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FRAUEN IM SINN

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Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,
historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de

Ian Hamilton

DIE ZWEI SCHWESTERN VON BORNEO

Ein Ava-Lee-Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Adele Marx

K+S DIGITAL

Für meinen Bruder Colin und meine Schwester Karen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

1

ALS SIE MAY LING WONG allein am Eingangsportal der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis stehen sah, ahnte Ava Lee sofort, dass etwas nicht stimmte.

Es war der zweite Samstag im Januar, und der Himmel war bewölkt. Es war kalt und feucht, typisch für einen Wintertag in Hongkong. Ava saß in einem Bentley mit Amanda Yee – der Braut und ihrer zukünftigen Schwägerin – und drei Brautjungfern, als sie May Ling entdeckte. Amanda war im Begriff, Avas Halbbruder Michael zu heiraten, und Ava war ihre Trauzeugin. Sie waren von Sha Tin hergefahren, der Stadt in den New Territories, in der Amandas Eltern lebten.

Die fünf Frauen waren seit sechs Uhr früh auf, um von den teuersten Haarstylistinnen und Make-up-Artists Hongkongs frisiert und geschminkt und schließlich angekleidet zu werden. Ava hatte sich dagegen verwahrt, dass ihr schulterlanges schwarzes Haar zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur gestylt und gesprayt wurde. Sie hatte sich geweigert, ihr Gesicht mit Foundation und Puder zukleistern zu lassen. Doch sie hatte keine andere Wahl gehabt, als das glänzende lavendelfarbene Seidengewand anzuziehen, das Amanda für ihre Brautbegleiterinnen ausgewählt hatte. Das enge trägerlose Kleid ging ihr bis über die Knie und gab ihr das Gefühl, in buntes Plastik gehüllt zu sein.

Ava war Mitte dreißig, und dennoch war dies erst die dritte Hochzeit, an der sie teilnahm. Die erste war die Hochzeit ihrer älteren Schwester Marian gewesen, die einen gweilo Beamten namens Bruce geheiratet hatte. Im vergangenen August hatte Mimi, ihre beste Freundin, Avas besten Freund und gelegentlichen Arbeitskollegen Derek Liang in der Toronto City Hall in Anwesenheit von zehn FreundInnen und Familienmitgliedern geheiratet. Mimi war von Derek schwanger, und die Hochzeit war kaum mehr als eine Formalität gewesen. Sie hatten ihr gemeinsames Leben längst begonnen und waren kürzlich in ein Haus in Leaside gezogen, einer von Torontos wohlhabenderen Gegenden. Im Anschluss an die Zeremonie hatte Derek sie alle in ein nahegelegenes chinesisches Restaurant eingeladen. Im Kontrast dazu würde diese Hochzeit in Hongkong nach Prunk und Pracht der Kathedrale bei einem achtgängigen Festmahl im Ballsaal des Grand Hyatt fortgesetzt werden.

Als die Limousine vor der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis vorfuhr, warteten bereits drei Fotografinnen und zwei Kameramänner auf die Braut und ihre Begleitdamen. Zwanzig oder dreißig der mehreren Hundert Hochzeitsgäste drängten sich auf dem Bürgersteig, um schnell noch eine Zigarette zu rauchen. May Ling stand ein wenig abseits. Sie trug ein maßgeschneidertes Chanel-Kostüm in Korallenrot und Blassgrün, dessen Rock bis knapp übers Knie reichte. Sie starrte vor sich hin, ihr Gesicht ausdruckslos, und lehnte mit dem Rücken an der grauen Kirchenmauer.

»Da ist May«, sagte Ava an Amanda gewandt. »Sie wirkt ein wenig besorgt.«

»Was?«, sagte Amanda, die damit beschäftigt war, die meterlange Schleppe ihres elfenbeinfarbenen Hochzeitskleides von Vera Wang zusammenzuraffen.

»Ach nichts.« Ava hätte das Wort ›besorgt‹ nicht über die Lippen kommen sollen. Die Hochzeit mochte nach westlicher Manier in einer römisch-katholischen Kirche stattfinden, aber damit war nicht aller chinesischer Aberglaube außer Kraft gesetzt. Allein schon ein negatives Wort – von einer Tat ganz zu schweigen – mochte die Macht haben, das Brautpaar mit einem Fluch zu belegen. Zu Avas Aufgaben als erste Brautjungfer gehörte es, dafür zu sorgen, dass Amanda unbehelligt in ihrer Glücksblase geborgen war.

Als Ava aus der Limousine stieg, trat May Ling einen Schritt vor und winkte. Sie lächelte, aber ihre Stirn war gerunzelt und ihr Lächeln flüchtig.

Amanda glitt aus dem Wagen, posierte für die Kameras und wurde dann für weitere Fotos von ihren Brautdamen umringt. Der Plan sah vor, dass diese sie zu einem kleinen Raum gleich hinter dem Haupteingang geleiten würden, wo Amanda ein allerletztes Mal ihr Aussehen überprüfen und sich auf den Gang zum Traualtar vorbereiten konnte. Als die Brautgesellschaft sich auf den Weg in die Kirche machte, trat Ava neben Amanda.

»Wir haben noch ungefähr zwanzig Minuten, bevor die Zeremonie beginnt«, sagte Ava. »Ich werde kurz mit May Ling sprechen und mich dann drinnen wieder zu dir gesellen.«

»Wo ist May?«

»Dort drüben«, antwortete Ava, wies hinüber und merkte zu ihrer Erleichterung, dass Amanda ihrer vorherigen Bemerkung keine weitere Beachtung beimaß.

Amanda warf einen Blick in Richtung May. »Ich bin erstaunt, dass sie hier ist.«

»Warum?«

»Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen und gesagt, dass sie es vielleicht nicht schafft.«

»Warum nicht?«

»Das hat sie nicht gesagt. Sie hat nur gemeint, sie müsse sich um einige Probleme in Wuhan kümmern.«

»Nun, sie ist hier, also haben sich die Probleme vermutlich erledigt. Du gehst jetzt besser hinein.«

»Bleib nicht zu lange weg. Ich bin nervöser, als ich gedacht hätte«, sagte Amanda.

