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FRAUEN IM SINN

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Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,
historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben

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Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit

Roman

K+S digital

Inhalt

Freitag, 14. November 2014, 17.12 Uhr

Freitag, 14. November 2014, 19.01 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 3.23 Uhr

Herbst 1972

Samstag, 15. November 2014, 8.02 Uhr

Weihnachten 1972

Samstag, 15. November 2014, 8.37 Uhr

Juni 1978

Samstag, 15. November 2014, 9.41 Uhr

November 1979

Samstag, 15. November 2014, 10.04 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 11.12 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 11.38 Uhr

Mai 1980

Samstag, 15. November 2014, 11.39 Uhr

April 1982

Samstag, 15. November 2014, 12.19 Uhr

Frühjahr 1982

Samstag, 15. November 2014, 12.48 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 13.07 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 14.05 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 14.40 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 14.41 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 15.05 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 15.33 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 17.51 Uhr

Samstag, 15. November 2014, 20.20 Uhr

Sonntag, 16. November 2014, 7.58 Uhr

Sonntag, 16. November 2014, 10.26 Uhr

Sonntag, 16. November 2014, 10.51 Uhr

Mittwoch, 26. November 2014

Danksagung

Die Autorin

Freitag, 14. November 2014, 17.12 Uhr

Er hielt die Augen fest geschlossen, biss die Zähne zusammen und spannte die Muskeln an, so fest er konnte. Als es endlich vorbei war, hörte er, wie die Jungs johlend davonliefen, wie ihre Rufe sich entfernten, leiser wurden und immer leiser. Er lag gekrümmt auf der Seite und atmete in den kalten Boden hinein, hielt sich noch immer die Arme schützend um den Kopf und stöhnte vor Schmerz. So eine Scheiße! Langsam öffnete er die Augen, das Blut rann von der Braue zur Nasenwurzel hin, vermischte sich dort mit seinen Tränen, lief weiter, tropfte ins novembermatte Gras. Am liebsten wollte er zusammen mit der Flüssigkeit in der Erde versickern. O Mann, Jacob, was bist du für ein Idiot, beschimpfte er sich selbst und lauschte. Als die anderen nicht mehr zu hören waren, rappelte er sich auf, hockte auf dem Boden und wischte sich mit dem Halstuch das Gesicht trocken. Er spürte in seinen Körper hinein. Die Unterlippe tat höllisch weh, wo eine Faust sie getroffen hatte, aber die Zähne waren noch fest. Die Platzwunde über dem Auge pulsierte. Wenigstens schienen die Knochen heil geblieben zu sein, obwohl – was hatte dieses Stechen in seiner linken Seite zu bedeuten? Vielleicht war doch eine Rippe gebrochen? Ein Wunder wäre das ja nicht, so wie sie auf ihn eingetreten hatten, als er schon am Boden lag. Er betrachtete das blutige Halstuch. Warum bloß, warum? Wollten sie ihn einschüchtern, weil er von den Pillen wusste, mit denen sie dealten? Hatten sie selbst welche eingeschmissen oder waren sie einfach scharf darauf, einen wie ihn zu verprügeln? Die blöde Schwuchtel. Den Schwanzlutscher.

Er schloss die Augen wieder, spürte die Schwere im Herzen, wollte nicht denken, wollte sich nicht erinnern, aber die Bilder kamen und setzten ihm zu.

Die letzten Schulstunden der Woche waren geschafft, die feuchte Luft roch nach Schweiß, Duschgel und Deo. Er hatte getrödelt, weil auch Philipp nach dem Sportunterricht immer lange brauchte, und nun waren nur noch sie beide im Umkleideraum. Jacob musterte Philipp verstohlen, die schmalen Hüften in den engen Jeans, den nackten Oberkörper, das Spiel seiner Muskeln, als er sich die streichholzkurzen Haare trocken rieb. Plötzlich drehte Philipp sich um, als spürte er, dass er beobachtet wurde. Jacob wandte sich ab, aber es war zu spät. Philipp hatte ihn ertappt und baute sich dicht vor ihm auf.

»Na, was ist, willst du mich ficken?«, fragte Philipp und sah ihn herausfordernd an.

Jacob sackten beinahe die Knie weg. Sprachlos stolperte er einen Schritt rückwärts.

Philipp grinste hämisch. »Ich kann das ja mal den anderen erzählen. Das wird sicher ein Spaß.«

Jacob schüttelte den Kopf. Er musste sofort etwas erwidern, irgendetwas, damit sich diese Idee nicht in Philipps Kopf ausbreitete. Und er musste cool bleiben dabei, durfte sich bloß nicht anmerken lassen, wie erschrocken er war.

»Was geht denn bei dir ab?«, brachte er mühsam hervor und merkte selbst, wie wenig überzeugend er klang. So ging das nicht, da musste er mächtig zulegen. »Du spinnst doch! Hast wohl selbst von den Dingern genascht, die du sonst auf dem Schulhof vertickst.« Er deutete auf Philipps Lederjacke. »Meinst du, ich weiß nicht, was da drin ist? Wie wär’s, wenn ich darüber mal rede.«

Ja, das war schon besser. Nun verging Philipp das Lachen, es gefror förmlich auf seinem Gesicht. Jacob sah es erleichtert, er hatte einen Treffer gelandet. Eigentlich wollte er nicht drohen, er wollte auch keinen Stress mit Philipp, ganz im Gegenteil. Aber dass Philipp ihn outete, konnte er auf keinen Fall riskieren. Betont lässig schwang er sich den Rucksack über die Schulter, stieß Philipp im Vorbeigehen an und verließ den Umkleideraum in der Hoffnung, dass die Sache damit erledigt war.

Aber dann erhielt er diese Nachricht, als er zu Hause über seinen Schularbeiten brütete. Komm um fünf zum Weiher, hatte Philipp geschrieben. Lass uns reden. Und: Eigentlich find ich dich ja auch ganz süß.

