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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Sarah Waters

Solange du lügst

Roman

 

 

Aus dem Englischen
von Stefanie Retterbush

K+S digital

Für Sally O-J

TEIL I

KAPITEL 1

Damals hieß ich Susan Trinder. Die Leute nannten mich Sue. Ich weiß, in welchem Jahr ich geboren wurde, aber lange Zeit wusste ich nicht, an welchem Tag, und so feierte ich meinen Geburtstag an Weihnachten. Ich glaube, ich bin eine Waise. Meine Mutter ist tot, das weiß ich. Aber ich habe sie nie gesehen, sie bedeutete mir nichts. Ich war Mrs. Sucksbys Kind, wenn ich überhaupt das Kind von irgendwem war. Und als Vater hatte ich Mr. Ibbs, der den Schlosserladen in der Lant Street im Viertel nahe der Themse unterhielt.

Soweit ich mich erinnere, ist dies das erste Mal, dass ich über die Welt und meinen Platz darin nachdenke.

Es gab da ein Mädchen namens Flora. Sie bezahlte Mrs. Sucksby einen Penny dafür, dass sie mich zum Betteln mit ins Theater nehmen durfte. Wegen meiner hellblonden Haare nahmen mich die Leute immer gerne mit zum Betteln. Und da Flora auch hellblondes Haar hatte, gab sie mich immer als ihre kleine Schwester aus. Das Theater, zu dem sie mich an jenem Abend, an den ich gerade denke, mitnahm, war das Surrey am Saint George’s Circus. Das Stück, das sie spielten, hieß Oliver Twist. Es war ganz schrecklich. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie abschüssig die Galerie war und wie tief es hinunterging zum Parkett. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie eine betrunkene Frau nach den Bändern meines Kleides griff, und an das aufflackernde Licht, das die Bühne gespenstisch erleuchtete, und an das Gebrüll der Schauspieler und das Kreischen der Menge. Eine der Figuren war mit einer roten Perücke und einem Schnauzbart ausstaffiert: Ich war mir ganz sicher, dass es in Wahrheit ein Affe war, den man in einen Mantel gesteckt hatte, solche Kapriolen schlug sie. Noch schlimmer war der knurrende Hund mit den leuchtend roten Augen, doch das Allerschlimmste war der Herr des Hundes – Bill Sykes, der Zuhälter. Als er die arme Nancy mit einem Knüppel schlug, sprangen alle Leute in unserer Reihe auf. Jemand warf einen Stiefel auf die Bühne. Eine Frau neben mir schrie: »O du Unmensch! Du Schuft! Sie ist wahrlich vierzigmal mehr wert als ein gemeiner Kerl wie du!«

Ich weiß nicht, ob es wegen der Leute war, die alle aufgesprungen waren – wodurch die Galerie zu schwanken schien –, oder wegen der kreischenden Frau oder wegen des Anblicks, den die arme Nancy bot, als sie so bleich und reglos zu Bill Sykes’ Füßen lag, aber eine entsetzliche Angst überkam mich. Ich dachte, man würde uns alle umbringen. Ich begann zu schreien und ließ mich auch von Flora nicht beruhigen. Und als die Frau, die sich so laut empört hatte, die Arme nach mir ausstreckte und mich anlächelte, da schrie ich noch lauter. Dann begann Flora zu weinen – sie war selbst erst zwölf oder dreizehn, denke ich. Sie brachte mich nach Hause, und Mrs. Sucksby gab ihr eine Ohrfeige.

»Was hast du dir nur dabei gedacht, sie zu so was mitzuschleppen?«, rief sie empört. »Du solltest mit ihr auf der Treppe sitzen. Ich verleihe meine Kinder nicht, wenn man sie mir in einem solchen Zustand zurückbringt – ganz blau im Gesicht vor lauter Schreien. Was fällt dir ein!?«

Sie nahm mich auf den Schoß, und ich fing erneut an zu weinen.

»Schon gut, mein Lämmchen«, gurrte sie. Flora stand wortlos vor ihr und zog eine Haarsträhne über die scharlachrote Wange. Mrs. Sucksby war ein Teufel, wenn sie in Rage geriet. Sie schaute Flora an und klopfte mit dem Fuß, der in einem Hausschuh steckte, auf den Teppich, während sie in ihrem Schaukelstuhl vor und zurück wippte – es war ein großer knarzender Schaukelstuhl aus Holz, in dem nie jemand anderer saß als sie – und mir mit ihrer schweren harten Hand den zitternden Rücken tätschelte.

»Ich kenne deine Tricks«, sagte sie dann leise. Sie kannte jedermanns Tricks. »Was hast du erbeutet? Ein paar Taschentücher – das ist alles? Ein paar Taschentücher und eine Handtasche?«

Flora zerrte an der Haarsträhne, steckte sie in den Mund und kaute darauf herum. »Eine Handtasche«, murmelte sie nach kurzem Zögern. »Und ein Fläschchen Parfum.«

»Zeig her!«, befahl Mrs. Sucksby und streckte die Hand aus.

Floras Gesicht verfinsterte sich. Doch sie fummelte an einem Riss an der Taille ihres Kleides herum und griff hinein, und man stelle sich meine Überraschung vor, als sich herausstellte, dass der Riss gar kein Riss war, sondern die Öffnung einer kleinen seidenen Tasche, die sie in das Kleid eingenäht hatte. Sie zog eine Tasche aus schwarzem Stoff hervor und eine Flasche mit einem Stöpsel an einer silbernen Kette. In der Tasche waren drei Pence und eine halbe Muskatnuss. Vielleicht hatte Flora sie von der betrunkenen Frau, die an meinem Kleid gezerrt hatte. Die Flasche roch nach Rosen, wenn man den Stöpsel abnahm.

Mrs. Sucksby schnupperte daran. »Ziemlich armseliges Diebesgut«, sagte sie, »meinst du nicht auch?«

Flora warf den Kopf zurück. »Ich hätte noch mehr gekriegt«, erklärte sie mit einem Seitenblick auf mich, »wenn sie nicht h’sterisch geworden wäre.«

Mrs. Sucksby beugte sich vor und gab ihr noch eine Ohrfeige.

»Hätte ich gewusst, was du vorhast«, sagte sie, »hättest du gar nichts gekriegt. Lass dir eines gesagt sein: Wenn du ein Kind zum Klauen willst, dann nimmst du eines meiner anderen. Sue nimmst du nicht mehr mit. Verstanden?«

Flora schmollte, nickte aber widerstrebend. Mrs. Sucksby fuhr fort: »Gut. Und jetzt verschwinde. Aber lass das Diebesgut hier, sonst erzähle ich deiner Mutter, dass du dich mit Männern einlässt.«

Dann brachte sie mich in ihr Bett. Zuerst rieb sie die Laken mit den Händen, um sie anzuwärmen, dann beugte sie sich herab und blies mir ihren Atem auf die Finger, um sie zu wärmen. Ich war das einzige von all ihren Kindern, für das sie dies tat. Und dann sagte sie: »Du hast doch jetzt keine Angst mehr, oder, Sue?«

Doch das hatte ich, und das sagte ich auch. Ich sagte, ich hätte Angst, der Zuhälter würde mich finden und mit seinem Stock schlagen. Sie sagte, sie habe schon von diesem Zuhälter gehört, er sei ein Aufschneider.