»Ich bin gleich wieder bei dir.«

Ava wandte sich ab und ging zu May Ling hinüber. Die beiden Frauen hatten sich im Jahr zuvor kennengelernt, als May und ihr Mann Changxing Ava und Onkel, ihren Partner, engagiert hatten, um einige Millionen Dollar, die das Ehepaar beim Kauf gefälschter Kunstwerke verloren hatte, aufzuspüren und zurückzuholen. Ava und Onkel waren damals auf dem Gebiet der Schuldeneintreibung tätig gewesen. Kurze Zeit später war May Ava in einem Fall, der Avas Familie – insbesondere ihren Halbbruder Michael – betraf, zu Hilfe gekommen, und die beiden Frauen hatten Freundschaft geschlossen.

May trat einen Schritt vor und breitete die Arme aus. Ava glitt hinein, und die beiden Frauen umarmten sich.

»Du siehst absolut fantastisch aus!«, sagte May.

»Ich habe den gestrigen Abend und den heutigen Morgen mit Amanda und ihren Freundinnen verbracht, die alle in den Zwanzigern sind. Seitdem fühle ich mich alt und keineswegs fantastisch.«

»Du bist auch erst Anfang dreißig. Ich bin Mitte vierzig – stell dir vor, wie ich mich fühle!«

»May, die Männer lieben dich«, erwiderte Ava.

»Changxing jedenfalls.«

Ava trat einen Schritt zurück. May war so groß wie sie – eins sechzig – und wog vielleicht fünf Pfund weniger. Sie war sehr schlank, feingliedrig und hatte, genau wie Ava, üppige Brüste, die zu zeigen sie sich nicht scheute. Ihr Haar war glatt und zu einem modischen Bob geschnitten. Ihre zarte Erscheinung mochte Verletzlichkeit suggerieren, aber sie besaß einen scharfen Verstand und nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es drauf ankam. Sie konnte jedoch auch höchst charmant und dezent verführerisch sein. Onkel behauptete, Männer wären hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie zu beschützen, und dem Wunsch, sie zu beeindrucken.

»Wo ist Changxing?«, fragte Ava.

»Er mag keine Hochzeiten, und er hasst Kirchen. Er verbringt den Nachmittag mit Onkel. Wir treffen uns nachher im Mandarin Oriental, um uns zum Abendessen umzuziehen.«

»Onkel hat mir gegenüber gar nicht erwähnt, dass er sich mit Changxing trifft.«

»Er hat Onkel heute Morgen angerufen, um zu hören, ob ihm der Besuch recht wäre. Onkel bejahte, obwohl ich Changxing gesagt habe, er hätte mit dir Rücksprache nehmen sollen.«

»Ich bin weder Onkels Pflegerin noch seine Sekretärin, und er kann es nicht leiden, wenn ich mich wie das eine oder andere verhalte.«

Onkel war genau wie Changxing und May Ling aus Wuhan in der Provinz Hubei in Zentralchina. Er war als junger Mann vor dem kommunistischen Regime geflohen. Nach seiner Ankunft in Hongkong war er in den Triaden aufgestiegen, bis er schließlich als Oberhaupt einer Triaden-Gesellschaft zurückgetreten war und sich auf Schuldeneintreibung spezialisiert hatte – ein Geschäft, in das Ava später eingestiegen war. Changxing betonte gern, dass er und Onkel gemeinsame Wurzeln hatten. Onkels Interesse an dem wohlhabenden Geschäftsmann, der als ›Kaiser von Hubei‹ bekannt war, gründete auf dessen guanxi, seinem Einfluss und seinen Verbindungen, und auf seiner Macht, Gefallen zu erweisen.

Die Beziehung zwischen Ava und May Ling existierte unabhängig von der Verbindung zwischen den beiden Männern – ein Umstand, den Onkel guthieß. Obwohl es sich weder in Worten noch Taten nachweisen ließ, hatte Ava jedoch das Gefühl, dass Changxing Onkels Begeisterung für die zunehmend enge Freundschaft der Frauen nicht teilte, zumal diese noch gefestigt worden war, indem sie kürzlich ein gemeinsames Unternehmen gegründet hatten. Die drei Schwestern war der Name ihrer Investmentgesellschaft. May Ling und Ava waren die Hauptaktionärinnen und Amanda Minderheitsaktionärin. Amanda widmete sich der Investmentgesellschaft inzwischen in Vollzeit, May Ling teilte ihre Zeit zwischen dem neuen Unternehmen und ihren Geschäftsinteressen mit Changxing auf, und Ava engagierte sich, nachdem Onkel ihr seinen Segen erteilt hatte, ebenfalls auf dem neuen Betätigungsfeld.

»Wie geht es Onkel?«, fragte May Ling leise.

»So gut es die Umstände zulassen. Der Krebs hat sich vom Magen her auf weitere Organe ausgebreitet. Die Ärzte geben nicht gern Zeitprognosen ab, aber ich glaube nicht, dass ich noch lange in Hongkong gebraucht werde.«

»Es sind jetzt vier Monate, nicht wahr?«

»Es ist schon der fünfte. Allerdings geht es ihm besser, als ich für möglich gehalten hätte. An den meisten Tagen treffen wir uns morgens zum Congee essen, und, wenn sein Zustand es erlaubt, zum Abendessen irgendwo in Kowloon. Die Abendessen werden dieser Tage seltener – es gibt nur noch wenig, was sein Magen verträgt. Das macht ihn ärgerlich, und das tun nicht viele Dinge. Aber er scheint zu akzeptieren, was geschieht, und es gelingt uns, unser Beisammensein zu genießen und über andere Themen zu sprechen. Meine Mutter ist Anfang Dezember für zwei Wochen aus Toronto hergekommen. Das war ein Segen – als Unterstützung für mich und als Ablenkung für Onkel. Sie bringt ihn zum Lachen.«

»Ava, hältst du Onkel bei diesen Gesprächen auf dem Laufenden, was unser Unternehmen angeht?«

»In groben Zügen. Ich habe ihm erzählt, dass du und Amanda euch um alles kümmert, bis ich bereit bin, mich Vollzeit einzubringen.«

»Gut.« May zögerte. Ihr Blick glitt an Ava vorbei zum Eingangsportal der Kirche. »Ich glaube, eine der Brautjungfern hält nach dir Ausschau.«

Ava wandte sich um und sah Camille im Eingang der Kirche stehen. »Ich bin gleich da!«, rief sie ihr zu.

»Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde die Situation befremdlich«, sagte May und betrachtete die Gäste, die nun allmählich in die Kirche gingen.

»Was meinst du damit?« Ava war irritiert von Mays Bemerkung.

»Entschuldige. Ich meine, dass du die Trauzeugin der Braut bist«, antwortete sie und schlug dann die Hand vor den Mund. »Ach, Ava, entschuldige noch mal. Ich wollte dich nicht kränken; es ist nur so, dass die Leute reden.«

»Ich weiß. Heute Morgen bin ich zum ersten Mal Michaels drei Brüdern – meine Halbbrüdern – begegnet. Anfangs waren sie ziemlich distanziert. Dann haben wir ein bisschen miteinander geplaudert und sie entpuppten sich als unglaublich nett. Aber ich weiß, dass sich die Leute das Maul zerreißen, weil die Tochter einer zweiten Frau eine so große Rolle bei der Hochzeit des ältesten Sohnes der ersten Frau spielt.«

»Es ist ungewöhnlich.«

»So wie ich die Sache sehe, bin ich eine Freundin und jetzt auch eine Geschäftspartnerin von Amanda. Ihr Vater Jack war ein Klient von Onkel und mir, und wir haben ihm sogar das Leben gerettet. Wenn sie jemand anders heiraten würde, hätte ich die gleiche Rolle inne. Ich bin ihretwegen hier.«

»Ava …« Erneut erklang Camilles Stimme vom Eingangsportal herüber.

»Ich muss gehen«, sagte Ava zu May.

»Können wir uns morgen zum Frühstück treffen? Wir könnten Dim Sum im Mandarin essen.«

»Sicher, das müsste gehen«, antwortete Ava und merkte dann, dass May erneut an ihr vorbeiblickte. »Gibt’s ein Problem?«

»Nein, eigentlich nicht. Wir müssen bloß einige Dinge besprechen.«

»Ava, Amanda ist fast bereit«, sagte Camille, als sie neben Ava auftauchte und sie am Ellbogen fasste.

»Sag ihr, sie ist die schönste Braut, die ich je gesehen habe«, bat May Ava.

»Ja, das sage ich ihr«, erwiderte Ava. Dann wandte sie sich um und betrat mit Camille zusammen die Kirche.

Was für ein seltsamer Tag, dachte sie. Erst lerne ich alle meine Halbbrüder kennen, und dann erweckt May den Eindruck, als sei sie in Sorge. Und jetzt werde ich gleich vor Amanda den Gang zum Altar hinunterschreiten in dem Wissen, dass die meisten Menschen in dieser Kirche es allein schon für skandalös halten, dass ich überhaupt anwesend bin.

Ava ahnte nicht, dass der Tag noch viel seltsamer werden sollte.

2

DIE HUNDERT JAHRE ALTE KATHEDRALE der Unbefleckten Empfängnis war ein Juwel unter den Gotteshäusern mit ihrem spiegelnden schwarz-weißen Schachbrettboden, flankiert von weißen Granitsäulen und überdacht von erhabenen Bögen. Die glänzenden hölzernen Kirchenbänke waren mit Gästen in ihrer feinsten Kleidung besetzt, und Amandas ausladendes Gewand aus Seide und Chiffon raschelte leise, als sie neben ihrem Vater, Jack Yee, den Gang entlang zum Altar schritt.

Ava war denselben Gang dreißig Sekunden zuvor entlanggeschritten, die Augen fest auf den Altar vor sich geheftet. Sie meinte Gewisper und Gemurmel zu hören, aber es waren keine Worte auszumachen. Als sie ihren Platz eingenommen hatte, fiel es ihr schwer, Ruhe zu bewahren. Sie konnte nicht umhin, zur ersten Reihe hinüberzuschauen, wo ihr Vater, Marcus Lee, neben seiner ersten Frau, Elizabeth, saß. Ava hatte die erste Frau ihres Vaters nie zuvor gesehen, geschweige denn kennengelernt, dennoch wusste sie, dass sie es war. Elizabeth Lee starrte Ava an, genau wie die Frauen um sie herum, und Ava wandte rasch den Blick ab.

Wie May Ling angedeutet hatte, war Amandas Entscheidung, Ava zu ihrer Trauzeugin zu machen, sehr umstritten und Gegenstand von Klatsch und Tratsch in Hongkong. Als Tochter einer zweiten Frau wurde Ava offiziell als illegitim betrachtet, und somit war ihre herausragende Rolle bei dieser Hochzeit mehr, als manche Leute ertrugen. Ava hatte das Gerücht vernommen, dass Elizabeths vier Schwestern überlegt hatten, die Hochzeit zu boykottieren. Sie wusste nicht, ob sie es tatsächlich taten, und es war ihr wahrhaftig auch egal. Sie war da, weil Amanda, unterstützt von Jack Yee, auf ihrer Anwesenheit und ihrer Rolle bestanden hatte. Michael hatte sich bereiterklärt, seinem Vater und seiner Mutter die Idee vorzutragen. Marcus Lee hatte keine Meinung dazu geäußert; es war die Reputation seiner Frau, die auf dem Spiel stand, also war es ihre Entscheidung. Zum Entsetzen aller hatte sie sich mit Amandas Wünschen einverstanden erklärt.