Er presste das Tuch gegen die aufgeplatzte Augenbraue, und die Scham breitete sich in ihm aus wie ein schleichendes Gift. Was hatte er sich denn eingebildet? Wie hatte er nur darauf hereinfallen können und glauben, was da stand? Hätte er bloß auf seine innere Stimme gehört, die Alarm geschlagen hatte, die voll auf Abwehr gegangen war. Schließlich passte die Nachricht nicht zu Philipp. Er war nicht schwul. Eigentlich war er nicht einmal nett. Er war ein fieser Macho mit einer großen Klappe. Ein Fußballspieler. Jacob hasste Fußball, und trotzdem ging er seit Monaten immer wieder zum Sportplatz, wenn die A-Jugend spielte. Das war doch alles völlig bescheuert. Er begriff ja selber nicht, warum er sich ausgerechnet in Philipp …

Er seufzte. Eigentlich find ich dich ja auch ganz süß. Eine üble Falle hatten sie ihm gestellt, und er war hineinspaziert wie in Trance. Welche Wahl hatte man denn, wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand? Da konnte die innere Stimme warnen, so viel sie wollte. Das Herz hörte eben schlecht, wenn es so wild vor sich hin pochte.

Ein Blick in den Spiegel. Gel ins Haar. In Windeseile mit dem Rennrad die Hauptstraße entlang und aus dem Dorf hinaus. Ein Auto hupte ausdauernd, als er quer über die Straße in den Wald abbog, ohne es vorher anzuzeigen. Gerade noch pünktlich kam er am Weiher an, stapfte über die unebene Wiese, die von Wildschweinen umgepflügt worden war. Philipp erwartete ihn schon, und sie waren so allein, wie Jacob es sich immer erträumt hatte. Die Lichtung lag im Dämmerlicht, aus dem Wasser stieg der Abendnebel in die nasskalte Luft. Jacob strahlte, aber Philipp lächelte nur, lächelte auf eine fremde Weise, hart und kalt. Das Misstrauen keimte auf und wurde Gewissheit. Hier stimmte etwas nicht.

»Glaubst du wirklich, du kannst mir drohen?« Philipp winkte mit dem Arm in Richtung der Büsche, und seine beiden Kumpel vom TSV Eschenreuth traten heraus. Die zwei wohnten nicht im Dorf, Jacob kannte sie nur vom Fußballplatz, Nummer sechs und Nummer acht, wenn er sich richtig erinnerte. Jetzt gesellten sie sich an die Seite ihres Torwarts, und Jacob begriff, was kommen würde, war schon besiegt, bevor sie begannen, auf ihn einzuprügeln.

Fuck! Er warf das Halstuch auf den Boden und befühlte die Braue; ein dickes Ei, aber wenigstens blutete die Wunde nicht mehr. Sein linkes Auge war zugeschwollen, mit dem rechten schaute er sich um. Inzwischen war es schon ziemlich dunkel. Er musste hier weg, bevor der Wald auch noch das letzte Licht des Tages schluckte.

Na los, steh auf, sagte er zu sich selbst. Das hier ist ein Kaff. Ein halbes Jahr noch, dann bist du achtzehn. Im nächsten Sommer hast du das Abi in der Tasche und kannst hier weg. In die Stadt, so wie Annette damals, als sie kaum älter war als er. Oder so wie Paps. Wenn Mama einverstanden gewesen wäre, dass sie alle bei Paps in Prag lebten, wäre das gar nicht passiert. Dann ginge er dort zur Schule und nicht auf dieses öde Gymnasium, in das er mit dem Schulbus gebracht wurde wie alle anderen aus dem Dorf. Auch Philipp. Wie sollte das denn werden in der nächsten Woche? Das ging doch nicht!

Er stand vorsichtig auf. Die linke Seite fühlte sich an, als stäche jemand im Sekundentakt mit einer Mistgabel gegen seinen Brustkorb. Er sah hinüber zu seinem Rad, das er am Wegesrand gegen eine Birke gelehnt hatte. Er würde sich nicht darauf halten können. Also zu Fuß den weiten Weg nach Hause. Wie viele Schritte waren denn zwei Kilometer? Viel zu viele mit diesem Schmerz.

Vielleicht sollte er Holger anrufen, überlegte Jacob. Auf Holger war doch Verlass, der alte Freund seiner Mutter würde ihn bestimmt mit dem Moped abholen. Auf einem Moped würde Jacob sich halten können, und Holger würde ihn nicht mit Fragen nerven und auch nicht im Dorf herumtratschen, was geschehen war. Vielleicht wäre es auch nicht schlecht, ihn in der Nähe zu haben, wenn die Mutter von ihrer letzten Kundin nach Hause kam, wenn sie ihn sah und die Wahrheit ans Licht musste.

Seine Mutter, oje. Wie sollte er ihr das beibringen? Das hatte er doch völlig anders geplant.

Er fasste in seine Jackentaschen. Das Portemonnaie war da und auch sein Schlüsselbund, aber wo war das Handy? Er fasste tiefer hinein und fand es nicht, prüfte die Innentasche – nichts. Das Blut schoss ihm heiß durch die Adern. War das Handy herausgefallen oder …?

Hektisch suchte er die umgewühlte Wiese ab, seine Finger ertasteten feuchte Blätter und verwittertes Holz, einen Kronkorken, einen Regenwurm, aber sein Handy nicht. Er suchte weiter und weiter, tastete, fluchte. Nahm das blutverschmierte Halstuch hoch, aber auch darunter kam das Handy nicht zum Vorschein. Er schleuderte das Tuch wieder weg.

O nein, nicht das Handy, dieses teure Teil mit dem schnellen Internet und dem großen Speicher! All seine Musik. All seine Bilder und Videos. DAS Video. Wenn sie ihm das Handy geklaut hatten, hätten sie ihn eigentlich auch gleich totschlagen können. Es war eingeschaltet, und sie würden nicht lange brauchen, um den Pin-Code zu erraten. Philipps Geburtsdatum. Keine sehr originelle Idee, aber wer hätte denn ahnen können, dass ausgerechnet Philipp mit seinen Freunden ihm das Ding wegschnappen würde. Vier Ziffern, dann konnten sie alles aufrufen. ALLES. Dabei hatte er das Video doch nur für seine Eltern aufgenommen. Eines Tages wollte er es ihnen schicken. Irgendwann, wenn er sich stark genug fühlte und seine Mutter in guter Verfassung war. Er konnte es ihr nicht ins Gesicht sagen. Nicht den ersten Moment erleben, wenn sie es erfuhr, von Angesicht zu Angesicht. Seine eigene Rede. Mama, Paps, ich will euch was sagen

Er versuchte, sich zu beruhigen. Vielleicht ahnten sie es ja längst. Und außerdem hatten sie nichts gegen Schwule. Immerhin war seine Mutter mit Annette befreundet, und das schon beinahe ihr ganzes Leben lang. Er hätte wenigstens Annette schon einweihen sollen, um eine Verbündete zu haben, wenn es darauf ankam. Aber gerade das hatte er eben nicht gewollt. Erst seine Eltern, danach alle anderen. So hatte er es sich gewünscht für die Zeit, in der er endlich den Mut fand. Denn Mut gehörte nun einmal dazu.