»Es war Bill Sykes, nicht wahr? Tja, der kommt aus Clerkenwell. Der gibt sich nicht mit unserer Nachbarschaft ab. Unsere Jungs sind zu hart für ihn.«

Ich rief: »Aber Mrs. Sucksby! Sie haben das arme Mädchen nicht gesehen, Nancy, und wie er sie niedergeschlagen und ermordet hat!«

»Ermordet?«, sagte sie da. »Nancy? Nein, die war vor einer Stunde noch hier. Sie hatte nur ein paar blaue Flecke im Gesicht. Sie trägt ihr lockiges Haar jetzt anders, man käme gar nicht auf den Gedanken, dass er je Hand an sie gelegt hat.«

Ich fragte: »Aber wird er sie nicht wieder schlagen?«

Da sagte sie mir, Nancy sei endlich zu Verstand gekommen und habe Bill Sykes endgültig verlassen. Sie habe einen netten Kerl aus Wapping kennengelernt, der ihr einen kleinen Laden eingerichtet habe, in dem sie nun Speckmäuse und Tabak verkaufe.

Sie hob das Haar aus meinem Nacken und breitete es auf dem Kissen aus. Mein Haar war damals wie gesagt sehr hell – obgleich es sich in ein gewöhnliches Braun verwandelte, als ich älter wurde –, und Mrs. Sucksby wusch es immer mit Essig und kämmte es, bis es glänzte. Nun strich sie es glatt, dann hob sie eine Strähne an die Lippen und drückte einen Kuss darauf. »Wenn diese Flora noch einmal versucht, dich zum Klauen mitzunehmen, dann sagst du es mir. Versprochen?«

Ich nickte.

»Braves Mädchen«, sagte sie. Dann ging sie. Sie nahm die Kerze mit hinaus, ließ die Tür aber halb offen. Die Gardine vor dem Fenster war aus Spitze und ließ das Licht der Straßenlaterne herein. Es war dort nie ganz dunkel und auch nie ganz still. Im Stock darüber gab es ein paar Zimmer, in denen hin und wieder junge Männer und Frauen abstiegen. Sie lachten und trampelten herum, ließen Münzen fallen und manchmal tanzten sie. Nebenan lag Mr. Ibbs’ Schwester, die bettlägerig war. Oft schreckte sie aus Alpträumen auf und kreischte. Und im ganzen Haus verteilt lagen – Kopf an Fuß in ihren Wiegen wie Sprotten in Kisten voller Salz – Mrs. Sucksbys Pfleglinge. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wachten sie auf und wimmerten oder weinten, jedes noch so leise Geräusch konnte sie wecken. Dann ging Mrs. Sucksby durch die Reihen und verabreichte ihnen ein Schlückchen Gin. Dazu benutzte sie einen kleinen Silberlöffel, und man konnte hören, wie er gegen das Glas der Flasche klirrte.

In jener Nacht jedoch müssen die Zimmer oben leer gewesen sein, und auch Mr. Ibbs’ Schwester blieb still, und vielleicht weil es so ruhig war, schliefen auch die Kleinen durch. An den Lärm gewöhnt, lag ich jedoch wach. Ich lag da und dachte wieder an den grausamen Bill Sykes und an Nancy, die tot zu seinen Füßen lag. Aus einem Haus in der Nähe hörte man einen Mann fluchen. Dann schlug eine Kirchenuhr die volle Stunde – das Läuten tönte eigenartig durch die windigen Gassen. Ich fragte mich, ob Floras Wange von der Ohrfeige wohl noch schmerzte. Ich fragte mich, wie nah Clerkenwell wohl war und wie schnell ein Mann mit einem Gehstock diesen Weg wohl zurücklegen könnte.

Ich hatte schon damals eine lebhafte Phantasie. Als ich in der Lant Street Schritte hörte, die vor dem Fenster anhielten, und als auf die Schritte das Winseln eines Hundes folgte, das Scharren von Pfoten, und als die Klinke unserer Ladentür vorsichtig heruntergedrückt wurde, da fuhr ich aus meinem Kissen auf und hätte beinahe laut aufgeschrien. Doch noch ehe ich schreien konnte, bellte der Hund, und dieses Bellen war so eigenartig, dass ich es gleich erkannte. Es war nicht das rotäugige Monster aus dem Theater – es war unser eigener Hund, Jack. Er konnte kämpfen wie ein Stier. Dann hörte man einen Pfiff. Nie im Leben klang Bill Sykes’ Pfeifen so nett. Das musste Mr. Ibbs sein. Er hatte für sich und Mrs. Sucksby eine heiße Fleischpastete zum Abendessen geholt.

»Alles in Ordnung?«, hörte ich ihn fragen. »Riechen Sie nur mal die Soße hier …«

Dann wurde seine Stimme zu einem Murmeln, und ich sank wieder in die Kissen. Ich muss damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Aber ich kann mich noch ganz genau daran erinnern. Ich weiß noch, wie ich dalag und das Klappern der Messer und Gabeln und Teller hörte, Mrs. Sucksbys Seufzen, das Knarzen ihres Schaukelstuhls, das Klopfen ihres Hausschuhs auf dem Boden. Und ich weiß noch, dass mir das erste Mal aufging, wie es zuging auf der Welt: dass es böse Menschen wie Bill Sykes gab und gute wie Mr. Ibbs und solche wie Nancy, die sich in diese oder jene Richtung wenden konnten. Ich dachte darüber nach, wie froh ich war, dass ich bereits auf jener Seite stand, auf die Nancy sich jetzt endlich geschlagen hatte – die gute Seite, die mit den Speckmäusen.

Erst viele Jahre später, als ich Oliver Twist ein zweites Mal sah, verstand ich, dass Nancy letzten Endes natürlich doch umgebracht worden war. Aus Flora war unterdessen eine ganz manierliche Trickdiebin geworden: Das Surrey hatte sie längst hinter sich gelassen – sie arbeitete inzwischen in den Theatern und großen Häusern des West End und tauchte in der Menge unter wie ein Fisch im Wasser. Mich hat sie jedoch nie wieder mitgenommen. Dazu hatte sie, wie alle anderen auch, viel zu viel Angst vor Mrs. Sucksby.

Irgendwann hat man sie dann doch erwischt, das arme Ding, die Hände hatte sie noch am Armband einer Dame, und sie wurde als Diebin verurteilt und deportiert.

Mehr oder weniger sind wir hier in der Lant Street alle Diebe. Aber wir gehören zu jener Art von Dieben, die lieber einer ausgefuchsten Gaunerei Vorschub leisten, als sie selbst zu begehen. Zwar war ich damals vollkommen verblüfft, als ich sah, wie Flora die Hand in einen Riss in ihrem Rock steckte und eine Handtasche und Parfum hervorholte, aber dermaßen gestaunt habe ich nie wieder, denn es musste schon ein sehr öder Tag sein, an dem niemand in Mr. Ibbs’ Laden kam und einen Beutel oder ein Päckchen aus dem Futter seines Mantel zog oder aus seinem Hut, dem Ärmel oder dem Strumpf.

»Alles in Ordnung, Mr. Ibbs?«, erkundigte sich derjenige dann.