Ava schaute nach rechts. Michael und seine Brüder blickten Amanda entgegen. Als sie noch ungefähr fünf Schritte entfernt war, wandte Michael sich um und schaute Ava an. Er hob kaum merklich die Brauen, und dann lächelte er, als wolle er sagen: Wer hätte gedacht, dass dieser Tag kommen würde? Ava erwiderte sein Lächeln und spürte, wie ihre Beklommenheit nachließ.

Die Zeremonie ging glatt über die Bühne, und nachdem die offiziellen Dokumente unterzeichnet waren, schritt die Hochzeitsgesellschaft unter Beifall und Hochrufen den Mittelgang entlang zum Ausgang. Ava hatte sich bei ihrem Halbbruder Peter, Michaels Trauzeugen, untergehakt und hielt den Blick fest geradeaus gerichtet. Als sie die Kirche verließen, trat das Brautpaar unter einen roten Schirm, der symbolisch böse Geister abhalten sollte. Er hatte den zusätzlichen Effekt, die beiden vor den Reiskörnern zu schützen, mit denen die Verwandtschaft und der Rest der Hochzeitsgesellschaft sie bewarfen. Nur dem Konfettiregen entrannen sie nicht.

Dem Brauch entsprechend waren der Bräutigam und sein Gefolge früher am Morgen zu dem Haus in Sha Tin gefahren, um die Braut abzuholen. Michael und Amanda stiegen nun in den Bentley, der die Braut von Sha Tin hierhergebracht hatte; Ava und die übrigen Brautbegleiterinnen stiegen in einen Mercedes, die Begleiter des Bräutigams in einen anderen. Dann fuhren die Wagen im Konvoi zum Grand Hyatt, wo der Empfang stattfand.

Im Hotel suchten Amanda und ihre Damen zunächst ihre aneinandergrenzenden Suiten auf, um sich frischzumachen und umzukleiden. Für ihren Einzug in den Ballsaal und die Teezeremonie würde Amanda ein traditionelles rotes chinesisches Hochzeitskleid tragen. Im Anschluss daran würde sie sich noch mehrmals umziehen. Das Kleid, das sie am frühen Abend tragen wollte, war bereits auf dem Bett ausgebreitet. Das eigentliche Abendkleid und das Cheongsam für später hingen im Schrank. Ava wünschte, sie hätte auch etwas – irgendetwas – zum Umkleiden, aber sie musste weiterhin das lavendelfarbene Kleid tragen.

Die abendlichen Aktivitäten fanden im Großen Ballsaal des Hyatt und dessen angrenzenden Räumlichkeiten statt. Als Amanda und ihre Damen schließlich erschienen, standen Michael, seine Brüder und beide Elternpaare bereits am Eingang beisammen. Michael eilte an Amandas Seite und führte sie in den Ballsaal und auf die Tanzfläche, wo zwei Stühle für die Teezeremonie bereitstanden.

Peter trat zu Ava. »Wir müssen auch hineingehen«, sagte er. Er führte sie zu einem kleinen Tisch rechts von den Stühlen, auf dem die Hotelbediensteten Teetassen und Teekannen bereitgestellt hatten.

»Hast du das schon einmal gemacht?«, fragte Peter.

»Nein, aber ich habe zugesehen.«

»Im Grunde ist es ganz einfach. Unsere Aufgabe ist es, Michael und Amanda fortwährend mit frischem Tee zu versorgen.«

»Ich glaube, das schaffe ich.«

Am Rande der Tanzfläche hatte sich bereits eine Gästeschar versammelt. Jack Yee und seine Frau traten herbei und nahmen auf den Stühlen Platz. Peter schenkte zwei Tassen Tee ein, gab eine davon Ava, und dann gingen sie gemeinsam zu Michael und Amanda hinüber, die direkt vor den beiden Stühlen standen. Sie nahmen die beiden Tassen Tee von Ava und Peter entgegen und wandten sich dann zu Amandas Eltern um. Sie knieten nieder, beugten die Köpfe und hielten die Teetassen hoch. Die Yees nahmen die Tassen entgegen und tranken von dem Tee. Dann beugten sie sich mit breitem Lächeln auf den Gesichtern vor. Jack Yee legte Michaels Hand auf Amandas, sagte leise etwas und reichte ihnen dann einen roten Umschlag. Ava wusste, dass dies der erste von Hunderten von roten Umschlägen – oder Taschen – war, die das Paar an diesem Abend bekommen würde, aber sie bezweifelte, dass einer der anderen annähernd so viel Geld enthielt wie dieser erste.

Die Teezeremonie war die traditionelle Art, auf die Amanda und Michael ihren älteren Verwandten und den engsten Freundinnen und Freunden der Familie ihren Respekt erwiesen. Es gab eine feste Reihenfolge. Auf die Eltern der Braut folgten die Eltern des Bräutigams, und dann würden die übrigen Verwandten, angefangen bei den Ältesten, auf den Stühlen Platz nehmen.

Marcus und seine erste Frau betraten die Tanzfläche. Als sie auf die Stühle zugingen, empfand Ava Unbehagen beim Anblick ihres Vaters mit einer Frau, die nicht ihre Mutter war. Es war eine Sache zu wissen, dass Elizabeth Lee existierte; eine andere war es, sie am Arm ihres Vaters zu sehen.

Und dann war da Elizabeths äußere Erscheinung. Sie trug ein knöchellanges Cheongsam aus gold-grünem Brokat mit einem offenen Stehkragen, der einen langen, schlanken Hals zeigte, der mit einem grünen Jadegeschmeide geschmückt war, das zu den tropfenförmigen Ohrringen passte. Das Cheongsam hatte lange ausgestellte Ärmel, die bis über die Hände reichten. Das Kleid war an einer Seite von der Fessel bis zum Knie geschlitzt und ließ eine schlanke Wade sehen. Ein Cheongsam, fand Ava immer, war ein schwierig zu tragendes Kleidungsstück. Es betonte jedweden körperlichen Makel und gereichte weder zu dünnen noch molligen Frauen zum Vorteil. An Elizabeth Lee sah es perfekt aus.