Mama, Paps, ich will euch was sagen … Die halbe Schule war in seinem Adressbuch, die Oma, der Opa, alle Leute, die er kannte. Wie sollte er es aushalten, zu Hause zu sitzen wie auf einer Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte? Das Tuscheln im Dorf. Das Gucken und Drucksen. Mamas Kundinnen, ihre Freundinnen, ihre Eltern. Das würde sie nicht durchstehen. Sie war ja schon ausgeflippt, als er sich das Nasenpiercing hatte stechen lassen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Dieser eisige Blick. Das lange quälende Schweigen. Und natürlich wieder Tabletten. Sie regte sich doch schon auf, wenn Paps in Jogginghosen zur Tankstelle ging, um die Zeitung zu holen. Das war ja zu gewöhnlich. Das gehörte sich nicht.

Er suchte weiter und immer weiter, aber das Handy war nicht da. Hilfe, schrie etwas in seinem Inneren, und er wollte fliehen vor dem, was sich da anbahnte, stolperte über die Lichtung zum Weg hinauf. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Einfach weg, irgendwohin, wo niemand ihn finden würde und wo es das Video nicht gab. War es denn nicht genug, dass sie ihn halbtot geschlagen hatten? Halbtot, jawohl, so fühlte er sich. Und eben deshalb käme er nicht weit. Allein zum nächsten Bahnhof waren es zwölf Kilometer, und am Freitagabend fuhr kein Bus mehr. Mamas Auto stand vor der Tür, aber wenn er unbegleitet damit fuhr und die Polizei ihn erwischte, gäbe es noch mehr Ärger. Wo sollte er bloß hin, bis die Beulen abgeschwollen und die Wunden verheilt sein würden? Bis er sicher sein konnte, dass keiner der Jungs das Video verschickte.

Götzls Hof. Aus dem Nichts kam ihm der Kuhstall des Bauern in den Sinn, der einen fantastischen Heuboden hatte. Wie oft war er dort gewesen, hatte Strohballen übereinander getürmt, um durch die Dachluke auf sein Zuhause auf der anderen Straßenseite hinunterzuschauen. Spiel nicht dort, hatte die Mutter ihn ermahnt, als er noch ein Kind gewesen war. Der Götzl ist ein Säufer. Glaubte sie denn, dass er immer tat, was sie sagte? In all den Jahren war der Kuhstall mit dem Heuboden darüber sein eigenes Reich gewesen. Unbemerkt vom Rest der Welt hatte er ein Volk aus Kühen, Mäusen und Ratten regiert, während niemand ihn vermisste. Manchmal hatte er seine Playmobil-Ritter ruhmreiche Taten vollbringen lassen. Die Figuren lagen sicher noch immer in dem alten Versteck. Die Playmobil-Ritter, zweite Generation. Heimlich hatte er sie auf dem Heuboden deponiert. Und heimlich musste er jetzt selbst dorthin gelangen.

Er zog sich die Kapuze auf den Kopf, als er aus dem Wald trat und an der Straße entlang zurück ins Dorf ging. Jeder Schritt tat weh, aber er musste sich beeilen. Falls er jetzt wenigstens ein bisschen Glück hatte und vor seiner Mutter zu Hause war, konnte er noch Proviant holen. Und vor allem das Notebook. Bestimmt reichte das WLAN bis hinüber zu Götzls Hof, und wenn nicht, konnte er den Stick nehmen, um ins Netz zu gehen und nachzuschauen, ob das Video irgendwo auftauchte. Bei der Vorstellung wurde ihm schwindelig. Shit! Hätte er Mama und Paps doch einfach alles gesagt. Er blieb stehen und seufzte. Einfach war ja Unsinn. Einfach war es eben nicht.

Gerade als er zu Hause ankam, begann es zu regnen. Er blickte auf und registrierte, dass keines der Fenster im Haus erleuchtet und seine Mutter weit und breit nicht zu sehen war. Erleichtert schloss er auf, schaltete das Licht im Flur ein, betrachtete sich selbst im Garderobenspiegel und erschrak. Das linke Auge sah krass aus, die Unterlippe verkrustet von geronnenem Blut. Der helle Wahnsinn, dachte er, Klitschkos Gegner nach dem K.o. Ging das von selber wieder weg oder musste er doch zum Arzt?

Mit einem Ruck löste er sich von seinem Spiegelbild, zog sich am Treppengeländer hoch und biss die Zähne zusammen, senkte den Blick und sah, dass aus dem Profil seiner Schuhe schwarze Klumpen auf die Fliesen rieselten, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er ging in sein Zimmer. Das Notebook lag auf dem Schreibtisch. Er nahm die Schulsachen aus dem Rucksack, um Platz zu schaffen. Jetzt war er froh, dass er immer das Kabel benutzte, wenn er zu Hause arbeitete. Der Akku musste vollständig geladen sein. Jacob verstaute das Notebook im Rucksack und stieg die Treppe vorsichtig wieder hinunter; bloß keine Erschütterungen. Im Kühlschrank fand er eine volle Flasche Wasser und den Rest der Quiche vom Mittagessen. Er packte beides ein, bog ins Wohnzimmer ab, nahm auch die Äpfel und Bananen aus der Kristallschale mit. Eine überreife Birne ließ er liegen.

Wieder im Flur, hielt er inne. Musste er nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen? Er betrachtete den Notizblock auf der Kommode in der Diele. Wie üblich lagen die beiden Kugelschreiber parallel zu seiner Kante bereit – der blaue für gewöhnliche Notizen, der rote für besonders dringliche Mitteilungen, deren Beachtung keinerlei Aufschub duldete. Er nahm den roten Stift in die Hand und dachte nach. Was sollte er denn schreiben? Hallo Mama, ich bin völlig ramponiert, ich muss mich verkriechen, es wird Aufregung geben? Er legte den Stift wieder hin. Nein, keine Nachricht heute.

Behutsam schob er sich den Rucksack über die Schulter, holte eine alte Decke aus der Abstellkammer und machte sich auf den Weg.

