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FRAUEN IM SINN

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Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Thriller,
historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de

Leslie Feinberg

Stone Butch Blues

Träume in den erwachenden Morgen

Aus dem amerikanischen Englisch
von Claudia Brusdeylins

K+S digital

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Danksagung

1

Liebe Theresa,

ich liege auf dem Bett und vermisse Dich. Meine Augen sind ganz geschwollen, heiße Tränen laufen mir übers Gesicht. Draußen wütet ein heftiges Sommergewitter.

Heute abend bin ich durch die Straßen gegangen und habe in den Gesichtern aller Frauen nach Dir gesucht, wie an jedem Abend während meines einsamen Exils. Ich fürchte, ich werde Deine lachenden, verschmitzten Augen niemals wiedersehen.

Vorhin habe ich in Greenwich Village mit einer Frau einen Kaffee getrunken. Eine Freundin hatte uns zusammengebracht, überzeugt, daß wir eine Menge gemeinsam hätten, weil wir doch beide „politisch” wären. Wir saßen also im Café; sie redete über die Politik der Demokraten und Seminare und Photographie und Probleme mit ihrer Kooperative und wie sehr sie gegen die Mietpreisbindung sei. Kein Wunder – Papi ist Immobilienmakler.

Ich sah sie an und dachte bei mir, daß ich in den Augen dieser Frau eine Fremde bin. Sie sieht mich an, aber sie nimmt mich nicht wahr. Dann sagte sie schließlich, daß sie die Gesellschaft dafür verabscheut, was sie „Frauen wie mir“ angetan hat – Frauen, die sich selbst so sehr hassen, daß sie meinen, wie Männer aussehen und sich verhalten zu müssen. Ich spürte, wie ich zusammenzuckte und rot wurde, und ich erzählte ihr ganz cool und gelassen, daß es Frauen wie mich schon seit ewigen Zeiten gegeben hätte, bevor es Unterdrückung gab, und daß diese Gesellschaften uns damals akzeptiert hätten, und sie setzte ihr sehr interessiertes Gesicht auf – und außerdem müßte sie jetzt gehen.

Wir brachen also auf und kamen an eine Straßenecke, wo ein paar Bullen einen Obdachlosen fertigmachten. Ich blieb stehen und fing an zu motzen, und sie gingen mit erhobenen Knüppeln auf mich los, und sie zog mich am Gürtel zurück. Ich sah sie nur an, und plötzlich kamen Dinge in mir hoch, von denen ich glaubte, daß ich sie erfolgreich verdrängt hätte. Ich stand da und dachte an Dich, als sähe ich die Bullen, die mich schlagen wollten, gar nicht; mir war, als fiele ich in eine andere Welt zurück, an einen Ort, den ich wiedersehen wollte.

Und plötzlich tat mir das Herz so weh, und mir wurde bewußt, wie lange es her war, daß mein Herz auch nur das Geringste gespürt hatte.

Ich muß heute abend zu Dir nach Hause kommen, Theresa. Doch das geht nicht. Deshalb schreibe ich Dir diesen Brief.

Jetzt fällt mir dieser Tag wieder ein, vor Jahren, als ich in der Konservenfabrik in Buffalo anfing. Du warst schon ein paar Monate dort, und ich erinnere mich, wie Deine Augen meinen Blick einfingen und mit mir spielten, bevor sie mich wieder freigaben. Ich sollte dem Vorarbeiter folgen, um ein paar Formulare auszufüllen, aber ich war ganz damit beschäftigt, mich zu fragen, welche Farbe Dein Haar unter diesem weißen Papiernetz wohl hatte und wie es aussehen und sich anfühlen würde, wenn es gelöst war. Und Du hast leise gelacht, als der Vorarbeiter sich umdrehte und sagte: „Kommen Sie jetzt endlich?“

Wir KVs waren höllisch wütend, als wir hörten, daß Du rausgeschmissen worden warst, weil Du Dich gewehrt hattest, als der Boss Deine Brüste begrapschen wollte. Ich hab noch ein paar Tage weiter an der Rampe entladen, aber ich war ziemlich niedergeschlagen. Es war einfach nicht dasselbe ohne Dich.

An dem Abend, als ich in diesen neuen Club auf der West Side ging, konnte ich es kaum glauben. Da standest Du, an die Bar gelehnt, in diesen unbeschreiblich engen Jeans und mit langem gelöstem Haar. Und wieder dieser Blick in Deinen Augen. Du hast mich nicht nur wiedererkannt, Dir hat auch gefallen, was Du sahst. Und diesmal waren wir auf unserem Terrain. Ich war frei, mich so zu bewegen, wie Du es wolltest, und ich war froh, daß ich mich in Schale geworfen hatte.

Auf unserem Terrain … „Tanzt du mit mir?“

Du hast nicht ja oder nein gesagt, hast mich nur mit den Augen provoziert, meine Krawatte gerichtet, mir den Kragen glattgestrichen und mich an der Hand genommen. Schon bevor Du Dich an mich gepreßt hast, hattest Du mein Herz erobert. Tammy sang gerade „Stand by your man“, und wir änderten im Geiste jedes „he“ in ein „she“, damit es paßte. Nachdem Du Dich so an mich gepreßt hattest, war Dir mehr als nur mein Herz gewiß. Ich verzehrte mich nach Dir, und das gefiel Dir. Mir auch.

Die älteren Butches warnten mich: Wenn Du Deine Ehe nicht aufs Spiel setzen willst, geh nicht in die Bars. Aber ich war immer monogam gewesen. Außerdem war es unsere Gemeinschaft, die einzige, die wir hatten, also gingen wir jedes Wochenende hin.

In den Bars gab es zwei Arten von Prügeleien. An den meisten Wochenenden brach mindestens eine von ihnen aus, an manchen beide. Es gab die Prügeleien der Butches – geprägt von Suff, Scham und eifersüchtiger Unsicherheit. Manchmal waren die Kämpfe furchtbar und breiteten sich aus wie ein Netz, in dem sich jede in der Bar verfing – wie in der Nacht, in der Heddy ihr Auge verlor, als sie von einem Barhocker getroffen wurde.

Ich war richtig stolz, daß ich in all den Jahren nie eine Butch geschlagen habe. Weißt Du, ich habe sie eben auch geliebt, und ich verstand ihren Schmerz und ihre Scham, weil ich ihnen so ähnlich war. Ich liebte die tiefen Linien, die sich in ihre Gesichter eingegraben hatten, und ihre gebeugten, arbeitsmüden Schultern. Manchmal schaute ich in den Spiegel und fragte mich, wie ich in ihrem Alter wohl aussehen würde. Heute weiß ich es.

Sie haben mich auch geliebt, auf ihre Art. Sie haben mich beschützt, weil sie wußten, daß ich keine „Samstagabend-Butch“ war. Die Wochenend-Butches hatten Angst vor mir, weil ich eine Stone Butch war. Hätten sie bloß gewußt, wie machtlos ich mich in Wirklichkeit fühlte! Aber die älteren Butches kannten den langen Weg, der vor mir lag, und es wäre ihnen am liebsten gewesen, wenn ich ihn nicht hätte gehen müssen, weil er so schmerzvoll war.