Ava wusste, dass Elizabeth um die Sechzig war, aber es überraschte sie zu sehen, dass ihr Haar nahezu weiß war. Wohlhabende Chinesinnen beugten sich normalerweise nicht so einfach der Natur. Elizabeths Haar, modisch kurzgeschnitten, umrahmte ein schmales feingezeichnetes Gesicht. Sie war ungefähr eins fünfundsechzig groß, schätzte Ava, und reichte ihrem Mann auf ihren Absätzen bis knapp über die Schulter. Sie hatte einen wundervollen Gang, langsam, beinahe gemächlich, und ganz gewiss elegant. Sie bewegt sich wie Maggie Cheung, dachte Ava, und war selbst überrascht von dem Vergleich. Ihre eigene Mutter wurde oft mit dem Hongkonger Filmstar verglichen, und einige Jahre zuvor hatte Onkel, als er von ihrem Vater und seinen Frauen sprach, gemeint, Markus scheine einen bestimmten Typ Frau zu bevorzugen und suche sich nur immer eine neue.

Auf ihrem Weg zu den Stühlen kamen Marcus und Elizabeth an Peter und Ava vorbei. Elizabeth lächelte Peter zu, als sie und Marcus Platz nahmen, und dann warf sie aus ihren dunkelbraunen Augen einen kurzen Blick auf Ava, der nicht im Mindesten unfreundlich war. Ava hielt den Blick abgewandt, als sie mit der Tasse Tee vortrat. Die Lees tranken von ihrem Tee, gaben Braut und Bräutigam den einen oder anderen Ratschlag mit auf den Weg und überreichten ihren roten Umschlag.

In der nächsten halben Stunde nahm eine Parade von Tanten und Onkeln, Freundinnen und Freunden ihren Weg zu den beiden Stühlen. Ava kannte niemanden von ihnen. Peter nannte ihr diejenigen, die mit der Familie Lee verbunden waren, einschließlich der vier Schwestern seiner Mutter und ihres Bruders. Die Schwestern warfen Ava mörderische Blicke zu, als sie sich ihnen mit dem Tee näherte, und wandten sich ab, als Ava sie Amanda zum Weiterreichen gab.

Nachdem die zweite seiner Tanten Ava brüskiert hatte, sagte Peter: »Ich entschuldige mich für meine Tanten. Sie fanden, es sei respektlos meiner Mutter gegenüber, dass du überhaupt zu der Hochzeit eingeladen warst, und als sie hörten, dass du auch noch die Trauzeugin sein würdest – nun, es war sehr unschön. Es stand sogar zu Debatte, dass sie nicht teilnehmen würden.«

»Das Gerücht habe ich gehört.«

»Ich bin froh, dass sie doch noch Vernunft angenommen haben.«

Ava sah keinen Grund, darauf etwas zu erwidern.

»Du musst jedoch zugeben, dass es aus ihrer Sicht eine etwas ungewöhnliche Situation ist«, fuhr er fort.

»Ich bin nicht als die illegitime Tochter unseres Vaters hier. Ich bin hier als Amandas Freundin.«

»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte er rasch.

Ava schaute ihm ins Gesicht und entdeckte keine Spur von Bosheit. »Das hast du nicht.«

Das Ende der Teezeremonie war das Zeichen für Amanda, nun ihr rotes Gewand anzulegen. Als Ava und sie gemeinsam den Ballsaal verließen, um in die Suite zurückzukehren, spürte Ava die Blicke der Tanten auf sich. Sie kannte kaum jemand von den Gästen. Hongkong war nicht ihr Zuhause, und weder ihre Mutter noch Onkel verkehrten in den Kreisen, die den Ballsaal bevölkerten. Die einzigen Menschen, die Ava, abgesehen von der Hochzeitsgesellschaft, kannte, waren Simon To, Michaels Geschäftspartner, seine Frau Jessie sowie May Ling und Changxing Wong. Plötzlich fiel Ava auf, dass sie May Ling seit ihrer Begegnung vor der Hochzeitszeremonie noch nicht wieder gesehen hatte.

»Hast du May Ling irgendwo gesehen?«, fragte sie Amanda.

»Nein«, antwortete Amanda abwesend, während sie ihr Make-up auffrischte.

Als sie zum Großen Ballsaal zurückkehrten, war der Geräuschpegel gestiegen und der Raum vollständig gefüllt.

Sie suchten sich ihren Weg zur Brauttafel und ließen sich zu einem Festmahl nieder, dessen Zusammenstellung stundenlange Debatten erfordert hatte. Es würde Marcus Lee an die siebenhundert US-Dollar pro Person kosten – also insgesamt etliche hunderttausend Dollar. Und zwar allein für das Essen. Ava hatte keine Ahnung, welche Kosten noch für die französischen Rot- und Weißweine hinzukommen würden, die ihnen kredenzt wurden, oder für die Bar, an der nur die exklusivsten Spirituosen ausgeschenkt wurden. Die Hochzeitsgäste erwarteten allerdings auch nichts Geringeres. Sie gehörten zu Hongkongs Elite, und es verstand sich, dass Marcus Lee es nicht riskieren würde, anlässlich der Hochzeit seines ältesten Sohnes sein Gesicht zu verlieren.

Im Gegensatz zu den meisten westlichen Hochzeitsgepflogenheiten waren es in diesem Fall die Eltern des Bräutigams, die die Kosten für die Hochzeit trugen. Ava wusste von Amanda, dass Jack Yee, ebenfalls sehr wohlhabend, Marcus angeboten hatte, die Hälfte der Kosten zu übernehmen. Sie hatte keine Ahnung, zu welcher Einigung die beiden Männer gelangt waren. Das Schild an der Tür des Ballsaals hieß die Gäste im Namen beider Familien, der Lees und der Yees, willkommen, und die Platzkarten auf den Tischen kündeten ebenfalls von der Verbindung beider Familien. Ava vermutete, dass Jack die Mitgift seiner Tochter erhöht und einige der vorhochzeitlichen Veranstaltungen bezahlt hatte, während Marcus für alles andere aufkam.