Viel schwerer als früher fiel es ihm, die Stalltür zu öffnen. Die Kühe muhten laut, als er eintrat, liefen durcheinander, die einen zu den Futtertrögen, die anderen Richtung Melkstand, sie wateten in ihrem eigenen Dreck. O Mann, wechselte denn der Götzl jetzt nicht mal mehr das Stroh aus? So hatte es hier doch damals nicht gestunken. Jacob legte eine Hand vor Mund und Nase, aber dennoch nahm eine quälende Übelkeit ihn mit jedem Atemzug stärker in Besitz. Götzls grauweiße Katze lief auf ihn zu, strich ihm um die Beine. Unmöglich, sich zu bücken, um sie zu streicheln. Mit dem Fuß schob er sie sachte beiseite und schleppte sich vorwärts, erblickte die Leiter, die zum Heuboden hinaufführte, schaute nach oben. War das immer schon so hoch gewesen? Umständlich klemmte er sich die Decke unters Kinn, umfasste die Leiter mit beiden Händen. Komm schon, du schaffst das, feuerte er sich an, als er die erste Sprosse erklomm. Wieder stach ihm der Schmerz in die linke Seite. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und nun war es nicht mehr aufzuhalten. Er ließ die Decke fallen, eilte so schnell es ging zum nächsten Futtertrog und erbrach sich hinein. Das Würgen war ekelhaft, und doch kam es ihm richtig vor. Die Sache mit Philipp, die Schläge und Tritte am Weiher, das gestohlene Handy; zum Kotzen war das alles, raus damit, zum Kotzen das ganze Leben in diesem Nest, raus, raus, igitt.

Als nichts mehr aus seinem Magen nach oben drängte, schlurfte er zum Wasserhahn und drehte ihn auf, spülte sich den Mund aus und schaufelte sich das kühle Nass ins Gesicht. Ja, jetzt war es besser. Jetzt würde er den Gestank ertragen können, und die Leiter würde zu schaffen sein. Sprosse für Sprosse und mit Bedacht. Als er oben angekommen war, ließ er sich ins Stroh sinken, schob sich die Decke unter den Kopf und sah Sterne. Dann wurde es dunkel.

Freitag, 14. November 2014, 19.01 Uhr

Karin schloss die Wohnungstür auf und schaltete das Licht in der Diele ein. Wie sah denn der Fußboden aus! Hatte Jacob einen Trupp Bauarbeiter zu sich ins Zimmer eingeladen oder was hatte all dieser Dreck zu bedeuten? Sie rief nach ihm und erhielt keine Antwort. Hatte der Junge das angerichtet und war dann noch mal fortgegangen? Sie streifte die Stiefeletten von den Füßen und stellte sie auf der Fußmatte ab. So geht das, Freundchen, ganz einfach. Hieß es nicht, mit siebzehn seien die schlimmsten Symptome der Pubertät allmählich vorbei? Dann musste Jacob in dieser Hinsicht wohl ein Spätentwickler sein. Anscheinend konnte er das Provozieren noch immer nicht lassen. Sie schaute auf das leere oberste Blatt des Notizblocks. Na bitte, auch das noch. Keine Nachricht, wo er war, wann er nach Hause kommen würde, ob er zu Abend gegessen hatte. Sie stellte den Musterkoffer und die Handtasche auf der Kommode ab, zog den Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe, holte das Handkehrset aus dem Schrank hinter der Küchentür.

Sie sollte das nicht tun. Wenn er diese Schweinerei veranstaltet hatte, sollte er sie gefälligst auch selbst beseitigen. Aber andererseits hatte sie auch keine Lust, mit anzusehen, wie Sand und Erdklumpen sich überall im Haus verteilten. Du liebe Güte, war er denn an diesem trüben Tag im Wald gewesen?

Sie kehrte den Schmutz zusammen und zog sich um, brachte die Liste mit den Bestellungen ins Arbeitszimmer im Obergeschoss und betrachtete sie zufrieden. Der Herbst war eine gute Jahreszeit, um Kosmetik zu verkaufen. Wenn die Gesichter blass wurden, die Kälte die Haut spröde werden ließ und die Feiertage vor der Tür standen, brachten sich all die Tuben und Dosen und Flakons leicht an die Frau. Gönnen Sie sich ruhig mal was, sagte sie zu ihren Kundinnen. Das hatte sie in der Schulung der Firma gelernt. Es half tatsächlich; ein Augenzwinkern, ein verschwörerischer Unterton, und schon war wieder ein Bestellzettel ausgefüllt. Die Arbeit für heute war getan. Jetzt hatte sie Hunger, aber wo blieb der Junge?

Sie ging in die Diele zurück, holte ihr Handy aus der Handtasche und wählte seine Nummer. Es klingelte einmal, zweimal, hörte auf.

»Hallo – Jacob?«, sagte sie in die Stille hinein. »Jacob?«, noch einmal. Keine Antwort.

Aber da war doch jemand dran!

»Was soll das? Jacob, jetzt melde dich schon.« Sie betrachtete das Display. Zumindest auf ihrer Seite war das Netz stabil. Sie lauschte. »Jacob, hörst du mich?«

Kicherte da jemand? Sie bekam eine Gänsehaut, drückte das Gespräch weg und rieb sich die Oberarme. Was war denn bloß los? Sie ging in die Küche, und während sie zwei Scheiben Brot abschnitt, ließ sie den Tag Revue passieren. Sie hatten zusammen gefrühstückt, ein paar eilige Happen, dann war er wie immer losgerannt, um den Schulbus noch zu erwischen. Keine besonderen Vorkommnisse also, auch beim Mittagessen nicht. Vielleicht war er ein bisschen schweigsam gewesen, aber auch das war nichts Neues. Jedenfalls erzählte er ihr gewöhnlich nicht, was er erlebte, was er dachte, vorhatte, tat. Längst hatte sie aufgehört zu fragen. Es stand eben nicht mehr so toll zwischen ihnen. Wann hatte das eigentlich angefangen? Und ginge es wieder vorbei?