»Alles in Ordnung, mein Junge«, erwiderte Mr. Ibbs immer. Er sprach ein wenig durch die Nase. »Was gibt’s Neues?«

»Nicht viel.«

»Hast du was für mich?«

Der Mann zwinkerte ihm zu. »Hab was, Mr. Ibbs, ganz heiß und ungewöhnlich …«

So in der Art ging das immer. Dann nickte Mr. Ibbs, zog das Rollo an der Ladentür herunter und drehte den Schlüssel im Schloss – denn er war ein vorsichtiger Mann und sah sich Diebesgut grundsätzlich nie in der Nähe eines Fensters an. Hinter seiner Ladentheke befand sich ein Vorhang aus grünem Boi, und dahinter war ein Durchgang, der geradewegs in unsere Küche führte. War der Dieb jemand, den er kannte, dann brachte Mr. Ibbs ihn mit an den Tisch. »Komm her, mein Junge«, sagte er dann immer. »Das mache ich nicht für jeden. Aber du gehörst ja beinahe schon zur Familie.« Und dann ließ er den Mann sein Zeug zwischen den Tassen und Krumen und Teelöffeln ausbreiten.

Manchmal war auch Mrs. Sucksby da und fütterte eines der Kleinen mit Brei. Wenn der Dieb sie sah, nahm er stets den Hut ab.

»Alles in Ordnung, Mrs. Sucksby?«

»Alles in Ordnung, mein Junge.«

»Alles in Ordnung, Sue? Du bist aber groß geworden!«

Für mich waren sie besser als Zauberer. Aus ihren Mänteln und Ärmeln tauchten Brieftaschen, seidene Taschentücher und Uhren auf oder auch Schmuck, Tafelsilber, Messingkerzenleuchter, Unterröcke, manchmal eine ganze Garderobe. »Das ist Qualitätsware, ungelogen«, versicherten sie stets, während sie alles ausbreiteten. Und dann rieb sich Mr. Ibbs erwartungsvoll die Hände. Doch sobald er sich ihr Diebesgut aufmerksam ansah, wurde sein Gesicht vor Enttäuschung lang und länger. Er war ein sehr gütig aussehender, sehr ehrlich wirkender Mann mit blassen Wangen, gepflegten Lippen und einem ordentlichen Schnurrbart. Sein Gesicht wirkte schließlich so enttäuscht, dass einem schier das Herz brechen wollte.

»Lappen«, sagte er dann, während er kopfschüttelnd einen Geldschein in den Händen drehte. »Ganz schwer in Umlauf zu bringen.« Oder: »Kerzenleuchter. Erst letzte Woche sind ein Dutzend davon reingekommen, Spitzenqualität aus einer Butze in Whitehall. Konnte rein gar nichts damit anfangen. Hätte sie nicht mal verschenken können.«

Dann stand er da und machte großes Aufhebens darum, einen Preis auszurechnen. Dabei sah er stets aus, als wage er es gar nicht, ihn zu nennen, aus Angst, sein Gegenüber zu beleidigen. Dann machte er ein Angebot, und der Dieb sah ihn entrüstet an.

»Mr. Ibbs«, pflegte er zu sagen, »das ist nicht mal genug, mich für die Mühe zu entlohnen, von London Bridge herzulaufen. Seien Sie redlich.«

Aber unterdessen war Mr. Ibbs immer schon zu seiner Kassette hinübergegangen und hatte begonnen, Shillings auf den Tisch zu zählen: einen, zwei, drei – An dieser Stelle hielt er dann vielleicht inne, die vierte Münze in der Hand. Der Dieb sah den Glanz des Silbers – Mr. Ibbs’ Münzen waren stets auf Hochglanz poliert –, und die Wirkung war die gleiche wie die eines Hasen auf einen Windhund.

»Können wir nicht fünf sagen, Mr. Ibbs?«

Mr. Ibbs hob sein ehrliches Gesicht und zuckte die Schultern.

»Das würde ich ja gerne, mein Junge. Nichts lieber als das. Und wenn du mir etwas Außergewöhnliches brächtest, würde mein Geld für sich sprechen. Das hier jedoch« – er wedelte mit der Hand über dem Stoß Seide oder den Scheinen oder dem glänzenden Messing – »das hier ist reiner Schund. Ich würde mich ja selbst betuppen. Ich würde Mrs. Sucksbys Kleinen das Essen aus dem Mund stehlen.«

Und dann reichte er dem Dieb seine Shillings, und der Dieb steckte sie ein, knöpfte die Jacke zu und hustete oder schniefte.

Und dann schien Mr. Ibbs es sich noch mal zu überlegen. Er ging wieder zu seiner Kassette hinüber und fragte: »Heute Morgen schon was gegessen, Junge?« Und der Dieb erwiderte stets: »Nicht einen Bissen.« Dann gab Mr. Ibbs ihm Sixpence und schärfte ihm ein, sie fürs Frühstück auszugeben und nicht für die Pferde, und dann nannte der Dieb Mr. Ibbs immer einen feinen Kerl – einen wirklich feinen Kerl.

An so einem Mann konnte Mr. Ibbs vielleicht zehn oder zwölf Shillings verdienen – obwohl er ehrlich und anständig erschien. Denn natürlich war das, was er über den Lappen oder die Kerzenleuchter gesagt hatte, nichts als Preisdrückerei, denn er kannte sein Geschäft. Wenn der Dieb dann gegangen war, fing er meinen Blick auf und zwinkerte mir zu. Dann rieb er sich wieder die Hände und wurde ganz geschäftig.

»Nun denn, Sue«, sagte er immer. »Was meinst du, würdest du dir einen Lappen nehmen und die Münzen auf Hochglanz polieren? Und dann könntest du dich – wenn Mrs. Sucksby dich nicht braucht, Liebes – dann könntest du dich an der Stickerei auf diesen Taschentüchern versuchen. Ganz behutsam, ganz vorsichtig, mit deiner kleinen Schere und vielleicht mit einer Nadel. Denn das hier ist Batist – siehst du, Liebes? – und der reißt ganz leicht, wenn man nicht aufpasst …«

Ich glaube, auf diese Weise habe ich das Alphabet gelernt: nicht indem ich Buchstaben niederschrieb, sondern indem ich sie auftrennte. Ich weiß, dass ich meinen eigenen Namen so gelernt habe – mit Hilfe der Taschentücher, die wir bekamen, auf denen Susan stand. Was das Lesen ansonsten anging, sparte man sich bei uns die Mühe. Mrs. Sucksby konnte leidlich lesen, wenn es sein musste. Mr. Ibbs konnte lesen und sogar schreiben. Was den Rest von uns anging, so blieb es eine vage Vorstellung – etwa so wie Hebräisch zu sprechen oder Purzelbäume zu schlagen: Man sah ein, dass es einen Nutzen hatte, wenn man Jude war oder Zirkusakrobat. Doch das war deren Geschäft – warum sollten wir uns damit abgeben?