Wenn ich im Anzug und mit hängenden Schultern in die Bar kam, sagten sie zu mir: „Sei stolz auf dich!“, und dann rückten sie mir den Schlips zurecht, so ähnlich wie Du. Ich war wie sie; sie wußten, daß ich keine Wahl hatte. Deshalb habe ich mich nie mit ihnen geprügelt. In den Bars schlugen wir einander auf die Schulter, und auf der Arbeit gaben wir uns gegenseitig Rückendeckung.

Es gab aber auch Zeiten, in denen unsere wirklichen Feinde kamen: Trupps besoffener Matrosen, faschistische Schlägertypen, Psychopathen und die Bullen. Wir kriegten es jedesmal sofort mit, weil immer schnell jemand den Stecker der Jukebox rauszog. Egal, wie oft es schon passiert war, wir stöhnten alle „O nein …“, wenn die Musik abbrach, und dann war klar, daß es jetzt zur Sache ging.

Wenn die Fanatiker kamen, war eine Prügelei angesagt, und wir machten alle mit. Wir kämpften hart – Femmes und Butches, Frauen und Männer gemeinsam.

Setzte die Musik aus und die Bullen standen in der Tür, stöpselte jemand die Jukebox wieder ein, und wir tauschten Tanzpartnerinnen. Wir in Schlips und Kragen taten uns mit den Drag Queens in ihren Kleidern und hochhackigen Pumps zusammen. Heute können wir uns kaum noch vorstellen, daß es damals illegal war, wenn Frauen mit Frauen oder Männer mit Männern tanzten. Wenn die Musik endete, verbeugten wir Butches uns, unsere Partnerinnen knicksten, und wir kehrten zu unseren Plätzen zurück, zu unseren Liebsten und unseren Drinks, und warteten darauf, daß das Schicksal seinen Lauf nahm.

Dabei muß ich wieder an Deine Hand auf meinem Gürtel unter meinem Jackett denken. Da lag sie die ganze Zeit, während die Bullen da waren. „Ganz ruhig, Baby. Bleib bei mir, Schatz, bleib cool“, hast Du mir dann ins Ohr gesungen wie ein Liebeslied für Kriegerinnen, die sich genau überlegen müssen, wann sie in den Kampf ziehen, wenn sie überleben wollen.

Weißt Du noch, der Abend, an dem Du zu Hause bei mir geblieben bist, weil ich krank war? Das war der Abend, an dem die Bullen sich die härteste Butch aussuchten, um sie mit ihren Demütigungen zu vernichten, eine Frau, von der alle sagten, daß sie „im Regenmantel duschte“. Wir erfuhren, daß sie sie vor allen Leuten in der Bar nackt ausgezogen und sie ausgelacht haben, als sie ihre Blöße bedecken wollte. Sie sei später verrückt geworden, hieß es. Dann hat sie sich aufgehängt.

Was hätte ich wohl getan, wenn ich in jener Nacht dort gewesen wäre?

Ich muß an die Razzien in den Bars in Kanada denken. Wenn die Samstagabend-Butches in die Transporter verfrachtet wurden, kicherten sie albern, versuchten, ihr Haar zu richten und Klamotten zu tauschen, damit sie zu den Femmes in den Bau kamen – sie sagten, das wäre „wie im siebten Himmel“. Laut Gesetz mußten wir mindestens drei Teile Frauenkleidung tragen.

Wir haben nie die Kleidung getauscht. Auch die Drag Queens nicht. Genau wie Du wußten wir, was uns bevorstand. Wir brauchten unsere aufgekrempelten Hemdsärmel und unser mit Pomade zurückgekämmtes Haar, um das, was kam, zu überleben. Die Hände hatten sie uns auf den Rücken gefesselt. Du hattest die Handschellen vor dem Körper. Du hast mir die Krawatte gelockert, den Kragen aufgeknöpft und mein Gesicht berührt. Ich sah den Schmerz und die Angst um mich in Deinem Gesicht, und ich flüsterte, es würde alles gut werden. Wir wußten, daß das nicht stimmte.

Ich habe Dir nie erzählt, was sie uns dort angetan haben – Drag Queens und Butches in einer Zelle –, aber Du wußtest es ohnehin. Sie schleiften unsere Brüder einen nach dem anderen aus der Zelle, ohrfeigten und schlugen sie, schlossen die Zellentüren schnell hinter sich zu, für den Fall, daß wir uns nicht mehr beherrschen konnten und versuchen würden, sie aufzuhalten – als ob wir das gekonnt hätten. Sie fesselten einem Bruder die Hände an die Fußgelenke oder ketteten ihn mit dem Gesicht an die Gitterstäbe, und wir mußten es mitansehen. Manchmal fingen wir den Blick des gefolterten Opfers auf und gaben ihm sanft zu verstehen: „Ich bin bei dir, Schätzchen, sieh mich an, ist schon gut, wir bringen dich nach Hause.“

Wir weinten nie vor den Bullen. Wir wußten, daß wir die nächsten sein würden.

Ob ich überlebt habe? Hab ich wohl. Aber nur, weil ich wußte, daß ich vielleicht wieder zu Dir nach Hause kommen würde.

Montags ließen sie uns dann wieder raus, eine nach dem anderen. Ohne Anklage zu erheben. Zu spät, um sich auf der Arbeit krank zu melden. Ohne Geld mußten wir trampen, die Grenze zu Fuß überqueren, in verknitterten Klamotten, blutverschmiert, uns nach einer Dusche sehnend, verletzt und verängstigt.

Ich wußte, Du würdest da sein, wenn ich es nur bis nach Hause schaffte. Du hast mir ein duftendes Schaumbad eingelassen. Mir eine frische weiße Unterhose und ein T-Shirt rausgelegt und mich allein gelassen, damit ich die erste Schicht Scham abwaschen konnte.

Es war jedesmal dasselbe. Ich zog die Unterhose an und konnte mir gerade noch das T-Shirt überstreifen, als Du auch schon einen Grund fandst, ins Badezimmer zu kommen, um etwas zu holen oder wegzuräumen. Mit einem Blick hast Du Dir die Wunden an meinem Körper wie eine Straßenkarte eingeprägt – die Schnitte, die Blutergüsse, die Verbrennungen von Zigaretten.

Später im Bett hast Du mich gehalten, mich überall gestreichelt, die zartesten Berührungen für die Stellen reserviert, wo ich verletzt war; Du kanntest jeden einzelnen schmerzenden Fleck in- und auswendig. Du hast mich zuerst nur sanft gestreichelt, weil Du wußtest, daß ich noch zu fertig war, um mich sexy zu fühlen. Aber langsam und vorsichtig hast Du mir meinen Stolz wiedergegeben, indem Du mir zeigtest, wie sehr Du mich begehrtest. Du wußtest, daß Du Wochen brauchen würdest, das Eis wieder zum Schmelzen zu bringen, den Stein zu erweichen.

Ich habe in letzter Zeit Geschichten von Frauen gelesen, die auf ihre Stone Butches so wütend sind, daß sie sich sogar über die Leidenschaft lustig machen, die sie zeigen, wenn sie endlich vertrauen und sich berühren lassen können. Und ich frage mich, ob es Dir damals weh getan hat, wenn ich mich nicht von Dir berühren lassen konnte? Ich hoffe nicht. Du hast es zumindest nie gezeigt. Ich glaube, Du wußtest, daß nicht Du es warst, vor der ich mich verschloß. Du hast mein Stone-Ich wie eine Wunde behandelt, die geheilt werden mußte. Danke. Das hat nach Dir nie wieder eine getan. Wenn Du heute abend hier wärst … na ja, ein Wunschtraum, oder?