Die Männer trugen allesamt Designer-Anzüge, die nicht unter zweitausend Dollar gekostet hatten. Manche waren maßgefertigt von Jay Kos in New York oder H. Huntsman in London, und die Krawatten waren nicht weniger exklusiv – allein an einem Tisch sah Ava Krawatten von Gucci, Fendi, Hermès und Armani.

Doch wie gut die Männer auch gekleidet sein mochten, es waren die Frauen in ihrer Begleitung, die sich maximal herausgeputzt hatten. Sie trugen ein vielfältiges Spektrum an luxuriösen Roben und Platingeschmeiden mit Diamanten, Smaragden, Rubinen und Jadesteinen von leuchtendem Grün bis Weiß und allen Farbnuancen dazwischen. Niemand war bescheiden gekleidet. Sie alle besaßen Geld – oder vielmehr ihre Gatten –, und sie hatten keine Scheu, das zu zeigen. Es waren alles erste Ehefrauen, zumeist in fortgeschrittenem Alter, wie es den Eltern Yee und Lee entsprach, aber anders als Elizabeth Lee machte keine der Frauen Zugeständnisse an ihr Alter.

Auf dem Weg zum Bankett waren Ava und Amanda an Jamie und David Lee, Michaels jüngeren Brüdern, vorbeigekommen, die an zwei Tischen mit Fotos von dem Brautpaar standen. Auf jedem Tisch befand sich ein von einem weißen Seidentuch bedecktes Kistchen, in das die eintretenden Gäste einen roten Umschlag gleiten ließen. Amanda schätzte, dass das Paar vielleicht an die fünf Millionen Hongkong Dollar geschenkt bekam – es würde auf jeden Fall genug sein für einen finanziell soliden Start ihres Ehelebens.

Ava und Amanda nahmen ihre Plätze an dem Tisch in der Mitte ein, der sich direkt am Rande der Tanzfläche befand. Die übrigen Tische erstreckten sich rechts und links davon. Der nächste Tisch zu ihrer Linken wurde von der Familie Yee eingenommen, der zu ihrer Rechten von den Lees: Marcus, Elizabeth und deren Schwestern mit ihren Gatten sowie deren Bruder mit seiner Frau. Die Schwestern hatten ihre Augen auf das Kopfende des Tisches gerichtet – auf Ava. Sie versuchte sie zu ignorieren, doch ihr Unbehagen wuchs. Ava suchte den Saal nach freundlicheren Gesichtern ab, aber ihre Aufmerksamkeit glitt immer wieder zu den Lees und den herüberstarrenden Tanten zurück. Sie möchten mich tot sehen, dachte Ava.

Ava senkte den Kopf und versuchte, sie aus ihren Gedanken auszusperren. Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass Elizabeth mit ihnen sprach und auf das Kopfende des Brauttisches wies. Dann stand Elizabeth auf und betrat die Tanzfläche. Sie bewegte sich mit der gleichen gemessenen Anmut wie bei der Teezeremonie, und wieder war Ava beeindruckt von ihrer Eleganz. In der Mitte der Tanzfläche blieb Elizabeth stehen und blickte in die Runde, dann drehte sie sich um und ging direkt auf Ava zu.

Im Saal kehrte Stille ein. Ava meinte ihren Herzschlag zu vernehmen.

Etwa zehn Meter vor ihrem Tisch blieb Elizabeth stehen und sagte dann mit erhobener Stimme: »Ava, würdest du bitte herkommen.«

Ava spürte, wie Amanda sich versteifte, und hörte Michael sagen: »Mutter …«

Sie schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Marcus sich gleichfalls anschickte aufzustehen. Sie blickte ihn an und schüttelte den Kopf.

Es waren etliche Schritte vom Kopfende des Tisches bis zur Tanzfläche. Ava legte sie langsam zurück und versuchte, gelassen zu wirken, auch wenn sie nichts als äußerste Peinlichkeit verspürte. Als sie die Tanzfläche betrat und sich Elizabeth Lee näherte, erhob sich Gemurmel und Gewisper.

»Ava«, sagte die ältere Frau, hob ihre Arme auf Taillenhöhe, die Hände geöffnet, die Handflächen nach oben gewandt. Ava erstarrte. Elizabeth trat auf sie zu und ergriff ihre Hände. »Ich möchte mich für das Benehmen meiner Schwestern entschuldigen«, sagte sie.

Ava errötete und brachte kein Wort heraus.

»Keine von ihnen versteht, was du für die gesamte Familie Lee getan hast.« Die ältere Frau wich ein Stück zurück und neigte den Kopf zur Seite. »Michael hat mir erzählt, dass du hübsch bist, und ausnahmsweise hat er untertrieben. Du bist eine atemberaubend schöne junge Frau – für meinen Geschmack vielleicht ein bisschen zu sehr wie dein Vater, aber das können wir nicht ändern«, sagte sie und lächelte.

»Sie sind sehr liebenswürdig.«

»Nun, Ava, wir werden keine Freundinnen werden – dafür bin ich zu altmodisch. Aber ich freue mich, dass du mit Amanda und Michael befreundet bist, und vielleicht erstreckt sich das auch auf den einen oder anderen meiner übrigen Söhne.«

»Danke.«

»Und wenn du das nächste Mal mit deiner Mutter sprichst, richte ihr bitte aus, ich finde, dass sie eine absolut wunderbare Tochter hat, und ich gratuliere ihr, dass sie das so gut hinbekommen hat.«

»Das werde ich ihr ausrichten.«

Elizabeth beugte sich vor und flüsterte Ava ins Ohr: »Warum umarmst du mich nicht, solange die Aufmerksamkeit aller auf uns gerichtet ist?«

Ava beugte sich vor. Sie nahmen einander in die Arme; keine von beiden griff fest zu – die Geste allein zählte.

