image

FRAUEN IM SINN

image

Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,
historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de

Ahima Beerlage

Riss in der Zeit

Roman

K+S digital

Inhalt

Dornröschenschlaf

Du bist toll, so wie du bist!

Wir drehen nur die Uhr zurück

Eine fette Lüge und ich bin raus

Endlich angekommen

Zwischen Küken und Kirchen versauern

Schön, dass du endlich da bist!

Die Teufelin in ihrem Kopf

Flashback

Zehn Jahre jünger

Vertraust du mir nicht?

Hase spielen passt nicht zu dir

Er muss das einfach hinkriegen

Im Kollektiv liegt die Stärke

Ihre Insel

So eine Bitch!

Hinter der Glaswand

Keine Geheimnisse mehr

Wikinger-Nerd

Schreie waren zu hören

Das erste Spießrutenlaufen

Bleierne Schwere

Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Informationen

Ich habe es nicht mehr im Griff

Wäre doch gelacht …

Ich habe ein Recht auf ein eigenes Leben

Zwischen Baum und Borke

Erneutes Spießrutenlaufen

Ihre Chance

Speedy

Wie eine Biene im Stock

Selbst für einen Alptraum zu müde

Ende – oder Neuanfang?

Die Autorin

Dornröschenschlaf

Behutsam trägt Jana die rote Farbe dort auf, wo sie zuvor die abgeblätterten Reste entfernt, das Mauerwerk darunter gesäubert und neuen Putz aufgetragen hat. Sie beobachtet, wie das Rot tief in den frischen weißen Untergrund dringt. Dann lehnt sie sich zurück und betrachtet ihre Arbeit. Die feuchte Farbe ist noch ein wenig heller als der sie umgebende Farbton, aber sie wird beim Trocknen nachdunkeln und sich anpassen. Nicht umsonst hat Jana vorher zahlreiche Tests in Holzkästen durchgeführt, bis sie die richtige Mischung hatte. Nach dem Trocknen wird niemand mehr sehen, dass hier einmal ein Riss in dem Gemälde war. Zufrieden lässt Jana den Kopf auf das staubige Holz des Gerüstes sinken. Die Anspannung fließt aus Nacken und Armen, und samtige Entspannung breitet sich in ihrem Körper aus. Für einen kurzen Moment schließt sie die Augen, lässt das Gemälde vor der Restaurierung mit all seinen Rissen, Verwerfungen und verblassten Stellen noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Hat sie etwas vergessen? Ihr fällt nichts ein. Doch das dumpfe Gefühl, etwas übersehen zu haben, hat sich in ihrer Brust festgesetzt. Sie schlägt die Augen auf und lässt den Blick systematisch über ihre Arbeit gleiten, sucht ein weiteres Mal jeden Quadratzentimeter des Freskos ab. Da ist kein Makel mehr, versucht sie ihre innere Unruhe zu besänftigen.

»Ich bin fertig hier oben!«, ruft sie mit rauer Stimme in den hohen Kirchenraum. Ihre Stimme ist wie eingerostet nach dem stundenlangen Schweigen, und sie räuspert sich, während Heiko schnaufend von seinem Gerüst an der anderen Seite der Feldsteinkirche herunterklettert.

Jana hält sich unwillkürlich fest, als die Plattform, auf der sie liegt, bebt und protestierend knackt, während Heiko das Baugerüst erklimmt. Schwerfällig robbt er auf den staubigen Gerüstbrettern zu ihr hinüber, rollt sich ächzend auf den Rücken und klappt die Gläser seiner Lupenbrille herunter. Mit seinem wirren grauen Haarkranz, dem graumelierten Zottelbart und dem staubstarren Flanellhemd, das ihm aus dem Blaumann quillt, sieht er ziemlich schrullig aus, geht es Jana durch den Kopf. Heiko interessiert sich wenig für seine Wirkung auf Menschen. Das mag Jana an ihm. Sie grinst ihn zögerlich an, und Heiko grinst gutmütig zurück, ehe er sich mit ganzer Aufmerksamkeit dem noch feuchten Fresko zuwendet. Heikos ganze Liebe gehört alten Gemäuern und ihren Fresken. Für ihn sind sie so lebendig und verwundbar wie menschliche Wesen. Deshalb nimmt er sich viel Zeit, streicht besänftigend über Unebenheiten im Putz, hebt an einigen Stellen den Kopf ein wenig näher an das Bild heran, vertieft sich immer wieder in Details. Jana wartet zunehmend angespannt. Es ist ihr wichtig, dass Heiko mit ihrer Arbeit zufrieden ist. Die Restaurierung der Fresken in dieser alten Dorfkirche ist schließlich ihr erstes gemeinsames Projekt, und sie hofft, das Vertrauen, das Heiko ihr als Berufsanfängerin entgegengebracht hat, nicht enttäuscht zu haben.

In den fast zwölf Monaten, die sie in dieser kleinen Dorfkirche gearbeitet und die Schäden und Fehler aus vielen Jahrzehnten behutsam beseitigt haben, ist Heiko ihr nicht nur als Chef ans Herz gewachsen. Er ist zwar ein totaler Chaot, wenn es um das Geschäftliche geht, aber er liebt seine Arbeit als Restaurator. Er spricht mit den alten Steinen, was Jana anfangs ziemlich irritiert hat. Doch wenn Heiko nicht gewesen wäre, würde diese wunderschöne kleine Kirche aus dem dreizehnten Jahrhundert, die, im Barock ausgemalt, in der Reformation ihre bunten Fresken bewahren konnte und später um einen Glockenturm erweitert wurde, immer noch als Maschinenhalle einer ehemaligen LPG verrotten, die Wände zugekleistert mit schmutziggrauer Kalkfarbe. Zum Glück für das Dornröschen entdeckten einige betuchte Stadtfamilien ihre Liebe zum Landleben und zogen in das Dorf im Speckgürtel Berlins.

