ich schwinge meine Füße auf den Boden, ramme sie hinein. »Darf ich mal das kleine Licht anmachen?«

»Klar«, sagt sie. Und während ich die Stehlampe anknipse: »Genau das meine ich. Du benimmst dich hier immer noch wie Besuch. Ich – da wo ich bin, sollst du zu Hause sein, verstehst du?«

Ich mache das Deckenlicht aus. Das Problem ist: Ich wohne furchtbar gern in meiner WG. Also mit Sammy ist es gerade ein bisschen schwierig, aber davon abgesehen. Ich bin gern mit anderen zusammen. Aber mit meiner Freundin? Nur wir zwei, ganz allein? Geht man sich da nicht in kürzester Zeit auf die Nerven?

»Und bei dir, ich meine, seit diese Sammy bei euch wohnt …«, fährt sie fort. Dann macht sie eine Pause. Sie wartet, ob ich etwas sage, aber ich sage nichts, schaue nur auf den Boden. »Mel, die spielt sich da auf wie die Chefin, dabei seid ihr anderen doch schon länger da.«

»Sie haben mich überstimmt«, sage ich. Natürlich geht es um die Schlüsselgeschichte. Ich meine, Dörthe gibt Tobi auch keinen Schlüssel, das ist doch total logisch. Ich hab mich enthalten. Es gab keine, die dafür war, aber das interessiert Mona ja nicht. Mona hat ja nicht mal gefragt, ob ich will, dass sie einen Schlüssel hat. Sie ist da einfach von ausgegangen.

»Wie auch immer. Mel, ich weiß, vielleicht bist du noch zu jung …«

Das war mal wieder klar. Das Totschlagargument. »Ach Quatsch, das hat doch nichts mit dem Alter zu tun.«

»Sondern?«

Ich ziehe an meiner Zigarette, einmal, zweimal. »Ist eben vielleicht eher Typsache.«

»Du meinst, du bist nicht so der Typ zum Zusammenwohnen?« Ihre Worte triefen vor Ironie.

Ich zucke die Schultern. Bisher hat sich niemand beschwert. Harald war traurig, als ich ausgezogen bin, und in meiner WG wohnen alle gern mit mir zusammen. Aber nur so mit einer Person, also mit der Person, mit der man Sex hat? Überhaupt, der Sex: Dann liegt man ständig in einem Bett, ohne dass was geht. Ich meine, das soll doch was Besonderes sein.

»Weißt du, es könnte auch aufregend sein«, sagt Mona.

Ich denke an Sammy, wie sie die Augen aufgerissen hat, als ich oben ohne auf dem Bett saß, als sie reingeschaut hat. Und schnell wieder weg war, mit einem leisen »Entschuldigung«. Mitten in der Nacht ist sie dann los zum Flughafen. Ich habe sie gehört, aber ich bin nicht rausgegangen. Das ist jetzt schon fast eine Woche her. Was sie wohl gerade macht?

Bevor Mona auf meine Seite vom Sofa rutschen kann, drücke ich die Zigarette aus, stehe auf. »Ich glaube, ich muss noch mal raus.«

Sie rollt die Augen, verschränkt die Arme. »Mel, jetzt hau doch nicht schon wieder ab.«

Ich bin bereits auf dem Weg zur Garderobe, drehe mich aber noch einmal um. »Was heißt hier: schon wieder?«

Jetzt steht sie auch. »Na, das machst du einfach immer, wenn’s ernst wird.«

Wir sehen uns in die Augen, kampfbereit. »Und deshalb sind wir seit drei Jahren zusammen?«

Sie fährt sich über die kurzen Haare, rudert zurück. »Hey, so hab ich’s doch nicht gemeint. Aber – du tust immer so cool, und in Wirklichkeit traust du dich nur nicht. Du bist echt so ein Gewohnheitstier. Komm, lass uns zusammen spazieren gehen.«

Ich schüttele den Kopf, ziehe meine Stiefel an. Ich muss allein sein. Allein durch die Straßen laufen. »Sorry«, sage ich.

Alles Spielerische verschwindet aus ihrer Stimme. Ich weiß, dass ich zu schnell bin. Aber in mir dreht sich alles. Ich muss das erst mal selbst sortiert kriegen. Das kann man keinem Menschen zumuten. Sie legt eine Hand auf meinen Arm. »Hey, nicht jetzt. Nicht bevor wir uns eine Woche nicht sehen.«

Ich ignoriere sie, knöpfe meinen Mantel zu. Als ich fertig angezogen bin, umarme ich sie kurz. »Ich denk drüber nach, okay?«

»Wie lange?«, fragt sie über meine Schulter.

»Wenn ich zurückkomme, sage ich dir Bescheid. Reicht das?« Ich spüre ihren Atem im Nacken. Ich könnte sie jetzt küssen. Wir könnten es ohne Worte versuchen. Aber das wäre nicht fair.

»Rufst du mal an?« Sie lässt mich los. Öffnet die Wohnungstür. Es ist nicht so, dass Mona nicht ihren Stolz hätte, im Gegenteil.

»Klar ruf ich an«, sage ich und zögere. Ich will nicht durch diese Tür gehen. Ich drehe noch einmal um – ich habe meine Tasche auf dem Sofa vergessen.

Mona bleibt stehen, nur ihre Blicke folgen mir. »Wann?«

Ich hänge meine Tasche um; zum Glück habe ich nicht schon die Reisetasche mitgenommen. Ich hatte noch überlegt. »Übermorgen, okay?«

Ihre Stirnfalten sind kleine Canyons.

Als ich wieder an ihr vorbeigehe, nehme ich ihre Hand. »Morgen muss ich erst mal ankommen. Wir sind bei Mama und Jochen zum Essen eingeladen.«

Sie entzieht sich. Ihre Augen funkeln böse. »Schon klar.«

»Ich liebe dich«, sage ich zum Abschied. Sie antwortet nicht. Das ist doch total albern. Noch im Treppenhaus setze ich den Walkman auf: Bowie, »Ashes to Ashes«.

 

 

 

Sammy