Sie nahm die Halbfettmargarine aus dem Kühlschrank. Wurst oder Käse, überlegte sie und stutzte. Moment mal, wo war denn der Teller mit der Quiche? Hatte Jacob doch schon gegessen? Aber sie hatte ihm gesagt, dass sie die Quiche für den nächsten Tag aufheben wollte. Sie konnte am Samstag nicht kochen. Das Weinregal im Keller war dran und auch die Terrasse. Hielt er sich jetzt nicht einmal mehr an ihre Absprachen? Sie schloss die Kühlschranktür und setzte sich an den Tisch. Langsam wurde ihr das unheimlich. Jacob war ein Griesgram im Umgang mit ihr, aber bis jetzt hatte sie sich auf ihn verlassen können. Ob Holger etwas wusste? Sie rief ihn an.

Aber Holger wusste nichts. Sie ging in Jacobs Zimmer und fand das übliche Durcheinander vor. Sogar die Schulsachen lagen auf dem Boden verstreut und …

Der Schreck traf sie in der Magengrube, als sie die leere Fläche auf dem Schreibtisch bemerkte, auf der normalerweise das Notebook stand. Früher hatte er es manchmal mitgenommen, wenn er unterwegs gewesen war, aber seit er das Smartphone besaß, war das Notebook immer zu Hause geblieben. Sie rieb sich den Bauch. Das Notebook weg. Die Quiche weg. Und keine Nachricht. Sie ging ins Bad. Seine Zahnbürste war da, der Kulturbeutel auch. Wieder die Treppe nach unten. Sie entdeckte den Schmutz auf dem Teppich im Wohnzimmer. Schritte bis zum Tisch und wieder zurück. Die Obstschale war beinahe leer, nur eine überreife Birne lag noch darin.

Ich will eine Erklärung, jetzt sofort, dachte sie und wählte erneut seine Nummer. Wieder diese komische Stille am anderen Ende. Und keine Antwort auf ihre Fragen. Aber da atmete jemand, das hörte sie genau.

Sie ging zur Abstellkammer und holte den Staubsauger heraus. Das Gröbste konnte sie damit erledigen, aber der feuchte Schmutz würde auf jeden Fall Spuren hinterlassen. Das ging zu weit, die konnte Jacob selbst beseitigen, sobald er zu Hause war. Bevor sie die Tür der Abstellkammer wieder schloss, schaute sie noch einmal hinein. Irgendetwas war anders als sonst. Diese Lücke auf der Ablage, war die immer schon da gewesen? Der Karton mit dem Weihnachtsschmuck stand an seinem Platz, die Picknicktasche auch, und die Sitzkissen für die Gartenstühle lagen, wo sie hingehörten. Aber wo war die Decke?

Ihr Herz schlug schneller. Wo war ihre alte Lieblingsdecke für die Badeausflüge zum Weiher? Ganz sicher hatte sie die Decke nicht weggeworfen, auch wenn sie nach all den Jahren vom häufigen Waschen schon verschlissen war. So viele Erinnerungen zeigten sich jedes Mal, wenn sie mit der Hand darüberstrich. Ihre Lizzy hatte auf dieser Decke gelegen und Annette und Holger auch. Pavel hatte sich bei ihrem ersten Rendezvous auf dieser Decke ausgestreckt. Und Jacob war als Baby darauf herumgekrabbelt. Hatte er sie etwa mitgenommen? Warum? Und wohin?

Sie zog ihre Gartenschuhe an, öffnete die Wohnungstür und eilte zum Carport. Jacobs Fahrrad war nicht da. Wenn er mit dem Fahrrad unterwegs war, konnte er ja nicht weit sein, es sei denn, er war zum Bahnhof geradelt.

Sie ging zurück ins Haus. Ob sie bei ihren Eltern nachfragen sollte? Gewöhnlich machte Jacob einen großen Bogen um sie, und bis zu ihnen würde er nicht mit dem Rad fahren müssen. Aber vielleicht hatten sie ihn auf der Straße getroffen, vielleicht hatte er ihnen etwas gesagt, das sie ihr ausrichten sollten. Sie nahm das Telefon von der Ladestation im Wohnzimmer und wog es in der Hand. Weißt du nicht, wo dein Sohn ist?, würde ihre Mutter fragen. Und ihr Vater? Wenn du zu Hause gewesen wärst, wüsstest du Bescheid. Sie verzog das Gesicht und legte das Telefon auf den Tisch. Es begann zu kribbeln unter der Haut, einmal mehr. Sie atmete flach, atmete schnell, schloss die Augen und hielt sich die Hände vors Gesicht, aber sie konnte sich nicht beruhigen. Sie ging in die Küche, holte den Blister aus der Dose oben links im Regal und drückte eine Tablette heraus. Die verlässlich Tröstende. So nett war der Nachmittag mit ihren Kundinnen gewesen, sie hätte nicht gedacht, heute noch eine zu benötigen. Sie schraubte die Wasserflasche auf, goss ein Glas halbvoll, legte sich die Tablette auf die Zunge, trank und schluckte.

Gleich. Gleich würde es gut sein. Gut für ein paar Stunden. Sie seufzte und entspannte sich. Jetzt konnte sie den Teppich absaugen.

Sie aß allein. Und sie aß wenig. Die Nachrichten im ersten Programm liefen an ihr vorbei, der Krimi langweilte sie, das Buch war zu schwierig an diesem Abend. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Stunde um Stunde wartete sie im Wohnzimmer, kauerte im Halbdunkel der gedimmten Stehlampe und starrte die Wände an, die kupferfarben gemusterte Strukturtapete, die sie ausgesucht hatte und die niemand mochte außer ihr. Aber das war egal. Es war ja ohnehin ihr Haus. Sie war es, die es sauber hielt. Sie war es, die es bewohnte. Die anderen waren nur Durchreisende. Pavel war im Grunde schon weg, und auch Jacob würde bald gehen. Sicher würde er sich davonmachen, so schnell er konnte. Vielleicht war er schon fort. Noch einmal probierte sie, ihn zu erreichen. Jetzt war die Mailbox an.

Ihre Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt. Die Falten der Gardine zeichneten sich dreidimensional vor dem Fenster ab, und sie konnte die Konturen der Gegenstände auf dem Couchtisch erkennen; die Kristallschale mit der überreifen Birne darin, das Telefon, das halbgefüllte Wasserglas und die gebundene Ausgabe der Buddenbrooks mit dem Lesezeichen weit hinten zwischen den Seiten. Der in Öl gebannte Schoner hatte die Segel gebläht. Seit einer Ewigkeit schon durchquerte er die Meere über dem Fernseher. Sie hatte das Bild seit Jahren nicht beachtet, aber während sie wartete, kam Leben in die See und auf das Schiff. Winzige Matrosen kletterten in den Masten herum, hielten Ausschau nach Land oder eilten über das Deck. Der Kapitän stand am Bug und sah dem Ziel seiner Reise entgegen. Er hielt die Hände auf dem Rücken gefaltet und schnippte die Daumen gegeneinander. Ein ungeduldiger Mann.