3

DAS DINNER WAR GERADEZU PERFEKT. Acht Gänge wurden serviert – eine Zahl, die sowohl als traditionell wie als glückbringend galt. Marcus Lee hatte darauf bestanden, dass jedes einzelne Gericht etwas ganz Besonderes war. Als die Kosten in die Höhe schossen, waren Amanda und Michael erschrocken gewesen, aber Marcus war nicht zu bremsen gewesen. »Mein ältester Sohn heiratet Jack Yees einzige Tochter. Das muss gebührend begangen werden«, hatte er erwidert.

»Es geht wohl mehr um deine Reputation«, entgegnete sein Sohn.

»Nicht mehr … vielleicht ebenso viel«, gab er zu. »Doch wie dem auch sei – ich möchte, dass es das beste Hochzeitsbankett aller Zeiten wird.«

Die Bediensteten erschienen mit dem ersten Gang: riesige Platten mit gegrillten Milchferkeln, deren goldene Haut unter der Saalbeleuchtung glänzte. An jedem Tisch schnitt eine Servicekraft knusprige Scheiben ab und arrangierte sie auf einer Servierplatte. Die Gäste wiederum legten die Scheiben auf dünne weiße Pfannkuchen, die fast transparent waren, und fügten dann Hoisin-Sauce hinzu, um das Gericht zu vollenden. Schwein war ein traditionelles und symbolträchtiges Gericht – es stand für Reinheit.

Als die Abalonen hereingetragen wurden, erhob sich begeistertes Gewisper. Ava schaute zum Tisch der Familie Lee hinüber und sah, dass Marcus ein breites Lächeln auf dem Gesicht hatte. Amanda und Michael hätten sich mit gewöhnlichen aufgeschnittenen Abalonen zufriedengegeben, aber Marcus hatte darauf bestanden, sie im Ganzen zu servieren und war dann noch einen Schritt weitergegangen und hatte den Catering Manager des Hyatt darum gebeten, Yoshihama-Seeohren aus Japan zu besorgen. Jede Portion Abalone – mehrere Tage geschmort, bis sie goldbraun waren und glitzerten wie flüssiges Gold, serviert mit schwarzen Pilzen – kostete Marcus Lee mehr als hundert US-Dollar.

Als Nächstes folgte Haifischflossensuppe. Die Flossen stammten eigentlich vom Sägefisch, einem haiartigen Rochen, der unter Kennern als bester Rohstofflieferant der Welt galt. Die Suppe war doppelt gegart worden und wurde mit Bambuspilzen serviert. Der erste Löffel zauberte ein Lächeln auf Avas Lippen; einige Minuten später, als weitere Tische bedient worden waren, sah sie, wie die Gäste anerkennend nickten.

Nach der Suppe folgte eine kurze Pause, um Amanda Zeit zu geben, sich erneut umzukleiden. Auf dem Weg zur Suite fragte Amanda Ava: »Was hat Elizabeth zu dir gesagt?«

Die anderen Brautdamen waren bei ihnen, und Ava merkte, dass sie vorgaben, nicht zuzuhören.

»Sie hat gesagt, sie freue sich, dass ich deine Trauzeugin bin.«

»Ich war leicht schockiert, als sie auf dich zuging.«

»Ich auch.«

»Obwohl es keinen Grund zur Sorge gab. Wir haben das gründlich mit ihr besprochen, und sie ist … nun sie ist wirklich eine tolle Frau.«

»Das glaube ich gern«, pflichtete Ava ihr bei.

In der Tat hatte Elizabeth Lees Verhalten Ava ebenfalls schockiert, aber das eigentlich Schockierende war ihre Freundlichkeit gewesen. Es war eine Sache, zuzustimmen, dass Ava eine so prominente Rolle bei der Hochzeit spielte – etwas ganz anderes jedoch war es, die Tochter ihres Gatten so warm in aller Öffentlichkeit anzuerkennen. Bis dahin war Elizabeth bloß ein Name gewesen – eine anonyme, wenn auch bedeutsame fortwährende Präsenz. Jetzt war sie real geworden, und Ava musste einen Weg finden, Elizabeth in ihre Vorstellung von Familie einzufügen.

Amanda wechselte schnell in ein elektrisch blaues seidenes Abendkleid. Dann machte sich die Brautgesellschaft auf den Weg zurück in den Ballsaal, wo die Bediensteten schon auf sie warteten, um den vierten Gang zu servieren.

Als Ava in den Ballsaal trat, hörte sie, wie jemand sie beim Namen rief. May Ling und Changxing Wong standen gleich in der Nähe der Tür. Ava ging zu ihnen hinüber. Changxing schenkte ihr ein winziges Lächeln, als sie ihn auf die rechte Wange küsste. May öffnete die Arme weit, und die beiden Frauen umarmten sich erneut. Ava schaute ihrer Freundin ins Gesicht. Sie entdeckte unvertraute Fältchen unter den Augen und Mays Blick wirkte abwesend.

»Tut mir leid, dass wir uns verspätet haben«, sagte May.

»Ich hatte eine Telefonkonferenz mit Beijing«, fügte Changxing hinzu.

»Ihr habt die Haifischflossensuppe verpasst. Aber egal – ich bin froh, dass ihr es geschafft habt.«

»Ich weiß nicht, wie lange wir bleiben können«, sagte Changxing. »Wir sind beide ziemlich müde.«

»Es wird ein quirliger Abend werden, von daher wird es sicher niemand befremdlich finden, wenn ihr irgendwann geht.«

»Falls wir uns später nicht mehr sehen sollten: Wir treffen uns morgen zum Frühstück?«, fragte May.

»Natürlich«, erwiderte Ava.

Changxing warf seiner Frau einen nervösen Seitenblick zu. »Wir suchen jetzt besser unseren Tisch«, sagte er, als eine lange Reihe von Bediensteten mit Tabletts voller Seegurken und Shrimps an ihnen vorbeizog. Er legte seinen Arm um Mays Taille, wie um sie zu beschützen.