Das alles habe ich Dir nie gesagt.

Ich erinnere mich daran, wie ich einmal allein aufgegriffen wurde, auf fremdem Terrain. Du zuckst wahrscheinlich jetzt schon zusammen, aber ich muß Dir das erzählen. Es war der Abend, an dem wir neunzig Meilen gefahren sind, um in einer Bar Freundinnen zu treffen, die sich dann nie haben blicken lassen. Als die Polizei den Club stürmte, waren wir „allein“, und der Bulle mit seinen goldenen Streifen an der Uniform kam direkt auf mich zu und befahl mir aufzustehen. Kein Wunder, ich war an dem Abend die einzige Butch dort.

Er begrapschte mich überall, lüpfte den Bund meiner Unterhose und forderte seine Männer auf, mir Handschellen anzulegen – ich trug keine drei Teile Damenbekleidung. Ich wollte gleich losschlagen, weil ich wußte, daß diese Chance im nächsten Moment vertan sein würde. Ich wußte aber auch, daß alle in dieser Bar Prügel bekommen würden, wenn ich mich verteidigte, also blieb ich einfach stehen. Sie hatten Dir die Arme auf den Rücken gefesselt. Ein Bulle hatte Dich im Schwitzkasten. Ich weiß noch, wie Du mich angesehen hast. Es tut mir heute noch weh.

Sie fesselten mir die Arme so fest auf den Rücken, daß ich fast aufgeschrien hätte. Dann zog dieser Bulle ganz langsam seinen Reißverschluß auf, grinste schleimig und befahl mir, mich hinzuknien. Erst dachte ich: Ich kann nicht! Dann sagte ich laut zu mir selbst, zu Dir und zu ihm: „Ich will nicht!“ Ich habe Dir das nie gesagt, aber in diesem Augenblick hat sich etwas in mir verändert. Ich erkannte den Unterschied zwischen dem, was ich nicht tun kann, und dem, was ich nicht tun will.

Für diese Lehre mußte ich bezahlen. Die Einzelheiten muß ich Dir nicht erzählen.

Als ich am nächsten Morgen aus dem Knast kam, warst Du da. Du hast mich auf Kaution rausgeholt. Keine Anzeige, sie haben nur Dein Geld behalten. Du hattest die ganze Nacht auf der Wache gewartet. Nur ich weiß, wie schwer es für Dich gewesen sein muß, ihren anzüglichen Blicken, ihren Provokationen, ihren Drohungen standzuhalten. Ich wußte, daß Du Dich bemüht hast, etwas aus dem Zellentrakt zu hören, und bei jedem Geräusch zusammengezuckt bist. Du hast gebetet, mich nicht schreien hören zu müssen. Ich habe nicht geschrien.

Als wir nach draußen auf den Parkplatz kamen, bist Du stehengeblieben, hast mir leicht die Hände auf die Schultern gelegt und bist meinem Blick ausgewichen. Sanft hast Du die blutigen Stellen auf meinem Hemd berührt und gesagt: „Diese Flecken krieg ich nie wieder raus.“

Und wehe, es denkt jemand, Dein Leben sei darauf beschränkt gewesen, Dich um die Sauberkeit meiner Hemdkragen zu sorgen.

Ich wußte genau, was Du meintest. Es war eine seltsam zarte Art zu sagen – oder nicht zu sagen –, was Du fühltest. Ein bißchen wie meine Art, gefühlsmäßig dichtzumachen, wenn ich Angst habe, verletzt bin, mich hilflos fühle und dann komische unwichtige Sachen sage, die völlig zusammenhanglos erscheinen.

Während der Fahrt nach Hause hatte ich die ganze Zeit den Kopf in Deinem Schoß, und Du hast mein Gesicht gestreichelt. Du hast mir ein Bad eingelassen. Frische Unterwäsche rausgelegt. Mich ins Bett gebracht. Mich vorsichtig gestreichelt und sanft gehalten.

Später in der Nacht bin ich noch mal aufgewacht und stellte fest, daß ich allein im Bett war. Du hast mit einem Glas am Küchentisch gesessen, den Kopf in die Hände gestützt. Du hast geweint. Ich hab Dich in die Arme genommen und festgehalten, und Du hast Dich gewehrt und mich mit den Fäusten bearbeitet, weil an den eigentlichen Feind nicht ranzukommen war. Dann fielen Dir meine Prellungen ein, und Du hast noch heftiger geweint: „Es ist meine Schuld – ich konnte sie nicht davon abhalten!“

Ich hatte immer vor, es Dir zu sagen: In diesem Augenblick wußte ich, daß Du wirklich verstanden hast, wie sich mein Leben anfühlte. Das Ersticken an der Wut, das Gefühl der Machtlosigkeit, die Unfähigkeit, mich oder die, die mir am wichtigsten waren, zu beschützen, und doch immer wieder zurückzuschlagen, nicht aufgeben zu wollen. Damals wußte ich nicht, wie ich Dir das sagen sollte. Ich sagte nur: „Es wird schon werden, es wird alles gut.“ Und dann lächelten wir ironisch, und ich brachte Dich zurück in unser Bett und liebte Dich so gut ich in meinem Zustand konnte. In jener Nacht hast Du wohlweislich nicht versucht, mich zu berühren. Du bist mir nur mit den Fingern durchs Haar gefahren und hast geweint und geweint.

Wann haben sich unsere Wege getrennt, süße Kriegerin? Wir dachten, wir hätten den Befreiungskrieg gewonnen, als wir uns das Wort gay zu eigen gemacht hatten. Doch dann kamen plötzlich die Studierten aus ihren Löchern hervor und erklärten uns die neuen Spielregeln. (Wer hat sie eigentlich dazu ermächtigt?)

Sie warfen uns raus, sorgten dafür, daß wir uns für unser Aussehen schämten. Sie sagten, wir wären Chauvinistenschweine, der Feind. Es waren Frauen, denen sie auf diese Weise das Herz brachen. Es war nicht schwer, uns wegzuschicken, wir gingen widerstandslos.

Damals fing ich an, als Mann aufzutreten. Seltsam, vom eigenen Geschlecht ausgeschlossen zu sein und in einem Exil zu wohnen, das niemals meine Heimat sein wird.

Du warst auch verbannt, in ein anderes Land, mit Deinem Geschlecht, und doch zwangsweise von den Frauen getrennt, die Du so liebtest, wie Du Dich selbst zu lieben versuchtest.

Seit mehr als zwanzig Jahren lebe ich jetzt in diesem einsamen Land und frage mich, was wohl aus Dir geworden ist. Hast Du Dich samstags abends verschämt abgeschminkt? Bist Du in Wut entbrannt, wenn eine Frau zu Dir sagte: „Wenn ich einen Mann wollte, wäre ich mit einem richtigen Mann zusammen.“?

Gehst Du jetzt anschaffen? Arbeitest Du als Kellnerin, oder lernst Du Word Perfect 5.1?