Zu einem romantischen Dorf gehört auch eine romantische Kirche fanden die Neuankömmlinge. Sie überredeten einige Einheimische, mit ihnen zusammen einen Förderverein für die Kirche zu gründen, um sie zu retten. Sie sammelten Geld, backten unzählige Kuchen und organisierten Benefiz-Konzerte, um die Dorfkirche wieder instandsetzen zu können. Fördergelder vom Land, der Landeskirche und dem Denkmalschutz kamen hinzu. Doch wer sollte nach der Grundsanierung des Gebäudes den Innenraum restaurieren? Kaum jemand, der oder die etwas von Kirchenbau verstand, hielt es für möglich, die alte Pracht wiederherzustellen. Doch dies war bitter nötig, um die kleine Kirche aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken und das Dorf für den Tourismus attraktiv zu machen. Glücklicherweise war auch ein gewisser Janosch mit Freundin, Kind und Hund in das Dorf gezogen, der sich an Heiko, seinen alten Genossen aus Berliner Hausbesetzerzeiten, erinnerte.

»Ich weiß noch, wie Janosch immer auf seine Alten geschimpft hat, die irgendwo im Nirgendwo in Bayern auf dem Dorf wohnen«, hatte Heiko Jana einmal grinsend erzählt, als sie abends die Pinsel und Paletten reinigten. »Und dann landet er selbst in so einem öden Nest, macht einen auf Kleinfamilie und will sogar eine Kirche renovieren. Von wegen ›Religion ist das Opium des Volkes‹.«

Während die meisten Genossinnen und Genossen aus der Hausbesetzerzeit Karriere in der Umweltbranche, bei der taz oder im Bundestag gemacht haben, ist Heiko nach den Instandsetzungsarbeiten noch einmal an die Uni gegangen, um Restaurator zu werden.

»Ich habe mich eben in diese alten Kästen verliebt. Mit denen komme ich auf jeden Fall besser klar als mit Frauen«, hatte er Jana bei einem Feierabendbier in der muffigen Dorfkneipe mit einem schiefen Lächeln erklärt. Nach drei gescheiterten Beziehungen war er überzeugter Single.

Und so war es kein Wunder, dass sein alter Genosse Janosch nur drei Bier und ein paar alte, vergilbte Bilder aus ihrer Besetzer-WG gebraucht hatte, um ihn zu überreden, der kleinen Kirche wieder zu ihrem alten Glanz zu verhelfen. Aber allein war das Projekt selbst für Heiko nicht zu schaffen – zum Glück für Jana.

Du bist toll, so wie du bist!

Fast ein halbes Jahr nach ihrem Abschluss hatte Jana immer noch keinen vernünftigen Job gefunden, und sie hatte sich bereits auf weitere lange Monate als Tresenfrau in einem kleinen Szene-Café in Berlin-Neukölln eingestellt. Denn alles, was sie bisher an Jobangeboten aufgetan hatte, waren Stellen in langweiligen Büros, in denen langweilige Gutachten für westdeutsche Immobilienhaie erstellt wurden, damit diese noch die letzte Stuckgirlande in den alten Gründerzeithäusern zu Geld machen konnten. Lieber schleppte sie weiter Latte Macchiato zu abgeranzten Tischen, an denen stumme FreiberuflerInnen auf ihre aufgeklappten Laptops mit dem angebissenen Logo starrten, als den Miethaien noch mehr Profit in die Taschen zu schaufeln.

Umso ungläubiger hatte sie vor einem Jahr auf die unscheinbare Anzeige in einem der Stadtmagazine gestarrt, die Frauke ihr aufgeregt unter die Nase gehalten hatte: »Suche ausgebildete/n Restaurator*in für Kirchenrestaurierung.«

Als Jana zum Vorstellungstermin durch die Toreinfahrt zum Hinterhof ging und die lange Schlange sah, die sich vor Heikos Werkstatttür gebildet hatte, verließ sie jedoch der Mut. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Doch dann hatte sich das Handy in ihrer Hosentasche gemeldet. Eine SMS von Frauke. »Du schaffst das! Du bist toll, so wie du bist! Kuss – Frauke«. Genau das hatte sie gebraucht. Eingehüllt in das Löwenfell aus Fraukes Worten, hob sie den Kopf, straffte die Schultern, verließ die dämmrige Toreinfahrt und stellte sich an das Ende der Schlange.

»Und das wäre wirklich dein erster Job als Restauratorin?« Heikos undurchdringlicher Blick ruhte beim Vorstellungsgespräch auf ihr und machte sie nervös. Jana wich seinen Augen aus und ließ ihren Blick Halt suchend durch die staubige, unaufgeräumte Werkstatt mit den trüben Fenstern wandern, während sie auf dem durchgesessenen Sessel mit den ausgeblichenen Polstern herumrutschte, schwieg und unbeholfen nickte. Heiko, der mit gekreuzten Beinen und verschränkten Armen an dem abgenutzten Schreibtisch lehnte, hatte sich schließlich durch den widerspenstigen Haarkranz gestrichen und gebrummt: »Und warum sollte ich dich dann nehmen?« Jana hatte fieberhaft überlegt. Wie hatte Frauke sie vor nicht allzu langer Zeit beschrieben? »Weil ich genau, hartnäckig und detailversessen bin!«, zitierte sie ihre Freundin. Sie hatte es sogar geschafft, Heiko kurz anzusehen. Er hatte bloß genickt und geschwiegen. Sekunden verstrichen, Minuten bauschten sich auf. Unruhig sah sie sich in der vollgestopften Werkstatt um. Werkzeug lag kreuz und quer auf den Ablagen, Pläne waren hier und da angepinnt, Modelle standen dicht gedrängt in den Metallregalen, und wo immer Platz war, hingen Fotos von Kirchen, Innenräumen und Gutshäusern. Jana nahm an, dass es Projekte von ihm waren, die er in der Vergangenheit restauriert hatte. Es war eine blöde Idee gewesen, hierherzukommen. Vor der Tür drängelten sich berufserfahrene Expertinnen und Experten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Mit jeder Sekunde sank ihre Zuversicht. Das hätte sie sich auch sparen können. Sie stemmte die Hände auf die Armlehnen des verschlissenen Sessels, um aufzustehen und zu verschwinden. Eine wirklich blöde Idee.