Eigentlich mochte sie keine Segelschiffe. Ihr wurde stets übel auf See vom Schwanken und Schaukeln, und der Gedanke, allein vom Wind getrieben zu werden, war ihr eine Qual. Und doch, das Bild war ein Geschenk ihrer Eltern. Sie hatten es bei der Vernissage eines einheimischen Künstlers auf Sylt gekauft, kurz nachdem Jacob zur Welt gekommen war. Ihr Vater hatte es selbst angebracht, ihre Mutter hatte ihm Dübel und Bohrmaschine gereicht und zufrieden genickt, als es hing. Ein schöner Platz.

Je später es wurde und je stiller auf den Straßen, desto tiefer sank sie in den Sessel, schob die Armbanduhr wieder und wieder in den Lichtkegel der Stehlampe. Angestrengt lauschte sie. Das Brummen des Kühlschranks in der Küche drang ebenso zu ihr durch wie die Tür, die im Nachbarhaus klappte, und der startende Motor eines Autos irgendwo im Dorf. Schließlich verstummten auch die letzten Geräusche. Noch einmal die Uhr. Sie zeigte Viertel nach drei, und Karin ahnte, dass es niemanden gab, bei dem Jacob um diese Zeit noch sein konnte. Die Wirkung der Tablette ließ nach. Sie dachte daran, eine zweite zu nehmen, aber sie hatte sich versprochen, sparsam damit umzugehen. Schließlich warnte der Beipackzettel vor zu häufigem Gebrauch. Und sie wollte sich an die Regeln halten.

Mit der linken Hand umklammerte sie das Gelenk ihrer rechten, grub die Nägel ins Fleisch. Regeln. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Rosenkränze gebetet und ihr Zimmer aufgeräumt, hatte gelernt, die Gabel von der falschen in die richtige Hand zu wechseln, hatte die Zahnspange mehr als vier Jahre getragen, Grünkohl erst gekauft, wenn er Frost bekommen hatte, und Zimtsterne erst im Advent. Jeden Winter hatte sie den Gehweg vor dem Haus gestreut, kaum dass die ersten Schneeflocken zur Erde gerieselt waren, hatte die Elternabende in Jacobs Schule besucht und den Mitgliedsbeitrag für den Gymnastikverein stets pünktlich überwiesen. Und doch, am Ende hatte immer nur dieses eine Wort gestanden.

DURCHGEFALLEN.

Sie hatte es ignoriert. Sie hatte es fortgeschoben. Sie hatte es für lächerlich befunden und wieder und wieder das Gegenteil zu beweisen versucht. Sie hatte es in Schach gehalten, aber insgeheim wusste sie, dass es sich noch immer tief in ihrem Inneren verborgen hielt. Es wartete stets auf seine Chance und kroch bei der erstbesten Gelegenheit aus seinem Versteck wie die Made aus verdorbenem Fleisch. Es lauerte beständig, und jetzt drängte es mit Macht hervor. DURCHGEFALLEN, pulsierte es in ihren Adern. DURCHGEFALLEN, stand auf der Tapete, und DURCHGEFALLEN, dröhnte es ihr in den Ohren, als kein Schlüssel sich im Schloss drehen wollte. Das Wort. Es schlug ihr in den Magen, gegen die Brust und verteilte Kopfnüsse. Sie schlang die Arme um ihren Schädel und schloss die Augen. Es half nicht. DURCHGEFALLEN, noch einmal. Das Wort donnerte in ihr und um sie herum, dann drückte es ihr die Kehle zu, bis sie zu ersticken glaubte.

Sie sprang auf, sah sich Hilfe suchend um, erblickte die Schale auf dem Tisch. DURCHGEFALLEN. Das Wort lag neben der Birne, die schon zu faulen begann, wo es sie berührte. Sie hastete vor, griff zu und schleuderte die Schale gegen die Wand. Das Kristall zerbarst in einem Scherbenregen, die Birne rollte zu ihr zurück, aber der Druck auf ihre Kehle verminderte sich. Sie schmiss auch das Glas und die Buddenbrooks. Wasser spritzte durch den Raum, das Buch polterte zu Boden. Nun griff sie das Telefon und holte erneut zum Wurf aus. Aber das Wort war schon geflohen. Sie hielt inne und sammelte sich, spürte, wie der Puls ihr im Hals hämmerte, und hörte das Rauschen in den Ohren. Alles, alles, nur nicht mehr das Wort.

Ihr Herz beruhigte sich nur langsam. Sie betrachtete die Tasten des Telefons, erinnerte sich an das letzte Mal, als sie Pavel wegen Jacob angerufen hatte.

In Prag wäre das nicht passiert. Warum seid ihr nicht hier?

Pavel war nicht wie ihr Vater. Er würde es nicht aussprechen, und doch lägen seine Worte wie ein Surren in der Leitung. Das würde sie jetzt nicht auch noch ertragen. Es surrte schon genug in ihrem Kopf. Aber sie musste mit jemandem reden, auch wenn es mitten in der Nacht war. Noch einmal Holger anrufen? Oder doch lieber Annette? Immerhin war sie Jacobs Patentante und gewöhnlich viel besser über alles informiert, was ihn betraf. Bei ihr war er nicht wortkarg, wenn sie ins Dorf kam. Es wurmte Karin gewaltig, aber jetzt war nicht die Zeit für solch einen Ärger. Vielleicht wusste Annette ja wirklich mehr als sie.

Sie drückte die Kurzwahltaste für Annettes Nummer und wartete. Als eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung in den Hörer nuschelte, traten ihr die Tränen in die Augen. Das hier war nicht auszuhalten.

Es aussprechen.

Jacob.

Verschwunden.

Samstag, 15. November 2014, 3.23 Uhr

Annette schrak aus dem Tiefschlaf hoch, als das Telefon klingelte. Sie öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit hinein. Wer rief denn so früh am Morgen an, um Himmels willen! Oder war es etwa noch mitten in der Nacht? Sie blinzelte auf den Wecker. Tatsächlich erst kurz vor halb vier. War etwas mit ihrem Vater? Ein neuerlicher Herzinfarkt vielleicht?