Bist Du in einer Lesbenbar und hältst verstohlen Ausschau nach einer Butch? Reden die Frauen da auch über die Politik der Demokraten und über Seminare und Kooperativen? Bist Du mit Frauen zusammen, die nur einmal im Monat bluten?

Oder lebst Du in einer anderen Stadt, bist verheiratet und liegst neben einem arbeitslosen Fabrikarbeiter, der mir viel ähnlicher ist als sie, und lauschst auf das gleichmäßige Atmen Deiner schlafenden Kinder? Pflegst Du seine seelischen Wunden, so wie Du meine zu heilen versucht hast?

Denkst Du manchmal an mich, in der Kühle der Nacht?

Ich schreibe schon seit Stunden an diesem Brief. Meine Rippen tun mir ganz schön weh von einer Schlägerei, die ich kürzlich hatte. Du weißt schon.

Ich hätte nie so lange überleben können, wenn ich Deine Liebe nicht gekannt hätte. Und doch vermisse ich Dich immer noch schmerzlich. Und brauche Dich so sehr.

Nur Du könntest dieses Eis zum Schmelzen bringen. Kommst Du je zurück?

Das Gewitter ist jetzt vorbei. Ein rosafarbenes Leuchten breitet sich am Horizont aus. Ich denke an die Nächte, in denen ich Dich tief und langsam gefickt habe, bis der Himmel genau diese Farbe hatte.

Ich muß aufhören, an Dich zu denken, der Schmerz verschlingt mich. Ich muß die Erinnerung an Dich weglegen wie ein wertvolles altes Foto. Es gibt noch so vieles, was ich Dir sagen, mit Dir teilen will.

Da ich Dir den Brief nicht mit der Post schicken kann, schicke ich ihn an einen Ort, wo sie Erinnerungen von Frauen bewahren. Vielleicht wirst Du eines Tages, auf dem Weg durch diese große Stadt, dort einkehren und ihn lesen. Vielleicht auch nicht.

Gute Nacht, meine Liebste.

2

Ich wollte nicht anders sein. Ich sehnte mich danach, so zu sein, wie die Erwachsenen mich haben wollten, damit sie mich liebten. Ich befolgte ihre Regeln und gab mir alle Mühe, ihnen zu gefallen. Aber etwas an mir brachte sie dazu, die Augenbrauen hochzuziehen und die Stirn zu runzeln. Niemand hat sich je dazu herabgelassen, dem, was mit mir los war, einen Namen zu geben. Deshalb hatte ich auch solche Angst, daß es etwas wirklich Schlimmes war. Erst später erkannte ich die Melodie an dem ständigen Refrain „Ist das ein Junge oder ein Mädchen?“.

Ich war nur eine von vielen schlechten Karten im Leben meiner Eltern. Sie waren ohnehin verbittert und enttäuscht. Mein Vater war mit dem festen Vorsatz aufgewachsen, nicht wie sein Vater in einer Fabrik hängenzubleiben; meine Mutter hatte nicht vor, in die Ehefalle zu gehen.

Als sie sich kennenlernten, träumten sie von einem gemeinsamen spannenden Abenteuer. Als sie aus ihrem Traum erwachten, arbeitete mein Vater in einer Fabrik und meine Mutter war Hausfrau geworden. Als sie entdeckte, daß sie mit mir schwanger war, sagte meine Mutter zu meinem Vater, sie wolle sich nicht von einem Kind einengen lassen. Mein Vater bestand darauf, daß sie glücklich sein würde, wenn das Baby erst da sei. Dafür würde die Natur schon sorgen.

Meine Mutter bekam mich, um ihm das Gegenteil zu beweisen.

Meine Eltern waren wütend, weil das Leben sie betrogen hatte. Sie waren erbost, weil die Ehe ihnen die letzte Gelegenheit zur Flucht genommen hatte. Dann kam ich auf die Welt, und ich war nicht wie die anderen. Jetzt waren sie wütend auf mich. Ich kriegte es jedesmal zu hören, wenn sie die Geschichte meiner Geburt erzählten.

Regen und Wind peitschten die Wüste, als meine Mutter in den Wehen lag. Deshalb brachte sie mich zu Hause zur Welt. Der Sturm war zu heftig, um sich rauszutrauen. Mein Vater war auf der Arbeit, und wir hatten kein Telefon. Meine Mutter erzählte, als sie feststellte, daß ich gleich kommen würde, habe sie vor Angst so laut geweint, daß die alte Dineh-Indianerin aus der Wohnung gegenüber besorgt an die Tür klopfte, die Dringlichkeit der Situation sofort erfaßte und noch drei Frauen zu Hilfe holte.

Die Dineh-Frauen sangen, als ich geboren wurde. Das hat mir meine Mutter erzählt. Sie wuschen mich, wedelten Rauch über meinen winzigen Körper und boten mich meiner Mutter dar.

„Legt das Baby da drüben hin“, sagte sie zu ihnen und zeigte auf ein Körbchen neben der Spüle. Legt das Baby da drüben hin. Bei diesen Worten wurde den Indianerinnen ganz kalt. Das merkte meine Mutter wohl. Die Geschichte wurde im Laufe meiner Kindheit immer wieder erzählt, als könnte ihre ironisch-humorvolle Wiederholung den Frost auftauen, der den Worten anhing.

Ein paar Tage nach meiner Geburt klopfte die Alte wieder an unsere Tür, diesmal weil meine Schreie sie aufgeschreckt hatten. Sie fand mich ungewaschen in meinem Körbchen. Meine Mutter gestand, daß sie Angst hatte, mich zu berühren, außer um mir eine Windel anzulegen oder mir das Fläschchen zu geben. Am nächsten Tag schickte die Großmutter ihre Tochter herüber, die anbot, mich tagsüber zu sich zu nehmen, während ihre Kinder in der Schule waren – falls meiner Mutter das recht sei. Es war ihr recht und auch wieder nicht. Meine Mutter war erleichtert, da bin ich mir sicher, doch gleichzeitig fühlte sie sich verurteilt. Aber sie ließ sich darauf ein.

So wuchs ich in zwei Welten auf, tauchte in die Musik zweier Sprachen ein. Die eine Welt bestand aus Cornflakes und Milton Berle. Die andere aus frittiertem Maisbrot und Salbei. Die eine war kalt, aber meine Welt; die andere war warm, aber nicht meine Welt.

Als ich vier Jahre alt war, setzten meine Eltern meinem zweiten Leben ein Ende. Eines Abends kamen sie, um mich abzuholen. Ein paar Frauen hatten ein großes Festessen gekocht und alle Kinder zusammengetrommelt. Sie fragten meine Eltern, ob ich nicht bleiben könnte. Mein Vater erschrak, als er eine der Frauen etwas in einer Sprache zu mir sagen hörte, die er nicht verstand, und ich mit Worten antwortete, die er noch nie gehört hatte. Später sagte er, daß er nicht danebenstehen und zusehen könnte, wie sein eigen Fleisch und Blut von Indianerinnen vereinnahmt würde.