»Redest du gern bei der Arbeit?«, zerriss Heikos Stimme die Stille. Erneut musterte er sie. Jana sah ihn überrascht an. Auch diesmal konnte sie seinen Blick nicht deuten. Sie war aus dem Konzept gebracht. Der Satz war in ihren mit Frauke geprobten Vorstellungsgesprächen nicht vorgekommen. Einfach ehrlich bleiben, hatte Frauke ihr für alle Fälle geraten, und so schüttelte Jana aufrichtig den Kopf. »Nö, nicht wirklich.«

Heiko nickte, und ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Probearbeiten am Samstag, elf Uhr hier in der Werkstatt.«

Seine Ansage kam unvermittelt. Jana traute ihren Ohren nicht, doch als Heiko sich vom Schreibtisch abstieß, einen Schritt auf sie zukam und ihr seine rissige Hand zum Einschlagen hinhielt, kam sein Angebot bei ihr an. Jana atmete vor Erleichterung tief ein und aus, hatte ihr das angespannte Warten das Atmen doch zunehmend erschwert. Sie konnte sich nur mühsam beherrschen, keinen Freudenschrei auszustoßen. Das wäre jetzt das Letzte, war ihr gerade noch rechtzeitig durch den Kopf geschossen. Dann hatte sie betont lässig eingeschlagen, und Heiko hatte gegrinst.

Der Probearbeitstag war anstrengend und aufregend gewesen. Heiko war in der Tat ein Macher und kein Redner. Jana hatte immer wieder genau auf seine Hände sehen müssen, wie er die Kalkfarbe anrührte, wie er den Putz mit dem Holzstab in den hölzernen Probekästen glattstrich. Dazu brummte er Anweisungen in Kurzform. »Darf nicht zu feucht und nicht zu trocken sein«, ermahnte er sie und drückte ihr den Stab in die Hand.

Sie nahm sich Zeit für jeden Handgriff, überprüfte jeden Schritt mehrmals. Dabei sprach sie kein Wort, das nicht für die Arbeit notwendig war, während Heiko ihr knapp von dem Auftrag erzählte, den er kurzfristig angenommen hatte und für den er eine zuverlässige Mitarbeiterin brauchte. Am frühen Nachmittag hatte er sie schließlich nach Hause geschickt, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie er ihre Arbeit beurteilte, während der nächste Kandidat hinter ihr die Werkstatt betrat.

Jana quälte sich den ganzen Sonntag damit herum, ob ihre Leistung ausgereicht hatte. Hatte sie nicht eine kleine Blase im Kalk übersehen? Hatte sie nicht Klumpen in der Masse übersehen? War der Putz nicht zu zähflüssig gewesen und würde beim Trocknen rissig werden? Die Konkurrenz war groß, und sie war nicht gerade ein Glückskind. Aber sie hätte den Job so gern! Die Spannung wuchs mit jedem Atemzug, und irgendwann war sie felsenfest davon überzeugt, dass Heiko sie nicht wollte. Seit damals hatte sie sich angewöhnt, immer nur das Schrecklichste anzunehmen. So war sie auf jede Enttäuschung vorbereitet. Sollte sie dennoch Glück haben, wäre die Freude darüber eben doppelt groß, redete sie sich immer ein. Aber diesmal gelang es ihr nicht, ihre Erwartung zurückzudrängen. Sie hatte im Internet recherchiert, wollte wissen, wie die kleine Kirche aussah, und war auf der Webseite der Gemeinde fündig geworden. Unter dem Menüpunkt »Geschichte unserer Kirche« fand sie neben Außenaufnahmen auch aktuelle Fotos des verkleisterten und vernachlässigten Innenraums und alte Schwarz-Weiß-Bilder aus den zwanziger Jahren, die die ursprüngliche Pracht erahnen ließen. Der Vergleich hatte sie gerührt. Zu gern würde sie diese kleine Dorfkirche von der Verschandlung der letzten Jahrzehnte befreien.

Am Sonntagabend hatte Frauke sie liebevoll aufgezogen: »Stressessen ist ja okay, aber der zweite Becher Salted Caramel Eiscreme? Nachher nimmt dich der Typ und du bist zu dick, um auf das Gerüst zu klettern.«

Jana hatte nur schief gegrinst und gemeint: »Nervennahrung. Glaub mir, ich brauche das.« Sie startete die nächste Folge ihrer Lieblingsserie auf ihrem Streamingdienst und vergewisserte sich immer wieder, dass ihr Handy auch wirklich eingeschaltet war.

Nach vier Nächten fast ohne Schlaf hatte Heiko sie endlich erlöst. Fast hätte sie ihn in ihrer Aufregung weggedrückt, als sie das Handy hektisch aus der engen Jeanstasche fummelte. Doch dann hörte sie seine brummig-raue Stimme. »Kannst du morgen in die Werkstatt kommen und den Vertrag mit mir machen? Ich habe auch noch Pläne und Materialproben, die ich vor Ort genommen habe und die du dir ansehen solltest. Mittwoch geht’s dann nach Brandenburg. Mittags sollten die Gerüstbauer in der Kirche fertig sein und wir können loslegen mit der detaillierten Bestandsaufnahme der Schäden. Anschließend können wir dann das Material bestellen. Von Montag bis Freitag wohnen wir im Dorfgasthof. Für Kost und Logis kommen der Förderverein aus dem Dorf und die Kirche auf. Also erwarte kein Fünf-Sterne-Hotel.« Damit war für ihn alles gesagt, und er hatte aufgelegt. »Happy End und Abspann!«, hatte Frauke gejubelt und die beste Flasche Wein geköpft, die sie hatten, während Jana fassungslos auf die Couch sank. Sollte am Ende doch mal etwas gut ausgehen?