Sie hangelte nach dem Telefon, das neben ihrem Bett auf dem Fußboden lag. Das Display zeigte die Nummer der Buceks. Sie nahm das Gespräch an und murmelte ein müdes Hallo.

»Jacob muss etwas passiert sein – er ist weg«, hörte sie Karin sagen. Ihre Stimme klang gepresst. Nicht einmal für eine Begrüßung hatte sie sich Zeit genommen.

Annette rieb sich den Schlaf aus den Augen, schaltete die Leselampe ein, die sie erst vor dreieinhalb Stunden ausgeschaltet hatte. Bildbände lagen aufgeschlagen um sie herum, ihr Bleistift klemmte in der Spalte zwischen Matratze und Bettgestell, und die Spiralbindung des Notizblocks drückte gegen ihre Hüfte. »Weg? Wie meinst du das? Was ist los?«

»Ich habe keine Ahnung.« Nur ein Wispern.

Annette war plötzlich hellwach, schob die Decke zur Seite und stand auf, presste das Telefon fest ans Ohr.

»Schsch«, machte sie und hob beschwichtigend die freie Hand, als könnte Karin sie sehen. »Keine Angst, keine Sorge.« Sie kramte das Handy aus ihrer Tasche und sah nach, aber sie hatte keine Nachricht von Jacob und auch keinen Anruf verpasst.

»Sag mir, was das zu bedeuten hat«, jammerte Karin ihr ins Ohr. »Bitte, ich verstehe es nicht. Was soll ich denn machen?«

»Jetzt beruhige dich erst mal. Es ist Wochenende. Und er ist schließlich kein Kind mehr. Vielleicht war er auf einer Party und übernachtet bei einem Freund.«

»Bestimmt nicht. Jacob geht nicht auf Partys. Und wenn ausnahmsweise doch mal, dann hätte er mir Bescheid gesagt.«

»Vielleicht hat er ja auch jemanden kennengelernt. Ich glaube nicht, dass er seine Mutter anruft, wenn er gerade angenehm beschäftigt ist.«

»Nein, da ist auch noch was anderes. Ich habe immer wieder versucht, ihn zu erreichen. Es ist jemand an sein Handy gegangen, aber er hat sich nicht gemeldet. Und später war die Mailbox an.«

»Hast du eine Nachricht hinterlassen?«

»Nein. Wie käme ich mir denn da vor? Ich lasse mich doch von meinem Sohn nicht zum Besten halten.«

Annette runzelte die Stirn. Jetzt redete Karin wie ihre eigene Mutter. Plötzlich diese Strenge im Ton – hörte denn das nie auf? »Warte mal kurz«, sagte sie und legte das Telefon beiseite, wählte mit ihrem eigenen Handy Jacobs Nummer und wartete die Ansage am anderen Ende der Leitung ab. »Jacob, wenn du das hier hörst, dann melde dich mal, ja? So bald wie möglich – es ist wichtig.«

Sie beendete das Gespräch und nahm den anderen Hörer wieder auf. »Was ist eigentlich mit Pavel? Hast du ihn gefragt, ob er was weiß?« Vielleicht war Jacob ja zu seinem Vater gefahren, überlegte sie.

»Nein«, antwortete Karin knapp und trotzig.

»Also hör mal, was machst du die Pferde scheu, das wäre ja wohl die erste …«

»Jacob ist nicht in Prag. Das wüsste ich. Er hat kein Waschzeug dabei.«

»Kein Waschzeug? Na, dein Mann hätte ja wohl eine Zahnbürste und ein Handtuch für seinen Sohn. Frag doch mal nach.«

»Das kann ich nicht, es ist mitten in der Nacht.«

»Ach, tatsächlich«, sagte Annette in ironischem Ton. »Meinst du, bei mir ist es Mittag?« Einmal mehr spürte sie den alten Zwiespalt, wusste genau, dass sie zu jeder Tages- und Nachtzeit füreinander da waren, noch immer und trotz allem. War das nun immerwährende Freundschaft, Nähe und Vertrautheit? Oder bloß noch ein Reflex? Am anderen Ende der Leitung blieb es lange stumm, dann war ein Schniefen zu hören.

»Ach, Karin«, sagte sie nun sanfter und fragte sich, wann sie zum letzten Mal erlebt hatte, dass ihre alte Freundin weinte. Es musste vor einer Ewigkeit gewesen sein. »Geh doch bei Holger vorbei, besprich dich mit ihm. Er wird dir zuhören.« Warum machte Karin es immer so kompliziert? Es waren keine zehn Minuten zu Fuß von ihrem Haus bis zum Sportplatz, neben dem Holgers Wohnung lag. Weshalb kam sie nicht von selbst auf diese Idee?

»Ich kann doch um diese Zeit nicht im Dorf herumspazieren. Wenn jemand …«

Annette wartete, aber Karin sprach den Satz nicht zu Ende. »Dich sieht, willst du sagen, ja? Du rufst hier an, weil Jacob nicht da ist, bist völlig aufgelöst, aber trotzdem scherst du dich um das Gerede der Leute. Immer und immer wieder.« Ein uralter Groll stieg in ihr auf.

»Ich habe bereits mit Holger telefoniert«, sagte Karin sachlich. »Er weiß auch nicht, wo Jacob sein könnte.«

»Na schön, aber du wärst nicht allein. Und morgen früh klärt sich bestimmt alles auf.«

»Nein, das glaube ich nicht.« Jetzt weinte Karin wieder, ihre Stimme klang brüchig. »Es ist bestimmt etwas passiert. Kannst du nicht herkommen?«

Annette hörte die Tränen und hörte die Angst. Unwillig brummte sie in den Hörer. Eigentlich musste sie das ganze Wochenende arbeiten. Der Bericht über Geogia O’Keeffe anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung zu ihren Ehren musste am kommenden Dienstag fertig sein. Die Redaktion kannte kein Erbarmen, wenn es um die Abgabefristen der Texte ging, selbst die Bilder für den Beitrag hatte sie noch nicht ausgewählt. Sie konnte es sich nicht erlauben, den Auftrag zu vermasseln, und das Honorar war auch schon lange verplant.

»Nein, das geht nicht«, sagte sie und spürte selbst, wie wenig überzeugend sie klang.