Ich habe über diesen Abend nur Bruchstücke erfahren, weiß also nicht, was sonst noch geschah. Ich wünschte, ich wüßte es. Aber eines habe ich wieder und wieder zu hören gekriegt: Eine Frau sagte zu meinen Eltern, daß ich einen schweren Weg vor mir hätte. Die genaue Wortwahl schwankte beim Wiedererzählen. Manchmal spielte meine Mutter Wahrsagerin, schloß die Augen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen und sagte: „Ich sehe für dieses Kind ein schweres Leben voraus.“ Dann wieder bellte mein Vater wie der Zauberer von Oz: „Dieses Kind hat einen harten Weg vor sich!“

Jedenfalls zerrten meine Eltern mich da raus. Aber bevor sie gingen, gab die Großmutter meiner Mutter einen Ring und sagte ihr, er würde mich beschützen helfen. Der Ring machte meinen Eltern angst, aber sie dachten sich, daß der Türkis und das Silber ja etwas wert sein müßten, also nahmen sie ihn an.

An diesem Abend tobte wieder ein schrecklicher Wüstensturm, dessen Wucht meine Eltern verängstigte. Der Donner krachte, und die Blitze erhellten alles.

„Jess Goldberg?“ fragte die Lehrerin.

„Hier“, antwortete ich.

Die Lehrerin kniff die Augen zusammen. „Was ist denn das für ein Name? Ist das die Kurzform von Jessica?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Ma’am.“

„Jess“, wiederholte sie. „Das ist kein Mädchenname.“ Ich ließ den Kopf hängen. Um mich herum hielten die Kinder sich die Hand vor den Mund, um ihr Kichern zu ersticken.

Miss Sanders starrte sie wütend an, bis sie ruhig waren. „Ist das ein jüdischer Name?“ fragte sie. Ich nickte und hoffte, daß sie mit mir fertig war. War sie nicht.

„Kinder, Jess ist jüdischen Glaubens. Jess, erzähl der Klasse, wo du herkommst.“

Ich wand mich auf meinem Stuhl. „Aus der Wüste.“

„Was? Sprich lauter, Jess.“

„Ich komme aus der Wüste.“ Ich sah, wie die Kinder sich anstießen und die Augen verdrehten.

„Aus welcher Wüste? In welchem Bundesstaat?“ Sie schob sich die Brille auf der Nase hoch.

Ich erstarrte vor Angst. Das wußte ich nicht. „Aus der Wüste.“ Ich zuckte die Achseln.

Miss Sanders wurde sichtlich ungeduldig. „Warum hat deine Familie beschlossen, nach Buffalo zu ziehen?“

Wie sollte ich das wissen? Dachte sie vielleicht, Eltern erzählten sechsjährigen Kindern, warum sie große Entscheidungen trafen, die ihr Leben veränderten? „Wir sind gefahren“, sagte ich. Miss Sanders schüttelte den Kopf. Ihr erster Eindruck von mir war kein guter.

Die Sirenen heulten. Wie jeden Mittwochmorgen gab es Probealarm. Uns wurde eingeschärft, die Bombe wie einen Fremden zu behandeln: bloß keinen Blickkontakt. Wenn ihr die Bombe nicht sehen könnt, kann sie euch auch nicht sehen.

Es fiel keine Bombe – es war nur eine Übung für den Ernstfall. Aber die Sirene hatte mich gerettet.

Ich fand es schade, daß wir aus der Wärme der Wüste in diese kalte, kalte Stadt gezogen waren. Nichts hätte mich darauf vorbereiten können, an einem Wintermorgen in einer ungeheizten Wohnung aufzustehen. Auch die Angewohnheit, unsere Kleidung im Backofen aufzuwärmen, bevor wir sie anzogen, half nicht viel. Schließlich mußten wir trotzdem erst mal den Schlafanzug ausziehen. Die Kälte draußen war so stechend, daß der Wind mir in die Nase biß und ins Gehirn schnitt. Die Tränen gefroren mir in den Augen.

Meine Schwester Rachel war noch ein Kleinkind. Ich kann mich nur an einen mit Schals umwickelten dicken Schneeanzug mit Fäustlingen und Mütze erinnern. Kein Kind, nur Kleidungsstücke.

Selbst im tiefsten Winter, wenn ich dick eingemummelt war und nur ein paar Quadratzentimeter meines Gesichts zwischen der Kapuze meines Schneeanzugs und meinem Schal herausschauten, hielten mich die Erwachsenen an und fragten: „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ Ich senkte verschämt den Blick und zweifelte die Berechtigung dieser Frage niemals an.

Im Sommer gab es in der Siedlung nicht viel zu tun, aber dafür hatten wir viel Zeit.

Die Siedlung bestand aus den Gebäuden einer ehemaligen Kaserne, die jetzt die Arbeiter der beim Militär unter Vertrag stehenden Luftfahrtindustrie und ihre Familien beherbergten. Alle unsere Väter arbeiteten in derselben Fabrik; alle unsere Mütter blieben zu Hause.

Old Man Martin war Rentner. Er saß in einem Liegestuhl auf seiner Veranda und verfolgte die McCarthy-Prozesse im Radio. Es war so laut gestellt, daß wir es im ganzen Viertel hören konnten. „Mußt aufpassen“, sagte er zu mir, wenn ich an seinem Haus vorbeikam, „die Kommunisten können überall sein. Überall.“ Ich nickte feierlich und ging spielen.

Aber Old Man Martin und ich hatten etwas gemeinsam. Das Radio war auch mein bester Freund. Die Jack Benny Show und Fibber McGee and Molly brachten mich zum Lachen, auch wenn ich gar nicht wußte, was da so lustig war. Bei The Shadow und The Whistler lief es mir eiskalt den Rücken runter.

Vielleicht gab es in Arbeiterfamilien außerhalb unserer Siedlung schon Fernseher, aber bei uns nicht. Die Straßen der Siedlung waren nicht mal geteert – es gab nur Kieswege und riesige Lincoln-Stämme, die die Parkplätze abgrenzten. Zu uns drangen nur sehr wenige Neuerungen vor. Die Karren des Eismanns und des Scherenschleifers wurden von Ponys gezogen. Samstags kamen sie mit den Ponys ohne die Karren und verkauften einen Ritt für einen Penny. Einen Penny kostete auch ein Brocken Eis vom Eismann – mit dem Eispickel abgeschlagen. Das Eis war hart und glitschig und funkelte wie ein kalter Diamant.

Das erste Fernsehgerät, das in der Siedlung auftauchte, stand im Wohnzimmer der McKensies. Wir Kinder in der Nachbarschaft flehten unsere Eltern an, daß sie uns Captain Midnight auf dem neuen Fernseher der McKensies sehen ließen. Aber die meisten von uns durften das Haus nicht betreten. Es war zwar schon 1955, aber es gab immer noch ein paar unsichtbare Kriegszonen in der Nachbarschaft, denn es hatte einen langen und erbitterten Streik gegeben, der 1949, im Jahr meiner Geburt, beigelegt wurde. „Mac“ McKensie war ein Streikbrecher gewesen. Das Wort allein war für mich Grund genug, einen großen Bogen um ihr Haus zu machen. Spuren des Wortes waren noch immer auf der Vorderseite ihrer Kohlenkiste zu sehen, obwohl es in einem etwas anderen Grün überstrichen worden war.