Wir drehen nur die Uhr zurück

Als Jana in der alten Werkstatt aufgeregt ihren ersten Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, ahnte sie nicht, wie hart es sein würde, bei Minustemperaturen mit drei Wollpullovern und fingerlosen Handschuhen auf einem schwindelerregenden Gerüst zu liegen und mit klammen Fingern und einem Gipseisen einen Quadratzentimeter alten Rauputz nach dem anderen vom Gewölbe zu lösen, um die ursprünglichen Bilder freizulegen. Sie hatte keinen Schimmer gehabt, wie es sein würde, jeden Abend in einem nach Blumenerde und muffigen Betten riechenden Pensionszimmer ihre schmerzenden Hände in einer Schüssel mit warmem Wasser wieder auftauen zu müssen. Doch schon nach wenigen Tagen waren Heiko und ihr klar, wie sehr sich ihre Mühe lohnen würde. Die Bilder, die zum Vorschein kamen, waren einzigartig, wenn auch an vielen Stellen schwer beschädigt. Die Farben leuchteten mit jedem Zentimeter mehr, den sie und Heiko im Kreuzgewölbe freilegten. Besonders aufregend war es für sie, im zweiten Schritt die abgeblätterten und beschädigten Stellen vorsichtig abzutragen und die winzigen Risse und Löcher in den Bildern vorsichtig mit speziellem Putz aufzufüllen, der dem ursprünglichen Material nachempfunden war, nur dass er ein modernes Konservierungsmittel enthielt. Es dauerte Tage und erforderte viele Proben, bis sie bei jedem Fresko die richtige Mischung für Putz und Farben hatten, mit denen sie die Schäden originalgetreu ausbessern konnten. Mehr oder weniger Feuchtigkeit in den Wänden, die unterschiedliche Untergrundbeschaffenheit und das verschiedene Ausmaß der Beschädigung verlangten eine individuelle Behandlung der Wandgemälde. Eine mühsame Feinarbeit, die Janas ganze Konzentration erforderte und ihr keine Zeit für andere Gedanken ließ.

Nach fast einem Jahr war diese Arbeit nun vollendet, und Jana wartete, auf dem Baugerüst hoch oben im Gewölbe liegend, angespannt auf Heikos Urteil über ihren letzten Freskenabschnitt.

»Gut sieht das aus – sehr gut sogar!« Heiko klappt die Lupenbrille hoch, streicht sich über seinen zerzausten Bart und grinst sie zufrieden an. Er klopft ihr unbeholfen auf die Schulter. »Ich habe schon gewusst, wen ich mir da ans Bein binde. Für deinen ersten Job ist das nicht übel, Mädel.«

Jana windet sich verlegen. Mit Lob kann sie nicht besonders gut umgehen. »Na ja«, sie weist auf das Bild, »die Wasserschatten hier und die alten Skizzenstriche, die habe ich nicht wegbekommen.«

Heiko begutachtet die Stellen, auf die sie ihn hingewiesen hat, noch einmal aufmerksam durch die Lupenbrille, klappt sie dann wieder hoch und schüttelt den Kopf. »Erinnerst du dich, was ich dir am Anfang gesagt habe? Wir drehen nur die Uhr zurück – wir machen nichts besser, als es je war, sondern bringen nur das zum Vorschein, was ursprünglich mal da gewesen ist. Mehr können und sollen wir auch nicht tun, denn die Bilder haben eine eigene Sprache, die sich aus den zeitlichen Gegebenheiten und den Fähigkeiten der Künstler ergibt.« Ein verdammt langes Statement, denkt Jana. So viel hat er in den letzten Wochen nie geredet. Daran erkennt man die Liebe zu seiner Arbeit, findet sie, und nimmt sich seine Worte zu Herzen. Heikos staubiger, verhornter Finger streicht behutsam über einen hellbraunen Strich, der die Konturen einer Wolke skizziert, auf der die gekrönte Madonna mit dem Jesuskind auf dem Arm schwebt.

Jana stützt sich auf die Ellenbogen und betrachtet das eher grob gestaltete Bild mit seinen Unebenheiten und Riefen im Putz und nickt widerstrebend. »Hab ich ja kapiert. Aber es sieht trotzdem irgendwie … unvollkommen aus.«

»Stimmt.« Heiko nickt. »Dass der Maler nicht Rubens hieß und nicht gerade in Italien gelernt hat, wissen wir auch. Ich sage nur: schielende Putte im Chor.« Heiko zwinkert ihr zu, verdreht wild die Augen und lacht. Janas Blick gleitet zu der Madonna mit den unförmig dicken Beinen und der schiefen Krone hinüber, und sie stimmt prustend in sein Gelächter ein.

Als sie wieder Luft bekommen, schiebt Heiko ihr Palette und Pinsel hin. »Jetzt pack deinen Kram ein. Ich habe den Gerüstbauer schon angerufen. Heute Nachmittag gehe ich dann mit den Vereinsmeiern vom Förderverein, dem Gemeindekirchenrat, dem Typen vom Denkmalschutz und der Pfarrerin zur Abnahme hier durch, und dann steht der Einweihung nichts mehr im Wege. Hier oben kann dann immer noch alles in Ruhe trocknen, weil diese Banausen die Bilder nicht mit ihren neugierigen Pfoten betatschen können. Und bei der Einweihung lassen wir uns auf Kosten von Kirche und Förderverein mal richtig volllaufen, Lehrline.«

Jana, die sein »Mädel« noch gutmütig geschluckt hat, stößt Heikos neueste Wortschöpfung dann doch auf, und sie protestiert. »Sag mal, geht’s noch, Meisterchen?« Doch die Freude über ihre gelungene Arbeit nimmt ihrem Protest jede Schärfe, und sie packt ihre Pinsel in feuchte Tücher, kratzt die Farbreste in einen bereitstehenden Plastikbehälter und mahnt gespielt sachlich: »Für dich immer noch Frau Ellinghaus.«

Heiko tippt sich an die staubige Stirn und kontert würdevoll: »Und für dich Meister Brosch.« Damit robbt er zur Leiter und klettert polternd nach unten. Jana wirft ihm grinsend ihren Farblappen hinterher und betrachtet ein letztes Mal voller Stolz das in frischen Farben leuchtende Bild über ihr.