Das dachte ich jedenfalls damals. Dank der Münzen, die durch meine Hände gingen, lernte ich die Zahlen. Echte Münzen behielten wir natürlich. Unechte glänzten immer zu sehr, und man musste sie mit schwarzer Schuhwichse und Schmierfett unansehnlich machen, bevor man sie in Umlauf bringen konnte. Auch das lernte ich. Seide und Leinen lassen sich so waschen und plätten, dass sie aussehen wie neu. Juwelen brachte ich mit ganz gewöhnlichem Essig zum Funkeln. Vom Tafelsilber aßen wir unser Abendessen – allerdings nur ein Mal, wegen der Wappen und Stempel. Wenn wir dann fertig waren, nahm Mr. Ibbs die Becher und Schüsseln und schmolz sie zu Barren ein. Das Gleiche machte er mit Gold und Zinn. Er riskierte nie etwas, deswegen war er auch so gut. Alles, was in unsere Küche gebracht wurde, sah, wenn es sie wieder verließ, ganz anders aus. Und obgleich es durch die Vordertür hereingekommen war – durch die Ladentür in der Lant Street –, verließ es das Haus stets auf einem anderen Weg, und zwar durch die Hintertür. Dort gab es keine Straße, sondern lediglich einen schmalen überdachten Durchgang und einen kleinen dunklen Innenhof. Man konnte in diesem Hof stehen und wähnte sich vor einem Rätsel, wie man dort herauskam. Doch es gab einen Pfad, man musste nur wissen, wo. Durch diesen Pfad gelangte man in eine Gasse und von dort in ein weiteres gewundenes dunkles Gässchen, das zu den Brückenpfeilern einer Eisenbahnlinie führte. Und von einem jener Brückenpfeiler – ich verrate nicht, von welchem, obwohl ich es weiß – geht ein noch dunkleres Gässchen ab, über das man ganz schnell und unauffällig zum Fluss gelangt. Wir kannten drei oder vier Männer, die dort Boote hatten. Ja, in der Tat lebten entlang des gesamten sich windenden Weges Freunde von uns – Mr. Ibbs’ Neffen, könnte man sagen, die für mich Cousins waren. Durch sie konnten wir von unserer Küche aus Diebesgut in alle Teile Londons schmuggeln. Wir konnten alles, ganz gleich was es war, mit einer Geschwindigkeit zu Geld machen, die jeden in Erstaunen versetzt hätte. Wir hätten mitten im August einen Eisblock verscherbeln können, noch ehe auch nur ein Viertel zu Wasser zerschmolzen war. Wir hätten mitten im Sommer Sonnenschein verscherbeln können – Mr. Ibbs hätte auch dafür einen Käufer gefunden.

Kurzum, es gab nicht viel, das in unser Haus gebracht und nicht postwendend wieder hinausbefördert wurde. Es gab tatsächlich nur eine einzige Sache, die hergekommen und hängengeblieben war – eine Sache, die irgendwie dem enormen Sog widerstanden hatte, den der Strom von Diebesgut erzeugte – eine Sache, die Mr. Ibbs und Mrs. Sucksby augenscheinlich nie mit einem Preis versehen hatten.

Und damit meine ich natürlich mich.

Das habe ich meiner Mutter zu verdanken. Sie war eines Nachts im Jahr 1844 in die Lant Street gekommen, und sie war »ziemlich beleibt, mein liebes Kind, wegen dir«, erzählte Mrs. Sucksby. Bis ich eines Besseren belehrt wurde, nahm ich an, sie meinte damit, meine Mutter habe mich vielleicht in einer Tasche unter ihrem Rock versteckt oder ins Futter ihres Mantels eingenäht hierhergebracht. Denn ich wusste, dass sie eine Diebin war. »Und was für eine Diebin!«, schwärmte Mrs. Sucksby immer. »So mutig! Und so hübsch!«

»War sie das, Mrs. Sucksby? Und auch so blond?«

»Blonder noch als du. Aber mit scharfen Gesichtszügen und gertenschlank. Wir haben sie oben untergebracht. Niemand wusste, dass sie hier war, niemand außer mir und Mr. Ibbs, denn sie wurde von der Polizei gesucht, so sagte sie, und hätte man sie gefasst, dann hätte sie am Strang gebaumelt. Was ihr Geschäft war? Sie sagte, bloß Trickdiebstahl. Ich glaube, es muss etwas Schlimmeres gewesen sein. Ich glaube, sie war zäh wie Leder, denn als sie dich bekam, ich schwör’s, da drang kein Laut über ihre Lippen – sie hat nicht ein einziges Mal aufgeschrien. Sie sah dich nur an und küsste dich auf deinen kleinen Kopf. Dann gab sie mir sechs Pfund für deinen Unterhalt – alles Sovereignmünzen, und alle echt. Sie sagte, sie hätte noch eine letzte Sache zu erledigen, mit der sie ihr Glück machen und ein Vermögen einstreichen wollte. Sie wollte zurückkommen und dich holen, wenn alles erledigt war …«

So erzählte Mrs. Sucksby die tragische Geschichte meiner Mutter, und jedes Mal wurde ihre Stimme, obwohl sie ganz ruhig anfing, irgendwann zittrig, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Denn sie hatte auf meine Mutter gewartet, und meine Mutter war nicht zurückgekommen. Stattdessen kamen schreckliche Nachrichten. Die Sache, mit der meine Mutter ein Vermögen hatte machen wollen, war schiefgelaufen. Ein Mann war bei dem Versuch, sein Silber zu retten, getötet worden. Das Messer meiner Mutter hatte ihn getötet, ihre Kumpanin hatte sie verpfiffen, und die Polizei hatte sie schließlich geschnappt. Einen Monat lang war sie im Gefängnis gewesen. Dann hatte man sie gehenkt.

Man hatte sie gehenkt, wie man Mörderinnen henkte – auf dem Dach vom Gefängnis in der Horsemonger Lane. Mrs. Sucksby hatte am Fenster jenes Zimmers, in dem ich geboren wurde, gestanden und meine Mutter fallen sehen.

Von dort hatte man einen hervorragenden Blick auf das Gefängnis – den besten Ausblick von ganz Südlondon, hieß es. An Hinrichtungstagen waren die Leute bereit, eine stattliche Summe für einen Platz an diesem Fenster hinzublättern. Und obgleich manche Mädchen kreischten, wenn die Falltür krachend nach unten klappte, tat ich das nie. Ich bin nicht ein einziges Mal erschaudert, ich habe nie auch nur mit der Wimper gezuckt.

»Das ist Susan Trinder«, flüsterte dann jemand. »Ihre Mutter ist als Mörderin gehenkt worden. Ist sie nicht tapfer?«

Ich hörte das gern. Wer hätte das nicht gern gehört? Tatsache ist aber – und es ist mir gleich, wer es jetzt erfährt – Tatsache ist, dass ich ganz und gar nicht tapfer war. Denn Tapferkeit setzt Mitgefühl voraus. Und wie konnte ich Mitgefühl haben mit jemandem, den ich gar nicht gekannt hatte? Ich bedauerte es zwar, dass meine Mutter gehenkt worden war, doch da sie nun einmal ein solches Ende genommen hatte, war ich froh, dass es wegen eines Schurkenstücks war, wie einen Geizhals wegen seines Tafelsilbers zu ermorden, und nicht wegen etwas so Hinterhältigem wie etwa ein kleines Kind zu erwürgen. Ich bedauerte es, dass sie mich zur Waise gemacht hatte, doch manche anderen Mädchen hatten Säuferinnen als Mütter oder Mütter, die verrückt waren – Mütter, die sie hassten und mit denen es einfach nicht auszuhalten war. Da war mir eine tote Mutter lieber!