Jahre später stritten sich die Väter immer noch über den Streik, am Küchentisch und am Gartengrill. Ich bekam dabei so blutrünstige Beschreibungen von Streikkämpfen mit, daß ich dachte, der Zweite Weltkrieg wäre in der Fabrik ausgetragen worden. Nachts, wenn wir meinen Vater zu seiner Schicht fuhren, hockte ich auf dem Rücksitz des Autos und spähte hinaus, an den Fabriktoren vorbei über das mittlerweile so ruhige Schlachtfeld.

Wir hatten auch Banden in der Siedlung, und die Kinder, deren Eltern Streikbrecher gewesen waren, bildeten eine kleine, aber gefürchtete Truppe. „He, Schwuli! Bist du ’n Junge oder ’n Mädchen?“ In der kleinen Welt der Siedlung gab es keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Ihre Hänseleien verfolgten mich noch, wenn ich schon längst an ihnen vorbei war.

Die Welt sprang hart mit mir um, und so wurde ich zur Einzelgängerin – oder wurde dazu gemacht.

Die Hauptstraße machte einen Schnitt zwischen unserer Siedlung und einem riesigen Feld. Es war mir verboten, diese Straße zu überqueren. Viel Verkehr gab es nicht. Ich hätte schon ziemlich lange mitten auf der Fahrbahn stehen müssen, um überfahren zu werden. Aber ich durfte diese Straße nicht überqueren. Ich tat es trotzdem, und niemand schien es zu merken.

Ich schlug mich durch das lange braune Gras, das die Straße begrenzte, und war in meiner eigenen Welt.

Auf dem Weg zum Teich hielt ich an, um die Hunde in den Außenzwingern an der Rückseite des Tierheims zu besuchen. Sie bellten und stellten sich auf die Hinterbeine, wenn ich an den Zaun kam. „Pst!“ warnte ich sie, denn der Zutritt war verboten.

Ein Spaniel drückte seine Nase durch den Maschendrahtzaun. Ich kraulte ihm den Kopf. Ich sah mich nach dem Terrier um, den ich so liebte. Er war nur einmal an den Zaun gekommen, um mich zu begrüßen, und hatte vorsichtig geschnuppert. Normalerweise lag er mit dem Kopf auf den Pfoten da, so sehr ich ihn auch lockte, und sah mich mit kummervollen Augen an. Ich hätte ihn so gern mit nach Hause genommen.

„Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ fragte ich den Spaniel.

„Wuff, wuff!“

Den Mann vom Tierschutzverein sah ich erst, als es schon zu spät war. „He, Kleiner. Was machst ’n da?“

Erwischt. „Nichts“, sagte ich. „Ich hab nichts Schlimmes getan. Nur mit den Hunden geredet.“

Er lächelte ein wenig. „Steck nicht die Finger durch den Zaun, Kleiner. Manche beißen auch.“

Ich fühlte, wie meine Ohren zu glühen anfingen. Ich nickte. „Ich suche den Kleinen mit den schwarzen Ohren. Ist er zu einer netten Familie gekommen?“

Der Mann runzelte die Stirn. „Ja“, sagte er leise. „Er ist jetzt richtig glücklich.“

Ich rannte zum Teich hinüber, um mit einem Glas Kaulquappen zu fangen. Ich stützte mich auf die Ellbogen und besah mir die kleinen Frösche, die auf die sonnendurchglühten Steine kletterten.

„Krah, krah!“ Eine riesige schwarze Krähe kreiste in der Luft über mir und landete auf einem Felsen in der Nähe. Wir betrachteten einander schweigend.

„Krähe, bist du ’n Junge oder ’n Mädchen?“

„Krah, krah!“

Ich lachte und rollte mich auf den Rücken. Der Himmel war kreideblau. Ich tat so, als läge ich auf den weißen Wattewolken. Die Erde an meinem Rücken war feucht. Die Sonne brannte heiß, die Brise kühlte mich. Ich war glücklich. Die Natur hielt mich ganz fest und hatte anscheinend nichts an mir auszusetzen.

Auf dem Rückweg traf ich auf die Bande der Streikbrecherjungen. Sie hatten einen unverschlossenen Lastwagen gefunden, der an einer Steigung geparkt war. Ein älterer Junge hatte die Handbremse gelöst und zwang zwei kleinere Jungen von meiner Seite der Siedlung, vor dem rollenden Laster herzulaufen.

„Jessy, Jessy!“ riefen sie herausfordernd und stürmten auf mich zu.

„Brian sagt, du wärst ’n Mädchen, aber ich denke, du bist bloß ’ne Memme“, sagte einer.

Ich schwieg.

„Was bist du denn nun?“ hänselte er.

Ich schlug die Arme wie Flügel. „Krah, krah!“ machte ich und lachte.

Einer der Jungs schlug mir das Glas mit den Kaulquappen aus der Hand, und es zersprang auf dem Kies. Ich trat und biß sie, aber sie hielten mich fest und banden mir die Hände mit einem Stück Wäscheleine auf den Rücken.

„Wollen mal sehn, wie du pinkelst“, sagte einer, stieß mich zu Boden, und zwei andere rissen mir die Hose und die Unterhose runter. Ich war starr vor Schreck. Ich konnte nichts gegen sie ausrichten. Ich schämte mich so, halbnackt vor ihnen zu hocken, daß mich alle Kraft verließ.

Sie stießen und schleiften mich zum Haus der alten Mrs. Jefferson und sperrten mich in die Kohlenkiste. Es war dunkel da drin. Die Kohle war hart und hatte messerscharfe Kanten. Stilliegen tat weh, aber je mehr ich mich bewegte, um so schlimmer wurden die Schnitte. Ich hatte Angst, da nie wieder rauszukommen.

Es dauerte Stunden, bis ich Mrs. Jefferson in der Küche hörte. Ich weiß nicht, was sie dachte, als sie das Gepolter in ihrer Kohlenkiste bemerkte. Doch als sie dann die kleine Klappe aufmachte und ich mühsam rauskroch, sah sie aus, als wollte sie vor Angst tot umfallen. Da stand ich in ihrer Küche, ruß- und blutverschmiert, gefesselt und halbnackt. Sie fluchte halblaut vor sich hin, während sie mich losband und mich in ein Handtuch gewickelt nach Hause schickte.

Meine Eltern waren stinksauer, als sie mich sahen. Ich habe nie verstanden wieso. Mein Vater ohrfeigte mich immer wieder, bis meine Mutter ihm in den Arm fiel und ihm etwas zuflüsterte.

Eine Woche später fiel mir einer aus der Streikbrecherbande in die Hände. Er hatte den Fehler begangen, allein in der Nähe unseres Hauses herumzulaufen. Ich zeigte ihm meinen Bizeps und forderte ihn auf, mal zu fühlen. Dann boxte ich ihn ins Gesicht. Er rannte heulend weg. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich richtig gut.

Meine Mutter rief mich zum Abendessen rein. „Wer war denn der Junge, mit dem du da gespielt hast?“

Ich zuckte die Achseln.

„Hast du ihm deine Muskeln gezeigt?“

Ich erstarrte und fragte mich, wieviel sie wohl gesehen hatte.

Sie lächelte. „Manchmal ist es besser, die Jungen in dem Glauben zu lassen, daß sie stärker sind“, sagte sie zu mir.