Eine fette Lüge und ich bin raus

Jana sitzt auf der verwitterten Bank neben dem Kirchenportal, spült mit Fassbrause den Staub hinunter und blinzelt in der gleißenden Frühlingssonne, während sie ihr Handy ans Ohr drückt, um Fraukes Stimme auch gut zu hören, als diese sich freudig meldet. Sanft fragt Jana: »Was machst du gerade?«

»Ich wache mit Günther aus dem Koma auf«, klingt es etwas kratzig aus dem Hörer.

Jana stutzt. »Was machst du?«

Frauke lacht. »Eigentlich müsste ich Wäsche waschen, meine Mutter anrufen, einkaufen und Zensuren schreiben. Aber heute waren alle Kinder in der Schule total verdreht und nervig, und ich bin völlig gerädert. Auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn habe ich sogar den Waggon gewechselt, als eine Kita-Gruppe einstieg, so satt hatte ich dieses Kindergeschrei. Und jetzt liege ich in Jogginghosen auf der Couch und ziehe mir die neueste Folge von Fremde und Freunde von der Festplatte rein. Und in der wacht der Obermacker und Fiesling Günther gerade aus dem Koma auf, in das ihn sein Adoptivsohn katapultiert hat, weil er an Günthers Wagen die Bremsen manipuliert hat. Günther ist mit seinem Wagen aus der Kurve geflogen und hat sich x-mal überschlagen.«

Jana versteht nicht wirklich, was Frauke ihr da erzählt, und lacht. »Aha. Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme, wenn du aus lauter Verzweiflung schon so einen Schrott guckst.« Jana liebt es, Frauke wegen ihrer Serien aufzuziehen. Und auch diesmal steigt Frauke gespielt beleidigt darauf ein. »Du hast gut reden! Was bleibt mir denn, wenn meine Geliebte die ganze Woche über weg ist? Du darfst in aller Seelenruhe mit Wasserfarben rumklecksen, während ich die verzogenen Blagen anderer Leute an der Backe habe. Heute war wieder so eine Yoga-Tussi da und hat mir mit Zitronenmündchen verkündet, dass ihre kleine Tochter nur so aggressiv zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sei, weil sie im normalen Unterricht unterfordert ist. Eigentlich sei ihre Sophie-Henriette hochbegabt und gehöre statt auf eine Grundschule in eine Spezialklasse, wo sie gesondert gefördert werde. Ich habe ihr geraten, ihre tolle Tochter doch dann in einer Privatschule mit entsprechender Förderung anzumelden. Dann kann sie mal sehen, was sie dafür hinblättern muss.«

Jana hakt verständnisvoll nach. »Und? Ist die Kleine wirklich so eine Überfliegerin?«

Sie hört Frauke unwillig schnauben. »Blödsinn! Das ist so eine kleine Prinzessin ohne Geschwister. Ihre Antworten sind genauso blöd oder klug wie die der anderen Kinder auch. Außerdem nervt sie mit ihrem ewigen ›Guck mal, Frau Hendriks, ich hab’ neue Schuhe!‹. Dank ihrer Helikopter-Eltern kennt sie das Wort nein nicht und fällt jedes Mal wie eine Furie über die anderen Kinder her, wenn sie nicht ihren Willen bekommt. Außerdem ist sie ständig gekränkt, wenn sie nicht tausend Mal gelobt wird, und erzählt zu Hause Müll über mich. Ich kann nur hoffen, dass ihre Eltern sich nicht mit anderen zusammentun und mir das Leben zur Hölle machen. So was kann manchmal ganz schnell gehen. Der Vater ist zu allem Übel auch noch Rechtsanwalt. Ätzend, sage ich dir!«

Kurz legt sich ein dunkles Gefühl wie zäher schwarzer Teer um Janas Brust, doch sie wischt es beiseite, will ganz bei ihrer Freundin bleiben. Sie weiß, wie sehr Frauke ihre kleinen Mäuse liebt, aber auch wie erschöpft sie oft ist, wenn sie mittags heimkommt. Frauke lässt sich dann seufzend auf die Couch fallen, blättert kurz durch die Zeitung, schaut ihre Serie und nickt ein, noch während Jana ihr die Füße massiert. Jana fehlen diese ruhigen Nachmittage mit der schlafenden Frauke neben sich, ihr wirres blondes Haar auf dem zusammengeknüllten Sofakissen aufgefächert. Die gemeinsamen Wochenenden waren jetzt vollgepackt mit Besuchen bei Freundinnen, Wäsche waschen und allen Dingen, die unter der Woche liegengeblieben waren oder die sie zusammen entscheiden wollten. Da blieb für Muße und Gelassenheit wenig Raum. »Ach, Süße, bald koche ich dir auch mal wieder was Vernünftiges, wenn du aus der Schule kommst. Okay?«

Jana hört Frauke sehnsüchtig aufseufzen. »Schön wär’s. Oder wir tauschen. Du nimmst einmal die Woche die Blagen, und ich gehe dafür rumklecksen.«

Jana grinst. Normalerweise wäre das das Startsignal für eine liebevolle Kabbelei, denn Frauke weiß genau, dass Jana es nicht leiden kann, wenn ihre Liebste über ihre Arbeit als Restauratorin lästert. Doch heute wendet Jana bloß lässig ein: »Wenn wir schon von meiner Kleckserei reden – wir sind hier fertig, Heiko und ich, meine ich.« Sie grinst breit und beobachtet ein Kaninchen, das seelenruhig auf dem kleinen Kirchhof zwischen den windschiefen bemoosten Grabsteinen herumhoppelt und nach den ersten frischen Grashalmen sucht.

Frauke stößt einen kleinen Freudenschrei aus. »Echt jetzt? Heißt das, du kommst wieder zurück nach Berlin? Keine Pendelei mehr, keine Wochenendbeziehung?« Ihre Stimme rutscht vor Begeisterung eine Oktave in die Höhe.