Da war mir Mrs. Sucksby lieber. Die war um Längen besser. Man hatte sie dafür bezahlt, mich einen Monat zu behalten. Am Ende behielt sie mich siebzehn Jahre lang. Wenn das keine Liebe ist, was dann? Sie hätte mich ins Armenhaus abschieben, hätte mich schreiend in einer zugigen Wiege liegenlassen können. Stattdessen lag ich ihr so am Herzen, dass sie mich nicht mit zum Klauen gehen ließ, aus Angst, ein Polizist könnte mich aufgreifen. Sie ließ mich neben sich in ihrem eigenen Bett schlafen. Sie brachte mein Haar mit Essig zum Glänzen. So behandelt man nur Juwelen.

Aber ich war kein Juwel, nicht einmal eine Perle. Mein Haar entpuppte sich als recht gewöhnlich. Mein Gesicht war nichts Besonderes. Ich konnte ein einfaches Schloss knacken, ich konnte einen einfachen Schlüssel zurechtfeilen. Ich konnte eine Münze springen lassen und anhand des Klangs bestimmen, ob sie echt war oder nicht. Doch das kann jeder, wenn man es ihm beibringt. Um mich herum kamen kleine Kinder und blieben eine Weile, dann wurden sie von ihren Müttern wieder abgeholt oder bekamen neue Mütter oder starben. Natürlich tauchte niemand auf, um mich abzuholen; ich starb nicht, sondern wuchs heran, bis ich schließlich alt genug war, selbst mit der Ginflasche und dem Silberlöffel zwischen den Wiegen umherzugehen. Manchmal ertappte ich Mr. Ibbs dabei, wie er mich mit einem gewissen Leuchten in den Augen ansah – als ob er sich fragte, weshalb ich so lange geblieben war und wem er mich wohl andrehen könnte. Doch wenn die Leute darüber redeten – was sie hin und wieder taten –, dass Blut dicker sei als Wasser, dann verfinsterte sich Mrs. Sucksbys Gesicht.

»Komm her, mein liebes Kind«, sagte sie dann. »Lass dich ansehen.« Und sie strich mir über den Kopf und streichelte mit den Daumen meine Wangen und betrachtete grübelnd mein Gesicht. »Ich sehe deine Mutter in dir«, sagte sie stets. »Sie sieht mich an, wie sie mich in jener Nacht angesehen hat. Sie dachte, sie kommt zurück und euer Glück ist gemacht. Wie hätte sie das ahnen sollen? Armes Mädchen, sie kommt nie mehr zurück! Und dein Glück muss erst noch gemacht werden. Dein Glück, Sue, und das unsere gleich mit …«

Das sagte sie sehr oft. Jedes Mal, wenn sie murrte oder seufzte – jedes Mal, wenn sie sich vor einer Wiege aufrichtete und sich den schmerzenden Rücken rieb –, suchten ihre Augen nach mir, und wenn sie mich fanden, dann wurde ihr Blick klar, und sie war zufrieden.

Da ist ja Sue, schien ihr Blick zu sagen. Es sind schwere Zeiten. Doch da ist Sue. Sie wird’s schon richten …

Ich ließ sie in dem Glauben, dachte aber, ich wüsste es besser. Ich hatte einmal gehört, sie selbst habe vor vielen Jahren eine Tochter gehabt, die tot geboren worden war. Ich dachte, es sei ihr Gesicht, das sie zu sehen glaubte, wenn sie so angestrengt in meines schaute. Diese Vorstellung ließ mich erschaudern, denn es war ein seltsamer Gedanke, nicht um meiner selbst willen geliebt zu werden, sondern wegen jemandem, den ich gar nicht kannte …

Damals dachte ich, ich wüsste alles über die Liebe. Ich dachte, ich wüsste alles über alles. Hätte man mich gefragt, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, so hätte ich wohl gesagt, ich wolle Kinder in Pflege nehmen. Ich hätte gerne einen Dieb geheiratet oder einen Hehler. Als ich fünfzehn war, gab es einen Jungen, der eine Spange für mich gestohlen hatte und sagte, dafür wolle er einen Kuss von mir. Ein Jahr später gab es einen anderen, der immer draußen vor unserer Tür stand und ein Liedchen namens »The Locksmith’s Daughter« – »Die Schlosserstochter« – pfiff, nur um zu sehen, wie ich errötete. Mrs. Sucksby verscheuchte sie beide. In dieser Hinsicht gab sie ebenso gut acht auf mich wie in jeder anderen.

»Für wen hebt sie dich denn auf?«, fragten die Jungs immer. »Prinz Eddie?«

Ich glaube, die Leute, die in die Lant Street kamen, dachten, ich sei ein wenig langsam. Langsam im Gegensatz zu fix. Gemessen an den anderen in unserem Viertel war ich das vielleicht auch. Ich fand jedoch, ich sei schlau genug. Man konnte nicht in einem Haus aufwachsen, in dem solche Geschäfte getätigt wurden, ohne eine ziemlich genaue Vorstellung davon zu bekommen, wie der Hase lief.

Können Sie mir folgen?

Sie warten darauf, dass meine Geschichte beginnt. Vielleicht wartete ich damals auch darauf. Aber meine Geschichte hatte schon begonnen – ich wusste es bloß noch nicht. Da ging es mir wie Ihnen.

Richtig begann die Geschichte hier erst, dachte ich.

In einer Winternacht, ein paar Wochen nach jenem Weihnachten, an dem ich meinen siebzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Eine dunkle Nacht – eine raue Nacht, voller Nebel, der mehr oder minder Regen war, und Regen, der mehr oder minder Schnee war. Dunkle Nächte sind gut für Diebe und Hehler, dunkle Winternächte sind die allerbesten, denn dann bleiben die gewöhnlichen Leute zu Hause, und die feinen Pinkel hocken auf ihren Landsitzen, und die vornehmen Häuser in London sind leer und verriegelt und betteln nur so darum, aufgebrochen zu werden. In solchen Nächten bekamen wir jede Menge Kram, und Mr. Ibbs machte mehr Gewinn denn je. Die Kälte treibt die Diebe dazu, schnell handelseinig zu werden.

In der Lant Street spürten wir die Kälte nicht allzu sehr, denn neben dem üblichen Feuer in der Küche brannte auch noch Mr. Ibbs’ Schmiedeherd. Er unterhielt immer eine Flamme unter den Kohlen, denn man wusste ja nie, was der Abend noch bringen würde, das dann zurechtgeschmiedet oder eingeschmolzen werden musste. An diesem Abend waren drei oder vier Jungs zugange, goldene Sovereigns einzuschmelzen. Daneben saßen Mrs. Sucksby in ihrem riesigen Stuhl, neben ihr ein paar Säuglinge in ihren Wiegen, und ein Junge und ein Mädchen, die damals bei uns wohnten – John Vroom und Dainty Warren.

John war so um die vierzehn, ein dünner, dunkelhaariger Junge mit Hang zum Messerstecher. Er aß ständig. Ich vermute, er hatte Würmer. In jener Nacht knackte er Erdnüsse und ließ die Schalen achtlos auf den Boden fallen.