»Bitte!«, flehte Karin jämmerlich. »Bitte komm her.«

Annette seufzte, und der Druck auf ihr Gewissen verscheuchte jedes ihrer Argumente. »Na gut, ich komme«, sagte sie widerwillig, beendete das Gespräch und schlurfte leise fluchend ins Bad.

Die Strecke kannte sie genau, Berlin – Eschenreuth, vierhundert Kilometer nach Süden, kein allzu weiter Weg und doch jedes Mal die Reise in eine völlig andere Welt, dorthin, wo die Hügel, die Häuser und die Straßen alte Geschichten flüsterten. Wo die Blicke der früheren Nachbarn sich noch heute verfinsterten, wenn sie auf der Straße rauchte, so wie schon vor vierunddreißig Jahren, als sie sechzehn war. Wo die Männer kein Treffen der Reservistenkameradschaft versäumten und die Frauen nach der Messe das Mittagessen kochten, sobald sie nach Hause kamen. Alle Frauen. Auch Karin. Annette wäre am liebsten auf der Stelle umgedreht, als sie daran dachte. Sie fuhr nicht mehr oft nach Eschenreuth, seit ihre Mutter gestorben und ihr Vater zu Rosis Familie nach Nürnberg gezogen war. Ihre Schwester hatte alles geregelt, das Elternhaus über der Backstube, in die ihr Vater jeden Morgen um drei hinuntergestiegen war, gehörte wie auch der Laden mit dem Café längst einer jungen Familie, und diese Leute waren die einzigen Menschen im Dorf, die Annette nicht kannten. Alle anderen wussten genau Bescheid über das Vogl-Mädchen, das so jung schon ausgeflogen war. Ausgeflogen in eine eingemauerte Stadt mitten in der Ostzone. Keinen Mann hatte das Vogl-Mädchen, aber es wurde gemunkelt über diese andere Sache, über die man gar nicht wirklich munkeln konnte, weil es dafür keine Worte gab in Eschenreuth. Wohl aber rümpfte man die Nase oder riss schon mal Witze oder beides, je nach Laune und Tagesform. Doch wenn sie durch den Ort ging, hoben die alten Männer die Hüte an und die Frauen nickten sacht. Ihr Vater hatte für sie alle das tägliche Brot gebacken, die wenigen kleinen Pensionen mit frischen Semmeln versorgt und den Leuten manche Hochzeitstorte kreiert. Ihre Mutter war stets freundlich gewesen, wenn sie im Laden bediente oder im Café die Bestellungen aufnahm, immer gut gelaunt, immer flott und niemals krank. Ja, man grüßte das Vogl-Mädchen, wenn es wieder angeflogen kam, mal zu Ostern, mal im Sommer, mal zur Weihnachtszeit. Kam sie am Dorfplatz vorbei, betrachtete man sie wie ein seltenes Gewächs, eine fleischfressende Pflanze vielleicht, und sie krallte die Hände fest um das Steuer des Wagens, als sie es sich vorstellte.

Nach zweieinhalb Stunden auf der Autobahn rutschte die Tankanzeige in den roten Bereich. Es passte ihr nicht, die Fahrt unterbrechen zu müssen, aber sie hatte keine Wahl und setzte den Blinker, als die Ausfahrt zum Rasthof in Sicht kam. Erst als das Benzin durch den Zapfhahn lief, spürte sie, wie müde sie war, und sie stellte sich vor, wie Grit den Kopf schütteln würde und wie sie erfüllt wäre von bitterem Spott. Sie hatte Grit vertröstet wegen der Story über Georgia O’Keeffe. Einmal mehr keine Zeit wegen der Arbeit. Dagegen war nichts einzuwenden, und Grit hatte nichts eingewandt. Wie sollte sie ihr nun den plötzlichen Aufbruch erklären? Ein Notfall, gewiss. Aber irgendein Fall war es immer, wenn es um Karin ging, ein Ausnahmefall manchmal, ein spontaner Einfall hin und wieder, ein Rückfall zumeist. Was willst du da noch?, fragte Grit in eifersüchtigem Ton, und Annette konnte ihr keine Antwort darauf geben. Einst war dieses Dorf ihr erschienen wie das tote Ende der Galaxis, und so war sie losgezogen ins Zentrum der Milchstraße, die von Mauern umgeben war. Von einer Sonne zur nächsten war sie gedüst, eine aufregende Zeit, wunderbar, grausam und dann wieder schön. Die Sonnen waren hell gewesen und heiß, aber dann hatten sie sich aufgebläht und waren verglüht, eine nach der anderen. Supernova. Sternenstaub. Und das Dorf mit all seinen Menschen war immer noch da. Hier hatte sie laufen gelernt. Lesen gelernt. Lieben gelernt. Jaja, auch das.

Als sie das Benzin bezahlt hatte, verspürte sie ein dringendes Verlangen nach heißem Kaffee, fuhr ein paar Meter weiter und balancierte kurz darauf ihr Tablett zu einem Tisch am Fenster des Restaurants. Durch die regennassen Scheiben betrachtete sie das monotone Grau des herbstlichen Himmels in der Morgendämmerung. Sie zog den Deckel von einem winzigen Sahnetöpfchen und gab seinen Inhalt in den Becher, ließ eine zweite Portion folgen und rührte um. Sie trank einen kleinen Schluck, aber der Kaffee war noch viel zu bitter. So ging sie noch einmal zur Selbstbedienungstheke und griff erneut in den Korb mit der Sahne. Die Kassiererin, eine junge Frau mit einer langen blonden Mähne und einem Pferdegesicht, unterbrach die gelangweilte Prüfung ihrer Fingernägel und schaute auf. Es lag etwas Tadelndes in ihrem Blick. Ein Becher Kaffee und drei Portionen Sahne. Unmäßigkeit hieß das Wort, das ihr aus den Augen stach. Warum verwendeten sie auch diesen Plastikmüll, dachte Annette, nahm den Korb in die eine Hand und wühlte mit der anderen darin, nahm Töpfchen für Töpfchen heraus und betrachtete die Bilder auf den Deckeln. Die Loreley legte sie ebenso zurück wie St. Bartholomä, aber Schloss Neuschwanstein wählte sie aus und den Hamburger Hafen, Nummer vier und fünf, die sie sicher nicht benötigte. Sie stellte den Korb zurück und lächelte die Kassiererin an. Das Pferd blähte die Nüstern.