Jana überfällt plötzlich eine unwiderstehliche Sehnsucht, Frauke zu berühren, sie in die Arme zu schließen, und sie würde sich am liebsten gleich nach Berlin beamen. Sie versucht, dieses Ziehen im Bauch lässig zu überspielen. »Sag also deinen Affären, sie sollen ihren Kram zusammenpacken und sich vom Acker machen. Ich komme nach Hause. Und wehe, ich finde fremde Dessous unter dem Bett!«

»Keine Gefahr, ich gehe immer zu denen«, gibt Frauke trocken zurück.

Damit hat sie Jana ausgekontert. Der Stich, den Jana unvermittelt spürt, schmerzt zu real. Für einen Moment bläst sich dunkle Stille zwischen ihnen auf.

Frauke durchbricht sie lachend: »Mensch, Jana, ich habe dir doch gesagt, dass ich auf solche Spielchen nicht stehe. So gut solltest du mich nach drei Jahren doch kennen. Wenn ich mich jemals, was ich nicht annehme, in eine andere vergucken sollte, wirst du es erfahren. Ich hasse Geheimnistuerei nach allem, was meine Ex mir angetan hat. Eine fette Lüge zwischen uns und ich bin raus. Das Gleiche kannst du selbstverständlich auch von mir erwarten.«

Schlagartig überfällt Jana Übelkeit. Sie schluckt, atmet unwillkürlich schnell ein, aber ihre Lunge lässt keine Luft mehr hinaus, und sie kämpft darum, ihre Bronchien wieder zu entspannen. Angestrengt versucht sie das, was ihr geschieht, herunterzuspielen. »Weiß ich doch. Ich würde nur am liebsten auf der Stelle losfahren. Ich habe es so satt, dich nur am Wochenende zu sehen.«

Jana hat gehört, wie belegt ihre Stimme klang, und sie hofft inständig, dass Frauke nichts bemerkt. Doch diese erwidert nur liebevoll ironisch: »Du vergisst die Schulferien, die ich mit dir in diesem geschmackvollen Pensionszimmer mit den zusammengeschobenen Betten verbracht habe. Ich liebe Plastikblumen, Pressholzbetten mit Hängematteneffekt und Blümchenkaffee zum Frühstück.«

Die Anspannung in ihrer Brust bringt Jana zum Husten, und das Kaninchen, das sich eben noch träge über den Friedhof geschnüffelt hat, schreckt hoch und schlüpft hektisch durch einen Spalt in der Friedhofsmauer. Jana sieht ihm bedauernd hinterher und konzentriert sich dann wieder auf Frauke. »Das mache ich wieder gut«, versichert sie zerknirscht. »Der Förderverein hier im Dorf hat uns eine Abschlussprämie für die termingerechte Fertigstellung versprochen. Die wollten doch unbedingt zum historischen Jubiläum der Kirchweihe fertigwerden, und dem Landrat kommt die Einweihung gerade recht für den regionalen Wahlkampf. Das lassen die sich was kosten. Für ein Wellness-Wochenende zu zweit wird es auf jeden Fall reichen.«

»Das klingt wunderbar.« Fraukes Stimme hat nun diesen warmen Klang, der Jana immer alle Anspannung nimmt. »Erst mal freue ich mich darauf, dich wieder bei mir zu haben. Du fehlst mir einfach.« Die Spannung in Janas Brust lässt nach, und sie atmet möglichst geräuschlos aus.

»Du mir auch«, flüstert Jana und kämpft mit den Tränen. Sie schimpft mit sich, nicht so eine sentimentale Kuh zu sein, während die Sonne flirrend hinter dem hellgrünen Blattwerk der Linde verschwindet, die am windschiefen Eisentor zum Kirchhof steht. Jana lehnt den Kopf gegen die warme Kirchenmauer, schließt die Augen und genießt Fraukes Anblick, den sie sofort vor ihrem inneren Auge hat. Jetzt holt sie befreit tief Luft, als könne sie dieses Bild bis in jede Zelle ihres Körpers atmen. »Nach der Bauabnahme packe ich meine Sachen, und dann bin ich bei dir.«

Endlich angekommen

Vor der Wohnungstür setzt Jana ihre sperrige Sporttasche ab, holt ihren Schlüssel aus der Tasche ihrer dicken Jacke, schließt geräuschlos die Wohnungstür auf, drückt sie leise auf, schnappt sich ihr Gepäck und schiebt sich in den dunklen Flur. Sie schließt die Tür hinter sich und hält kurz inne, stellt die Tasche behutsam ab und wartet, bis ihre Augen sich an die spärliche Beleuchtung gewöhnt haben. Wie erwartet, scheint nur das fahle bläuliche Licht des laufenden Fernsehers durch die offene Wohnzimmertür in den dunklen Flur. Jana schleicht hinüber, späht in den vom flackernden Licht lebendig erscheinenden Raum und lächelt unwillkürlich. Frauke liegt schlafend auf dem Sofa. Jana genießt es, ihre Liebste ungestört betrachten zu können, jedes Detail von ihr in sich aufzunehmen. Frauke hat die flauschige Decke ans Fußende getreten. Ihr Mund ist leicht geöffnet, und ihr runder Bauch hebt und senkt sich langsam. Sie atmet leise tief ein und aus. Ihr einer Arm hängt herunter, die Fernbedienung in der halboffenen Hand. Das T-Shirt ist leicht hochgerutscht und gibt den Blick auf die zarte, weiche Haut an ihrem Bauch frei. Wie gern wäre Jana schon früher dagewesen, um mit Frauke darauf anzustoßen, nicht mehr jede Woche für fünf Tage aus ihrem gemeinsamen Zuhause verschwinden zu müssen. Jana seufzt unwillkürlich auf. Wirklich schade, dass Frauke so tief und fest schläft. Aber die Abnahme durch die GeldgeberInnen und den Bürgermeister hatte ewig gedauert. Der Denkmalschützer vom Land und der Dorfhistoriker hatten sich ein Wortgefecht nach dem anderen geliefert, um zu zeigen, wer nun mehr von dieser Architektur verstand. Nur die kleine Kirche hatte keine Stimme, denn Heiko hat nach wenigen Anläufen, zwischen den beiden zu vermitteln und die Aufmerksamkeit auf seine und Janas Arbeit zu lenken, aufgegeben. Er hielt nichts von solchen Hahnenkämpfen. Der Bürgermeister dagegen wurde immer missmutiger, weil ihm zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und die Pfarrerin sah immer wieder müde auf ihre Uhr. Das Ganze war eine einzige Farce. Heiko hatte sie vorgewarnt. Das war der Preis, den sie zahlten, um ihre Arbeit über viele Monate ungestört verfolgen zu können. Immer wenn sie es kaum aushielt, stellte Jana sich vor, wie eine neugierige Frau bei einem Sonntagsspaziergang die Kirche entdeckt, in das Halbdunkel eintritt, die sanfte Kühle genießt und sich am Anblick der farbenfrohen Szenen an der Decke und den Wänden erfreut. Jana wischt die Gedanken an die letzten unangenehmen Stunden weg und widmet sich ganz dem Anblick ihrer schlafenden Freundin – und das fühlt sich einfach nur gut an. Endlich war sie dort angekommen, wo sie sein wollte.