Mrs. Sucksby sah das. »Benimm dich«, wies sie ihn zurecht. »Du machst eine Riesensauerei, und Sue muss nachher alles wieder saubermachen.«

Worauf John nur spottete: »Arme Sue, mir blutet das Herz.«

Er mochte mich nicht. Ich glaube, er war eifersüchtig. Er war wie ich als Säugling in unser Haus gekommen, und wie meine Mutter war auch seine gestorben und hatte ihn als Waise zurückgelassen. Doch er sah schon als Kind so sonderbar aus, dass niemand ihn Mrs. Sucksby abnehmen wollte. Sie hatte ihn behalten, bis er vier oder fünf war und ihn dann der Gemeinde übergeben – doch selbst damals war er schon ein Satansbraten, den man einfach nicht mehr loswurde. Dauernd büxte er aus dem Armenhaus aus, und ständig öffneten wir die Ladentür und fanden ihn schlafend auf der Schwelle. Schließlich brachte Mrs. Sucksby einen Handelskapitän dazu, ihn mitzunehmen, und so segelte er bis nach China. Als er zurückkam, protzte er mit Taschen voller Geld. Das Geld hielt einen Monat. Anschließend machte er sich in der Lant Street nützlich, indem er kleine Dienste für Mr. Ibbs erledigte. Nebenher verfolgte er seine eigenen schäbigen kleinen Gaunereien, bei denen Dainty ihm zur Hand ging.

Dainty war ein großes rothaariges Mädchen von dreiundzwanzig Jahren und mehr oder minder ein Einfaltspinsel. Sie hatte allerdings recht geschickte blasse Hände und konnte nähen wie niemand sonst. John ließ sie damals gestohlene Hunde in Hundefelle einnähen, damit es aussah, als seien sie eine edlere Rasse als sie in Wirklichkeit waren.

Er hatte eine Abmachung mit einem Hundedieb. Dieser Mann besaß ein paar Hündinnen. Wenn diese Hündinnen heiß waren, dann ging er mit ihnen die Straßen entlang und lockte die Rüden von ihren Besitzern fort. Anschließend verlangte er von ihnen ein Lösegeld von zehn Pfund, sonst brachte er sie nicht zurück. Das ging am besten mit Rennhunden und Hunden von gefühlsduseligen Frauchen. Manche Besitzer jedoch zahlten einfach nicht – man konnte ihrem Hündchen das Schwänzchen abschneiden und ihnen zuschicken und sie zahlten dennoch keinen Heller, so herzlos waren sie –, und diese Hunde, die Johns Kumpel nicht wieder los wurde, die erdrosselte er und verkaufte sie ihm zu einem Schleuderpreis. Ich weiß nicht, was John mit dem Fleisch gemacht hat – vielleicht hat er es als Kaninchen deklariert und verkauft oder selbst gegessen. Die Felle jedoch ließ er von Dainty auf einfache Straßenköter nähen, die er dann auf dem Markt in Whitechapel als Rassehunde verkaufte. Die Fellreste, die nachher übrig waren, nähte sie zusammen, um ihm daraus einen Mantel zu schneidern. An jenem Abend arbeitete sie daran. Den Kragen, die Schulterpartie und die Hälfte der Ärmel hatte sie bereits fertig, und schon jetzt waren vierzig verschiedene Hunde hineingearbeitet worden. Der Geruch, der vor dem Feuer davon aufstieg, war überwältigend und trieb unseren eigenen Hund – nicht den alten Kämpfer Jack, sondern ein anderer brauner Hund, den wir Charley Wag nannten, nach dem Dieb in der Geschichte – in eine wahrlich fieberhafte Erregung. Hin und wieder hielt Dainty den Mantel hoch, damit wir alle ihn bewundern konnten.

»Was ein Glück für Dainty, dass du nicht größer bist, John«, sagte ich einmal, als sie den Mantel hochhielt.

»Ein Glück für dich, dass du nicht tot bist«, gab er zurück. Er war klein gewachsen, und das ließ man ihn ständig spüren. »Obwohl es schade ist für uns andere. Ich hätte gern ein Stück von deiner Haut auf dem Ärmel meines Mantels – vielleicht an den Aufschlägen, wo ich mir die Nase abwische. Da würdest du gut hinpassen, neben eine Bulldogge oder einen Boxer.«

Er nahm sein Messer, das er stets griffbereit hielt, und prüfte die Klinge mit dem Daumen. »Ich weiß nicht«, sagte er, »ob ich nicht vielleicht eines Nachts zu dir reinschleiche und dir ein Stück Haut rausschneide, während du schläfst. Was würdest du sagen, Dainty, wenn ich dir das zum Einnähen gäbe?«

Dainty schlug die Hand vor den Mund und schrie auf. Sie trug einen Ring, der ihr zu groß war. Sie hatte ein Stückchen Faden um den Finger unter dem Ring gewickelt, und der Faden war ganz schwarz.

»Du Witzbold!«, rief sie.

John grinste und klopfte mit dem Messer gegen seinen abgebrochenen Zahn.

Mrs. Sucksby schimpfte: »Ich will nichts mehr von dir hören oder ich schlag dir deinen verdammten Kopf ab. Ich werde nicht zulassen, dass du Sue Angst einjagst.«

Ich erwiderte prompt, wenn ein Wickelkind wie John mir Angst einjagen würde, dann würde ich mir die Kehle durchschneiden. John sagte, das wolle er gerne für mich tun. Da beugte sich Mrs. Sucksby in ihrem Schaukelstuhl vor und schlug ihn – so wie sie sich damals vor all den Jahren vorgebeugt und die arme Flora geschlagen hatte. Und all die anderen in den Jahren dazwischen – alles meinetwegen.

Einen Moment lang sah es aus, als wolle John zurückschlagen. Dann blickte er mich an, als wolle er auf mich einschlagen. Doch dann rutschte Dainty auf ihrem Stuhl herum, und er drehte sich um und schlug stattdessen sie.

»Keine Ahnung«, zeterte er, »warum immer alle auf mir rumhacken.«

Dainty hatte angefangen zu weinen. Sie griff nach seinem Ärmel. »Mach dir nichts aus ihren bösen Worten, Johnny«, schniefte sie. »Ich häng an dir, ganz bestimmt!«

»Du hängst an mir«, antwortete er, »wie Scheiße am Schuh.« Er schob ihre Hand weg, und sie saß auf ihrem Stuhl und wiegte sich vor und zurück, über den Hundefellmantel gebeugt, und wimmerte in ihre Näharbeit.

»Ist ja gut, Dainty«, tröstete Mrs. Sucksby sie. »Du verdirbst noch deine schöne Arbeit.«

Dainty weinte weiter. Dann verbrannte sich einer der Jungs den Finger am heißen Schmiedeherd und fluchte lautstark, und da schrie sie vor Lachen. John steckte sich noch eine Erdnuss in den Mund und spuckte die Schalen auf den Boden.

Dann saßen wir vielleicht eine Viertelstunde lang schweigend da. Charley Wag lag vor dem Feuer und zuckte, er jagte im Traum Droschken – sein Schwanz hatte einen Knick, dort, wo ihn mal ein Wagenrad erwischt hatte. Ich nahm die Karten heraus und begann Patiencen zu legen. Dainty nähte. Mrs. Sucksby döste. John saß müßig da, warf aber hin und wieder einen Blick auf die Karten, die ich austeilte, und wollte mir sagen, wo ich sie hinzulegen hatte.

»Schmerzbube auf die Pikschlampe«, sagte er etwa. Oder: »Himmel, bist du aber langsam.«

»Bist du aber abscheulich«, erwiderte ich dann und fuhr ungerührt fort mit meinem Spiel. Die Karten waren uralt und so weich wie Lumpen. Einmal war ein Mann wegen Falschspiels mit diesen Karten umgebracht worden. Ich teilte sie ein letztes Mal aus und drehte meinen Stuhl ein wenig, so dass John nicht sehen konnte, wie die Karten lagen.