Ich dachte nur, sie mußte einfach verrückt sein, wenn sie das wirklich glaubte.

Das Telefon klingelte. „Ich geh schon ran“, rief mein Vater. Es war die Mutter des Jungen, dem ich die Nase blutig gehauen hatte, das merkte ich an den wütenden Blicken, die mein Vater mir zuwarf, während er zuhörte.

„Ich hab mich so geschämt“, erzählte meine Mutter meinem Vater auf der Rückfahrt von der Synagoge. Er starrte mich wütend im Rückspiegel an. Ich konnte nur seine dicken schwarzen Augenbrauen sehen. Man hatte meiner Mutter mitgeteilt, daß ich nicht mehr in die Synagoge gehen könnte, wenn ich kein Kleid trüge. Dagegen hatte ich mich bislang mit Händen und Füßen gewehrt. Ich trug immer meinen Cowboy-Anzug – ohne die Pistolen. Es war schon schwer genug für uns, die einzige jüdische Familie in der Siedlung zu sein, ohne auch noch in der Synagoge Ärger zu kriegen. Mein Vater betete unten. Meine Mutter, meine Schwester und ich mußten von der Empore aus zusehen, wie im Kino.

Es kam mir nicht so vor, als gäbe es viele Juden auf der Welt. Einige kannte ich aus dem Radio, aber in der Schule gab es keine, außer mir. Juden durften nicht auf den Schulhof. Das hatten mir die älteren Kinder gesagt, und sie setzten es auch durch.

Wir kamen nach Hause. Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Warum kann sie bloß nicht wie Rachel sein?“

Rachel warf mir einen verlegenen Blick zu. Ich zuckte die Achseln. Rachel träumte von einem Samtrock mit aufgesticktem Pudel und von straßbesetzten Lackschuhen.

Mein Vater parkte den Wagen vor dem Haus. „Du gehst sofort auf dein Zimmer, junges Fräulein! Und daß du mir da bleibst!“ Ich hatte mich schlecht benommen. Ich würde bestraft werden. Ich hatte Kopfschmerzen vor Angst. Ich wünschte mir so sehr, brav sein zu können. Ich erstickte fast an meiner Scham.

Es war kurz vor Sonnenuntergang. Ich hörte, wie meine Eltern Rachel zum Anzünden der Sabbatkerzen ins Schlafzimmer riefen. Ich wußte, sie hatten die Jalousien runtergelassen. Vor einem Monat hatten wir draußen vor den Wohnzimmerfenstern Rufe und Gelächter gehört, als meine Mutter gerade die Kerzen anzündete. Wir rannten zum Fenster und spähten hinaus ins Zwielicht. Zwei Teenager zogen sich die Hosen runter und zeigten uns ihre nackten Hinterteile. „Dreckige Juden!“ riefen sie. Mein Vater jagte sie nicht weg; er zog die Vorhänge zu. Danach beteten wir bei herabgelassenen Jalousien im Schlafzimmer.

In meiner Familie wußten alle, was Scham war.

Bald darauf verschwand mein Cowboy-Anzug aus dem Korb mit der schmutzigen Wäsche. Dafür kaufte mir mein Vater ein Annie-Oakley-Kostüm.

„Nein!“ schrie ich. „Ich will nicht! Ich will das nicht anziehn! Ich komme mir doof darin vor!“

Mein Vater packte mich am Arm. „Junges Fräulein, ich habe für dieses Annie-Oakley-Kostüm vier Dollar neunzig ausgegeben, und du ziehst es gefälligst an!“

Ich versuchte seine Hand abzuschütteln, aber er umklammerte meinen Oberarm wie ein Schraubstock. Tränen liefen mir über die Wangen. „Ich will eine Davy-Crockett-Mütze!“

Mein Vater packte noch härter zu. „Ich habe nein gesagt.“

„Aber warum denn nicht?“ heulte ich. „Alle haben eine, nur ich nicht. Warum nicht?“

Seine Antwort war mir unerklärlich. „Weil du ein Mädchen bist.“

„Ich hab die Nase voll davon, ständig gefragt zu werden, ob sie ein Junge oder ein Mädchen ist“, beschwerte sich meine Mutter bei meinem Vater. „Die Leute fragen mich dauernd danach.“

Ich war zehn Jahre alt. Ich war kein kleines Kind mehr und hatte so gar nichts Niedliches an mir, hinter dem ich mich hätte verstecken können. Die Welt verlor die Geduld mit mir, und ich bekam es mit der Angst zu tun.

Als ich noch ganz klein war, wollte ich alles dransetzen, meinen Makel zu beseitigen, was es auch sein mochte. Jetzt wollte ich mich nicht mehr ändern; ich wollte nur noch, daß die Leute aufhörten, immer nur wütend auf mich zu sein.

Einmal nahmen meine Eltern meine Schwester und mich zum Einkaufen mit in die Stadt. Als wir die Allen Street hinunterfuhren, sah ich einen Erwachsenen, dessen Geschlecht ich nicht rauskriegen konnte.

„Mami, ist das ein Mannweib?“ fragte ich laut.

Meine Eltern warfen sich amüsierte Blicke zu und brachen in Gelächter aus. Mein Vater starrte mich im Rückspiegel an. „Wo hast du denn das Wort gehört?“

Ich zuckte die Achseln, unsicher, ob ich das Wort wirklich schon mal gehört hatte, bevor es mir rausgerutscht war.

„Was ist ein Mannweib?“ wollte meine Schwester wissen. Ich war auch gespannt auf die Antwort.

„Jemand, der verrückt ist“, lachte mein Vater. „Wie ’n Beatnik.“

Rachel und ich nickten, ohne etwas zu verstehen.

Plötzlich überkam mich eine Welle böser Vorahnungen. Mir wurde ganz schlecht. Aber was es auch war, das die Angst ausgelöst hatte, es war zu furchterregend, um darüber nachzudenken. Das Gefühl verebbte so schnell wie es gekommen war.

Sachte schob ich die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern auf und sah mich um. Ich wußte, daß sie beide auf der Arbeit waren, aber es war verboten, ihr Schlafzimmer zu betreten. Also blickte ich mich zur Sicherheit erst mal verstohlen um. Dann ging ich geradewegs zum Schrank meines Vaters. Da hing sein blauer Anzug. Das hieß, daß er heute den grauen anhatte. Ein blauer und ein grauer Anzug – mehr braucht ein Mann nicht, sagte mein Vater immer. Seine Krawatten hingen ordentlich an der Innenseite der Tür.

Es war noch aufregender, seine Kommodenschublade aufzuziehen. Seine weißen Hemden waren bretthart gestärkt und zusammengefaltet. Jedes war in Papier eingewickelt und wie ein Geschenk mit einem Band versehen. In dem Augenblick, in dem ich das Band löste, wußte ich, daß ich Ärger kriegen würde. Ich hatte kein Versteck für den Abfall, das meine Mutter nicht sofort finden würde. Und mir war klar, daß mein Vater wahrscheinlich genau wußte, wie viele Hemden er besaß. Auch wenn sie alle weiß waren, konnte er wahrscheinlich genau sagen, welches fehlte.