Zwischen Küken und Kirchen versauern

»Noch eine Bildreportage über einen Geflügelzüchterverein und ich drehe durch!« Bruno schiebt das bearbeitete Bild des preisgekrönten Hahns mit dem Cursor an die im Layout dafür vorgesehene Stelle. Er hat erst vor wenigen Wochen bei der kleinen Lokalredaktion angefangen und sitzt in dem zugigsten und engsten Winkel des alten Büros, in dem sich die Schreibtische der beiden festen und der vollgemüllte Arbeitsplatz der fünf freien Mitarbeitenden drängen. Die Redaktion war gleich nach der Wende in das Verwaltungsgebäude der ehemaligen LPG gezogen. Alles seufzt Vergangenheit aus in diesen Räumen, die beim Einzug nur hastig weiß übertüncht wurden. Farbe und Glanz der Aufbruchsjahre sind längst grauer Tristesse gewichen. Nur an einer Wand hängen eine Karte der Region in ihrer Neuordnung sowie ein Plakat, das für Urlaub in der Karibik wirbt. Kleine Fluchten. Nur wenige Wochen nach der Wende war die gesamte Lokalredaktion aus alten linientreuen Reportern durch Journalistinnen und Journalisten aus dem Westen ersetzt worden, die eine ganz neue Zeitung aufbauen sollten. Und so gab es neuen Wein in alten Schläuchen. Als die Verkaufszahlen des Blattes in den Keller gingen, weil kaum etwas in der Zeitung stand, das die Bevölkerung vor Ort interessierte, sie aber auch nicht mit der »Westpresse« reden wollte, wurde die Lokalzeitung geschluckt und mit einem überregionalen Mantelteil versehen, und für die Lokalnachrichten stellte man um des Heimatgefühls willen einen unverdächtigen Journalisten aus der Region als Chefredakteur ein. Nach und nach kehrten die alten Journalisten zurück, ihre Biografien genauso schlampig übertüncht wie die Wände der Redaktion, weil sich niemand fand, der dort arbeiten wollte und weil die Zeit allen Dingen die Strenge zu nehmen scheint. Ein Sportreporter und ein Lokalredakteur aus der Region haben neben dem Chefredakteur die beiden bezahlten Stellen ergattert. Die zwei Männer kümmern sich um Dorfgeschichte, Sportvereine, Kirchengemeinden und Anekdoten aus der Heimat, und die einzige Frau, die schon ein bisschen älter ist und ehrenamtlich arbeitet, widmet sich den rührigen Landfrauengruppen und sonstigen Vereinen. Die Freien tauchen nur sporadisch auf; meistens schicken sie ihre Geschichten gleich per E-Mail an den Chefredakteur. Bruno, den neuen Volontär, ärgert es, dass sie trotzdem einen so großen Schreibtisch haben und ihm damit den wenigen Platz streitig machen. Außerdem hat er sich mehr von dieser Volontärstelle versprochen. Wenn er schon ins tiefste Brandenburg musste, um als Journalist arbeiten zu können, dann sah er sich mindestens als derjenige, der die wirklichen Probleme im Osten aufdeckte. Klammheimlich träumt er immer noch davon, die Story zu finden, die ihm erneut die Tür zum wirklich großen Journalismus öffnen kann. Stattdessen kümmert er sich um Seifenkistenrennen und Geflügelschauen. Als er damals in Berlin an der Journalistenschule der größten Boulevardzeitung Deutschlands angenommen worden war, hatte er sich schon als künftigen Korrespondenten in Washington oder zumindest als investigativen Journalisten in der Nachrichtenabteilung eines großen Blattes oder Magazins gesehen. Seine Eltern, die neben ihren Jobs als Krankenschwester und Automechaniker eine kleine Landwirtschaft betrieben, hielten seine Ambitionen, Journalist zu werden, für ein Hirngespinst und reine Zeitverschwendung. Er sollte sich »eine anständige Arbeit« suchen und den Hof weiterführen – »fertig ab!«. Nach dem Abitur wollte sein Vater, dass er zur Kreissparkasse ging und Bankkaufmann lernte, doch Bruno weigerte sich kategorisch. Bevor er sich mit einem Schlips erwürgte und alte Damen dazu überredete, ihr Erspartes irgendwelchen dubiosen Investoren in den Rachen zu werfen, würde er sich lieber in der Jauchegrube ertränken. Er blieb hart. »Ich werde Journalist!« Die Eltern blieben auch hart und drehten den Geldhahn zu. »Dann sieh zu, wie du zurechtkommst.« Er wollte es ihnen zeigen. »Ich brauche euch nicht!«, und er packte seine Sachen. Voller Enthusiasmus zog er aus seinem kleinen Dorf in Norddeutschland nach Berlin und suchte sich Jobs, um die Journalistenschule zu finanzieren. Während seine Mitstudierenden in Clubs abhingen, weil deren Eltern ihnen das Studium zahlten, fuhr er zur Nachtschicht ins Briefzentrum der Post in Schönefeld. Diese Doppelbelastung war nicht ohne Folgen geblieben. Er war manchmal einfach zu müde, um während des Praxisteils in der Redaktion der großen Zeitung, in der er während der zwei Studienjahre immer öfter eingesetzt wurde, richtig zu glänzen, aber er war überzeugt davon, dass sie schon sehen würden, was er leistete, wenn er sich einzig auf seine Arbeit als Journalist konzentrieren konnte. Doch dann kam der Schock, als er nach den zwei Jahren Ausbildung zu den wenigen gehörte, die nicht übernommen wurden. Andere große Blätter wollten ihn auch nicht. Auch beim Fernsehen fand er kein Volontariat. Im Bereich Social Media etwas Eigenes zu starten erschien ihm zu riskant. Außerdem hatte er weder Geld noch Sicherheiten, um ein eigenes Business aufzuziehen. Eine Weile konnte er die Stunden bei der Post aufstocken, doch es reichte hinten und vorn nicht. Schließlich riss er sich zusammen. Dann musste es eben die Ochsentour durch irgendwelche kleinen Zeitungsredaktionen sein. Als er dann seine jetzige Volontärstelle im Netz fand, redete er sie sich schön. Direkt vor Ort würde er sicher eine Menge lernen. Aber jetzt lernte er vor allem etwas über die Regeln und Gepflogenheiten der Freiwilligen Feuerwehr, über Ernteperioden und Geflügelzucht. Bevor er bei dem Blatt angefangen hatte, hatte er Zwerg-Wyandotten für Aprikosen oder so was gehalten. Gerade will Bruno genervt auf »Enter« klicken, als der Chefredakteur von seinem Interview mit dem Landrat zurückkommt. Auf dem Weg in sein eigenes winziges Büro, das durch eine dünne Holzwand mit halbhohen Fenstern vom übrigen Büro abgetrennt ist, hält er inne und fragt: »Was machst du denn noch hier?«