Und dann schreckte unvermittelt eines der Kleinen aus seinem Schlummer auf und fing an zu weinen, und Charley Wag wachte auf und bellte. Ein Windstoß fuhr ins Feuer und ließ es im Kamin hoch auflodern, und der Regen prasselte noch heftiger auf die Kohlen, so heftig, dass sie zischten.

Mrs. Sucksby öffnete die Augen. »Was ist denn das?«

»Was ist was?«, fragte John.

Dann hörten wir es: ein dumpfes Geräusch in dem Durchgang, der hinten zum Haus führte. Dann wieder. Dann wurden daraus Schritte. Vor der Küchentür hielten die Schritte an – ein Augenblick Stille, auf den ein schweres, dröhnendes Klopfen folgte.

Bumm – bumm – bumm. Ein Klopfen, das klang wie das Klopfen in einem Theaterstück, wenn der Geist eines Toten zurückkehrt und an die Tür pocht. Jedenfalls war es kein Dieb, der da klopfte, denn das Klopfen eines Diebes ist kurz und sachte. Man wusste, um welche Art Angelegenheit es ging, wenn man so ein Klopfen hörte. Bei dieser Angelegenheit jedoch hätte es sich um alles handeln können, einfach alles. Diese Angelegenheit mochte eine üble Sache sein.

Das dachten wir alle. Wir sahen einander an, und Mrs. Sucksby griff nach dem Kind in der Wiege, hob es heraus und erstickte sein Schreien an ihrer Brust. John schnappte sich Charley Wag und hielt ihm die Schnauze zu. Die Jungen am Schmiedeherd waren mit einem Mal mucksmäuschenstill. Mr. Ibbs sagte leise: »Erwartet ihr jemanden? Jungs, räumt die Sachen weg. Egal, ob ihr euch die Finger verbrennt. Wenn’s die Blauen sind, dann sind wir geliefert.«

Sie fingen an, die Sovereigns und das Gold, zu dem sie die Münzen eingeschmolzen hatten, zusammenzuraffen. Sie wickelten alles in Taschentücher und steckten die Taschentücher unter die Mütze oder in die Hosentasche. Einer von ihnen – es war Phil, Mr. Ibbs’ ältester Neffe – ging rasch zur Tür und stellte sich daneben, den Rücken gegen die Wand gepresst, die Hand in der Manteltasche. Er war zwei Mal im Gefängnis gewesen und hatte geschworen, sich kein drittes Mal einlochen zu lassen.

Wieder klopfte es. Mr. Ibbs fragte: »Alles sauber? Also dann, ganz ruhig, Jungs, ganz ruhig. Sue, Liebes, würdest du die Tür aufmachen?«

Ich sah zu Mrs. Sucksby hinüber, und als sie nickte, ging ich hin und zog den Riegel zurück. Die Tür wurde so heftig aufgestoßen, dass sie mich zurückschleuderte und Phil schon dachte, jemand habe sie mit der Schulter aufgestemmt. Ich sah, wie er sein Messer zückte. Doch es war nur der Wind gewesen, der die Tür so heftig aufgestoßen hatte. Er fuhr in die Küche, blies die Hälfte der Kerzen aus, ließ den Schmiedeherd Funken sprühen und wirbelte meine Spielkarten durch die Luft. In der Tür stand ein Mann, dunkel gekleidet, bis auf die Knochen durchnässt, zu seinen Füßen eine Ledertasche. Im spärlichen Licht konnte man seine blassen Wangen ausmachen und seinen Schnurrbart, doch seine Augen lagen unter dem Schatten seines Hutes verborgen. Ich hätte ihn wohl nicht erkannt, hätte er nichts gesagt.

»Sue! Bist du das, Sue? Gott sei Dank! Ich bin die vierzig Meilen hierhergekommen, nur um dich zu sehen. Willst du mich jetzt hier stehenlassen? Die Kälte bringt mich noch um!«

Da erkannte ich ihn, obwohl ich ihn über ein Jahr lang nicht gesehen hatte. Nicht ein Mann unter hundert, der in die Lant Street kam, sprach wie er. Er hieß Richard Rivers oder Dick Rivers oder manchmal auch Richard Wells. Wir hatten allerdings einen anderen Namen für ihn, und diesen Namen sagte ich jetzt, als Mrs. Sucksby rief: »Wer ist es denn?«

»Es ist Gentleman«, antwortete ich.

Wir sagten es nicht so, wie ein wirklicher Gentleman es sagen würde, sondern als wäre das Wort ein Fisch und wir hätten ihn filetiert: Ge’man.

»Es ist Gentleman«, wiederholte ich, und Phil steckte sofort sein Messer weg, spuckte aus und ging zurück an den Schmiedeherd. Mrs. Sucksby hingegen wandte sich in ihrem Stuhl um, und das kleine Kind drehte sein knallrotes Gesichtchen fort und öffnete den Mund.

»Gentleman!«, rief sie. Das Kind begann zu greinen, und Charley Wag, den John losgelassen hatte, lief bellend auf Gentleman zu und sprang an seinem Mantel hoch. »Wie hast du uns erschreckt! Dainty, zünde die Kerzen wieder an. Setzt Wasser auf für eine Kanne Tee.«

»Wir dachten schon, es wären die Blauen«, erklärte ich, als Gentleman in die Küche trat.

»Ich glaube, ich bin auch schon ganz blau vor Kälte«, erwiderte er. Er stellte seine Tasche hin, nahm seinen triefenden Hut ab und zog die durchweichten Handschuhe aus und dann den tropfnassen Mantel, der gleich zu dampfen begann. Er rieb sich die Hände, dann fuhr er sich über den Kopf. Haar und Schnurrbart trug er recht lang, und nass, wie sie waren, wirkten sie länger denn je und sehr dunkel und glatt. An seinen Fingern hatte er etliche Ringe, und er trug eine Uhr mit einem Edelstein an einer Kette an der Weste. Ich wusste auf den ersten Blick, dass die Ringe und die Uhr falsch waren und der Stein unecht, doch es waren verdammt gute Fälschungen.

Es wurde heller im Zimmer, jetzt, da Dainty sich um die Kerzen kümmerte. Gentleman sah sich um, rieb sich wieder die Hände und nickte dazu.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Ibbs?«, rief er leichthin. »Wie geht’s, Jungs?«

Mr. Ibbs erwiderte: »Sehr gut, mein Freund.« Die Jungs gaben keine Antwort. Phil sagte zu niemandem im Speziellen: »Kommt durch die Hintertür rein, was?«, und die anderen Jungs lachten. Solche Jungs halten Männer wie Gentleman immer für warme Brüder.

John lachte ebenfalls, noch lauter als die anderen.

Gentleman schaute ihn an. »Hallo, du kleine Zecke«, sagte er. »Hast du deinen Affen verloren?«

John hatte so hohle Wangen, dass alle ihn immer für einen Italiener hielten. Er legte einen Finger an die Nase. »Du kannst mich mal am Arsch lecken«, sagte er.

»Kann ich das?«, erwiderte Gentleman lächelnd. Er zwinkerte Dainty zu, die den Kopf einzog. »Hallo, Schönheit«, sagte er. Dann beugte er sich zu Charley Wag hinunter und zog ihn an den Ohren. »Hallo, Wagster, mein Junge. Wo ist die Polizei? Na? Wo ist die Polizei? Fass!« Charley Wag wurde ganz toll. »Guter Junge«, lobte Gentleman und bürstete ein paar Haare fort. »Guter Junge. Genug jetzt.«

Dann ging er hinüber zu Mrs. Sucksbys Schaukelstuhl.