Aber es war zu spät. Ich zog mich bis auf Baumwollunterhöschen und T-Shirt aus und schlüpfte in sein Hemd. Es war dermaßen gestärkt, daß ich den Kragen kaum zugeknöpft bekam. Ich zog mir eine Krawatte vom Halter. Jahrelang hatte ich zugesehen, wie mein Vater seinen Schlips in einer komplizierten Bewegungsabfolge geschickt wand und band, aber ich kam nicht auf des Rätsels Lösung. Ich band ihn unbeholfen zu einem Knoten. Ich kletterte auf einen Schemel, um den Anzug vom Bügel zu nehmen. Ich war überrascht, wie schwer er war. Er fiel zu Boden. Ich zog die Anzugjacke über und betrachtete mich im Spiegel. Ein Laut entwich meiner Kehle, eine Art Japsen. Mir gefiel das elfjährige Mädchen, die mir da entgegensah.

Es fehlte noch etwas: der Ring. Ich öffnete das Schmuckkästchen meiner Mutter. Da lag er. Das Silber und der Türkis bildeten eine tanzende Figur. Ich konnte nicht erkennen, ob diese Figur eine Frau oder ein Mann war. Der Ring paßte nicht mehr auf drei Finger; jetzt paßten gerade zwei hinein.

Ich starrte in den großen Spiegel über der Kommode meiner Mutter und versuchte weit in die Zukunft zu sehen, in eine Zeit, wenn diese Kleidung mir passen würde, um einen Blick von der Frau zu erhaschen, die ich einmal sein würde.

Ich sah nicht aus wie die Mädchen und Frauen im Versandhauskatalog, der mit den wechselnden Jahreszeiten ins Haus kam. Ich war immer die erste, die ihn durchblätterte, Seite für Seite. Die Mädchen und Frauen sahen alle ziemlich gleich aus, aber die Jungen und Männer auch. Ich konnte mich in den Mädchen nicht wiedererkennen. Und ich hatte noch nie eine erwachsene Frau gesehen, die so aussah, wie ich mir mich als Erwachsene vorstellte. Es gab im Fernsehen keine Frauen, die aussahen wie die kleine Frau in diesem Spiegel. Auch auf der Straße nicht. Das wußte ich. Ich hielt ständig die Augen offen.

Einen Moment lang sah ich im Spiegel, wie die Frau, die ich einmal sein würde, zurückstarrte. Sie sah verängstigt und traurig aus. Ich fragte mich, ob ich wohl den Mut haben würde, erwachsen und so wie sie zu werden.

Ich hörte nicht, wie die Schlafzimmertür aufging. Als ich meine Eltern bemerkte, war es schon zu spät. Sie dachten beide, sie müßten meine Schwester vom Zahnarzt abholen. Deshalb kamen sie beide unerwartet früh nach Hause.

Ihre Mienen erstarrten. Ich hatte solche Angst, daß mein Gesicht ganz taub wurde.

Sturmwolken sammelten sich am Horizont.

Meine Eltern redeten nicht darüber, daß sie mich in der Kleidung meines Vaters in ihrem Schlafzimmer erwischt hatten. Ich betete, noch einmal davonzukommen.

Aber kurz darauf packten mich meine Eltern unerwartet ins Auto. Sie sagten, sie brächten mich zu einer Blutprobe ins Krankenhaus. Wir fuhren im Fahrstuhl in das Stockwerk, wo der Test stattfinden sollte. Die Türen öffneten sich. Zwei riesige Männer in weißen Uniformen zogen mich aus dem Fahrstuhl. Meine Eltern blieben zurück. Die Männer drehten sich um und verschlossen das Gitter. Ich streckte die Hände nach meinen Eltern aus, aber sie sahen mich nicht einmal an, als sich die Fahrstuhltür schloß.

Der Schreck saß wie ein Elefant auf meiner Brust. Ich konnte kaum atmen.

Eine Schwester erklärte mir die Regeln: Ich mußte morgens aufstehen und den ganzen Tag draußen auf der Station bleiben. Ich mußte ein Kleid tragen, beim Sitzen die Beine übereinanderschlagen, höflich sein und lächeln, wenn man zu mir sprach. Ich nickte, als würde ich das verstehen. Ich stand immer noch unter Schock.

Ich war das einzige Kind auf der Station. Sie steckten mich zu zwei Frauen in ein Zimmer. Die eine Frau war sehr alt und den ganzen Tag am Bett festgebunden. Sie klagte und rief nach Leuten, die gar nicht da waren. Die andere Frau war jünger. „Ich heiße Paula“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Nett, dich kennenzulernen.“ Ihre Handgelenke waren verbunden. Sie erklärte mir, daß ihre Eltern ihr verboten hatten, sich mit ihrem Freund zu treffen, weil er ein Neger war. Sie hatte sich vor Kummer die Pulsadern aufgeschnitten, und deshalb hatten sie sie eingeliefert.

Den Rest des Tages spielten wir zusammen Tischtennis. Paula brachte mir den Text von „Are you lonesome tonight?“ bei. Sie lachte und klatschte, als ich meine Stimme tief klingen ließ wie die von Elvis. „Du mußt Rechauds und Mokassins machen“, riet Paula mir. „Und zwar ’ne Menge. Je mehr, je besser. Das finden sie gut.“ Ich wußte nicht, was ein Rechaud war.

In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich hörte flüsternde und lachende Männerstimmen in meinem Zimmer. Ein Reißverschluß wurde aufgezogen. Uringeruch stieg mir in die Nase. Noch mehr Lachen, und dann entfernten sich die Schritte. Mein Bettzeug war durchnäßt. Ich hatte Angst, daß man mir die Schuld geben und mich bestrafen würde. Wer hatte das getan, und warum? Ich mußte Paula fragen.

Das Licht jenseits der vergitterten Fenster war noch grau, als die Schwestern und Pfleger in unser Zimmer kamen. „Aufstehen, aufstehen!“ riefen sie.

Die alte Frau fing mit ihrem Gerufe an.

Paula wehrte sich gegen die Pfleger, biß sie in die Hände. Sie fluchten, schnallten sie fest und rollten sie aus dem Zimmer.

Eine Schwester kam an mein Bett. Ich konnte immer noch den schwachen Uringeruch auf meinem Bettzeug wahrnehmen, obwohl es schon wieder trocken war. Würde sie mich wegbringen, wenn sie es auch roch? Sie blätterte in ihren Unterlagen. „Goldberg, Jess.“ Es machte mir angst, sie meinen Namen aussprechen zu hören. „Für die hier habe ich keine Unterschrift“, sagte sie zu den Pflegern. Sie gingen alle aus dem Zimmer.

„Goldberg, Jess“, rief die alte Frau immer wieder.

Nach dem Mittagessen schlüpfte ich zurück in unser Zimmer, um mein Jo-Jo zu holen. Paula saß auf ihrem Bett und starrte ihre Pantoffeln an. Sie blickte auf und legte den Kopf schief. Sie streckte die Hand aus. „Ich heiße Paula“, sagte sie. „Nett, dich kennenzulernen.“

Eine Schwester kam herein. „Du da“, sagte sie und zeigte auf mich. Ich folgte ihr zum Schwesternzimmer. Sie hielt mir zwei Pappbecher hin. In dem einen rollten Tabletten in den schönsten Farben herum, in dem anderen war Wasser. Ich starrte die beiden Becher an.