»Ich habe den Bericht über die Geflügelschau fertig und wollte ihn eben abschicken.« Sein Chef ist kurz irritiert. Solchen Kleinscheiß kann er sich natürlich nicht merken, denkt Bruno bitter, als der Chef eine wegwerfende Geste macht.

»Ach, dieser Geflügelquatsch. Ich habe was Besseres für dich.«

Bruno hält kurz den Atem an, sein Herz schlägt schneller. Ein Unfall? Ein Korruptionsskandal? Oder sogar ein Verbrechen? »Ja, Chef?«

Der Chef grinst. »Ruhig, Brauner. Es ist nicht Watergate. Du fährst übermorgen nach … weiß der Teufel, wie das Kaff noch mal heißt … jedenfalls wurde da die Kirche restauriert. Sektempfang, das übliche Pipapo. Die gute Nachricht: Du machst auch die Bilder von Promis und Publikum. Dann bekommst du ein bisschen Routine darin.« Er kramt in seiner altmodischen Aktentasche, die er an einem quer über die Brust liegenden Riemen über dem abgewetzten Jackett trägt, während er sich zwischen den Schreibtischen hindurchwindet und den Ausdruck einer E-Mail mit einigen handschriftlichen Bemerkungen auf Brunos Schreibtisch flattern lässt. »In dem Kaff haben sich ein paar zugezogene Westler und die Dorfgrößen zusammengetan, um die verfallene Kirche restaurieren zu lassen. Echt schmuckes Ding – hab selbst mal einen Blick reingeworfen. Ursprünglich aus dem Barock oder so. So ein Rasputin-Typ und seine mürrische Assistentin wursteln seit einem Jahr in der Kirche herum. Nicht gerade Meisterwerke, diese Wandgemälde, aber ganz nett. Wir haben schon mal darüber berichtet. Die Dorf-Promis findest du mit Bild und Lebenslauf unter dem Ortsnamen im digitalen Archiv. Und jetzt wollen die Gönner natürlich alle ins Blatt. Politprominenz der Landesregierung kommt auch, schließlich ist Wahlkampf in der Region. Also, fang einfach ein paar schöne Fotos ein und schreib einen knackigen Text als Bildunterschrift. Vergiss nicht, dir immer Name, Funktion und Alter aufzuschreiben. Du machst das schon.« Damit dreht er sich um, schlängelt sich durch den vollgestellten Raum bis zu seinem Büro und schließt so energisch die Tür hinter sich, dass die Scheiben der Trennwand leise klirren. Bruno sieht, wie er sein verknittertes Jackett lässig auf den Aktenschrank wirft, während er den PC und seine Schreibtischlampe einschaltet. Wie ein Klischee von einem Redakteur, denkt Bruno finster. Hat wohl zu viele Spielfilme aus den fünfziger Jahren geguckt. Dieser Typ in seinen ausgebeulten Cordhosen hält ihn wohl für den letzten Anfänger. Der ist sicher nicht auf der Journalistenschule gewesen. Bruno muss sich zwingen, die E-Mail zu der Kirchensache nicht vom Tisch zu fegen. Nicht dass sein Chef das noch sieht. Dorfkircheneinweihung – echt jetzt? Hatte er Journalismus studiert, um zwischen Küken und Kirchen zu versauern? »Hätte ich bloß nicht diesen Job am Ende der Welt angenommen!«, stößt Bruno zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und fährt seinen Rechner herunter.

Schön, dass du endlich da bist!

Jana setzt sich behutsam ans Ende der Couch und genießt den Anblick ihrer schlafenden Geliebten, auf der das bläuliche Fernsehlicht tanzt. Wie oft hat sie sich abends in der muffigen Pension dieses Bild vor ihrem inneren Auge ausgemalt.