»Hallo, Mrs. S«, begrüßte er sie.

Das Kind hatte inzwischen eine Dosis Gin bekommen und sich müde gegreint. Mrs. Sucksby reichte ihm die Hand. Gentleman ergriff und küsste sie – zunächst auf die Knöchel, dann auf die Fingerspitzen.

Mrs. Sucksby sagte: »Steh auf, John, und lass Gentleman auf deinem Stuhl sitzen.«

John schaute einen Moment lang finster drein, dann stand er auf und setzte sich auf Daintys Stuhl. Gentleman nahm Platz und streckte die langen Beine vor dem Feuer aus. Er war sieben- oder achtundzwanzig und ziemlich groß. Neben ihm sah John aus wie ein Dreikäsehoch.

Mrs. Sucksby ließ ihn nicht aus den Augen, während er gähnte und sich das Gesicht rieb. Dann trafen sich ihre Blicke, und er lächelte.

»Nun«, sagte er. »Wie läuft das Geschäft?«

»Kann nicht klagen«, antwortete sie. Das Kind lag ganz still da, und sie tätschelte es, wie sie mich immer getätschelt hatte. Gentleman wies mit dem Kopf darauf.

»Und dieser kleine Wurm«, sagte er. »Pflegling oder Familie?«

»Pflegling natürlich«, erwiderte sie.

»Und ist das Würmchen ein Junge oder ein Mädchen?«

»Ein Junge, Gott sei Dank! Noch ein armes mutterloses Würmchen, das ich mit der Hand großkriegen muss.«

Gentleman lehnte sich zur ihr hinüber.

»Da hast du aber Glück, kleiner Kerl!«, sagte er und zwinkerte verschmitzt.

Mrs. Sucksby rief: »Oh!«, und ihre Wangen färbten sich zartrosa. »Du Frechdachs!«

Warmer Bruder oder nicht, Gentleman wusste jedenfalls, wie man eine Dame zum Erröten brachte.

Wir nannten ihn Gentleman, weil er tatsächlich einer war – er hatte, so sagte er, wirklich eine Schule für vornehme junge Herren besucht, und er hatte einen Vater und eine Mutter und eine Schwester – alles stinkfeine Leute –, denen er beinahe das Herz gebrochen hatte. Er hatte einmal Geld gehabt, jedoch beim Glücksspiel alles verloren. Sein Vater hatte gesagt, vom Geld der Familie werde er keinen Penny mehr bekommen. Und so sah Gentleman sich gezwungen, auf die altmodische Art und Weise an Geld zu gelangen – durch Diebstahl und Schwindelei. Da er jedoch an diesem Leben einen solchen Gefallen fand, waren wir alle der Meinung, in seiner Familie müsse es vor langer Zeit einmal böses Blut gegeben haben, das nun in ihm zum Vorschein kam.

Wenn er sich Mühe gab, war er ein ganz passabler Maler, und in Paris hatte er schon ein wenig im Fälschergeschäft gearbeitet. Als das aufflog, verbrachte er ein Jahr damit, französische Bücher ins Englische zu übertragen oder englische ins Französische, wie auch immer, jedenfalls änderte er sie jedes Mal ein wenig ab und gab ihnen andere Titel, und so konnte er ein und dieselbe alte Geschichte als zwanzig brandneue verkaufen. Meistens jedoch arbeitete er als Hochstapler und als Falschspieler in den großen Kasinos, denn natürlich konnte er sich mühelos unter die feinen Herrschaften mischen und so ehrlich und anständig erscheinen wie alle anderen. Besonders die Damen waren ganz verrückt nach ihm. Drei Mal hätte er beinahe eine reiche Erbin geheiratet, doch jedes Mal war der betroffene Vater irgendwann misstrauisch geworden, und der Handel war geplatzt. Gentleman hatte viele Leute in den Ruin getrieben, indem er ihnen Wertpapiere von Banken, die es gar nicht gab, verkaufte. Er war ein ausnehmend hübscher Bursche, und auch Mrs. Sucksby war völlig vernarrt in ihn. Etwa einmal im Jahr kam er in die Lant Street, brachte Diebesgut für Mr. Ibbs mit, und wenn er wieder ging, hatte er Falschmünzen, ein paar Ermahnungen und gute Ratschläge im Gepäck.

Ich nahm an, auch diesmal habe er Diebesgut hergebracht, und das dachte anscheinend auch Mrs. Sucksby, denn als er sich erst einmal am Feuer aufgewärmt und Dainty ihm einen Tee mit einem Schuss Rum gebracht hatte, legte sie das schlafende Kind zurück in die Wiege, strich ihren Rock glatt und sagte:

»Also, Gentleman, es ist uns wie immer ein großes Vergnügen. Wir hatten dich allerdings nicht so bald hier erwartet, erst in ein oder zwei Monaten. Hast du etwas mitgebracht, das Mr. Ibbs gefallen könnte?«

Gentleman schüttelte den Kopf. »Diesmal habe ich nichts für Mr. Ibbs, bedauere.«

»Wie, gar nichts? Haben Sie das gehört, Mr. Ibbs?«

»Schade«, sagte Mr. Ibbs, der neben dem Schmiedeherd stand.

Mrs. Sucksby wurde vertraulich. »Dann hast du etwas für mich, ja?«

Doch wieder schüttelte Gentleman den Kopf.

»Auch nichts für Sie, Mrs. S«, erwiderte er. »Nichts für Sie, nichts für unseren Garibaldi hier« (womit John gemeint war), »nichts für Dainty, nichts für Phil und die Jungs, nicht mal was für Charley Wag.«

Während er das sagte, suchte er den gesamten Raum mit den Augen ab, und zu guter Letzt sah er mich an und schwieg. Ich hatte die verstreut herumliegenden Spielkarten eingesammelt und sortierte sie gerade nach Farben. Als ich bemerkte, wie er zu mir herüberschaute – und wie auch John und Dainty und Mrs. Sucksby, die noch immer hochrot im Gesicht war, mich ansahen –, legte ich die Karten aus der Hand. Gentleman beugte sich vor, nahm sie und begann sie zu mischen. Er war einer dieser Männer, deren Hände stets beschäftigt sein wollen.

»Nun, Sue«, sagte er, den Blick unverwandt auf mich geheftet. Seine Augen waren von einem sehr klaren Blau.

»Nun, was?«, gab ich zurück.

»Wegen dir bin ich hierhergekommen. Was sagst du dazu?«

»Wegen ihr!«, rief John angewidert.

Gentleman nickte. »Ich habe was für dich. Einen Antrag.«

»Einen Antrag!« Phil lachte. »Pass auf, Sue, er will dich heiraten!«

Dainty kreischte, und die Jungs kicherten. Gentleman blinzelte, dann wandte er seinen Blick endlich von mir ab und beugte sich zu Mrs. Sucksby hinüber.

»Schicken Sie doch unsere Freunde am Schmiedeherd nach draußen, wären Sie so nett? John und Dainty allerdings sollen hierbleiben. Ich werde ihre Hilfe brauchen.«

Mrs. Sucksby zögerte, dann warf sie Mr. Ibbs einen Blick zu, und Mr.