Ava eilte davon, um sich wieder zu Amanda zu gesellen. Als sie die Brauttafel erreichte, sah sie, wie May Ling und Changxing sich ihren Weg durch den Ballsaal bahnten und die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Changxing war ein ziemlich gewöhnlich aussehender Mann von mittlerer Größe und Statur, mit einem kleinen, runden Gesicht und kurzem Haar, das glatt nach hinten gekämmt war. Ohne seinen Armani-Anzug und seine Hermès-Krawatte hätte man ihn für einen unbedeutenden chinesischen Geschäftsmann halten können. Doch er war keineswegs unbedeutend. Er war der wohlhabendste Mann in einer Provinz, die mehr als fünfzig Millionen Einwohnerinnen und Einwohner umfasste, und darum nannten die Menschen ihn den Kaiser von Hubei. Selbst in Hongkong, bei einem Fest, auf dem mehr als genug Multimillionäre zugegen waren, war er ein Mann, dem man Beachtung schenkte. Geld sprach für sich in Hongkong, und je mehr man hatte, desto lauter sprach es. Alle Gäste in dem Saal, die etwas vorstellten, wussten, wer Changxing war.

»Sieh dir nur an, wie die Frauen May anstarren«, sagte Amanda. »Selbst in einem schlichen schwarzen Kleid weckt sie ihren Neid.«

Ava hatte nicht darauf geachtet, was May trug, als sie ihr an der Tür begegnet war. Jetzt betrachtete sie das, was in der Tat ein schlichtes schwarzes Kleid war, das bis zum halben Knie ging, mit Spaghetti-Trägern und einem dezenten V-Ausschnitt. Ihr Schmuck war ebenso schlicht: ein Perlenhalsband und Diamantohrringe mit tropfenförmigen Perlen.

»Ihre Figur ist unbezahlbar«, sagte Ava.

»Ebenso wie deine«, erwiderte Amanda, als ein Tablett mit Seegurken vor sie hingestellt wurde.

»Lass uns essen«, sagte Ava.

Die Seegurken waren mit Shrimps, Shrimp-Rogen und Frühlingszwiebeln geschmort worden. Es war ein weiteres symbolträchtiges Gericht – es repräsentierte Harmonie. Zum Entzücken der Gäste fütterten Michael und Amanda einander mit winzigen Häppchen.

»Ich bin jetzt schon satt«, sagte Amanda, als ihre Teller abgeräumt wurden.

»Als Nächstes kommt Hummer und Huhn«, erwiderte Ava.

»Gott!«

Hummer und Huhn war offiziell ein einziges Gericht, die klassische Kombination von Drache und Phönix – Yin und Yang, um die Harmonie in der Ehe zu symbolisieren. Ava war eigentlich auch schon satt, aber der Hummer aus dem Wok mit Ingwer und Knoblauch und das auf Apfelholz geräucherte Huhn waren zu lecker, um es sich entgehen zu lassen.

Der sechste Gang bestand aus gedünstetem Fisch. Das Wort Fisch wird im Chinesischen genauso ausgesprochen wie das Wort Fülle. Der Caterer hatte Zuchtfisch verwenden wollen, aber Marcus hatte auf Fangfisch bestanden, weil der als glückbringender galt.

»Ich kann nicht mehr«, sagte Amanda.

»Iss wenigstens einen Bissen«, entgegnete Ava.

Reis bildete den siebten Gang. Trotz ihrer Beteuerungen, satt zu sein, vermochten weder Amanda noch Ava der köstlichen Kombination aus Reis, Ei, Pinienkernen, Krabben, Muscheln und Shrimps zu widerstehen.

»Jetzt kommen nur noch die Nudeln«, sagte Ava.

»Und das Dessert.«

Sie beide kosteten nur ein wenig von den Nudeln, die mit einer Mischung aus exotischen Pilzen angerichtet waren.

Während sie auf den Nachtisch warteten, der nicht zu den acht Gerichten gezählt wurde, trat Marcus Lee zu den Frischvermählten an den Tisch. Er strahlte. »Es war hervorragend, nicht wahr?«

»Dad, du hast dich selbst übertroffen«, antwortete Michael.

»Es war fantastisch«, fügte Ava hinzu.

»Mir haben einige gesagt, es sei das beste Hochzeitsbankett, das man ihnen je serviert habe.«

Wie aufs Stichwort traten zwei Männer zu Marcus, die voll des Lobes waren. »Warten Sie nur, bis Sie das Dessert probiert haben«, erwiderte er ihnen. »Doppelt gekochte Schwalbennestersuppe mit Kokoscreme und Kandis.«

Ava stöhnte auf. »Das klingt großartig!«

Satt oder nicht – Ava verspeiste das Dessert ganz und gar.

»Noch ein letztes Mal zurück in die Suite«, sagte Amanda, als das Festmahl schließlich vorüber war.

Ihre sämtlichen Brautdamen waren Amanda beim Anlegen ihres letzten Gewandes behilflich: ein blau-goldenes Cheongsam mit einem Schlitz an der Seite, der ihren Schenkel zeigte.

Als sie in den Ballsaal zurückkehrten, wartete Michael an der Tür mit May Ling und Changxing. Er hielt einen roten Umschlag in der Hand, den die beiden ihm offenbar eben überreicht hatten. Als May Amanda erblickte, sagte sie: »Du siehst atemberaubend aus.«

Amanda neigte den Kopf.

»Hier, das ist für dich. Ein kleines Extra.« May reichte ihr einen weiteren Umschlag.

»Das ist doch nicht nötig.«

»Ich weiß.«

Während die Frauen fortgewesen waren, hatte die Band die Bühne eingenommen und stimmte nun ihre Instrumente.

»Der erste Tanz ist unser«, sagte Michael zu Amanda.

»Und wir kehren in unser Hotel zurück«, sagte May. »Es war ein langer, anstrengender Tag, und Changxing fliegt morgen in aller Frühe nach Beijing.«

Es folgte eine rasche, aber herzliche Verabschiedung.

»Wir sehen uns beim Frühstück«, sagte May zu Ava. »Mach dir keine Gedanken wegen der Uhrzeit – ruf mich einfach an, wenn du so weit bist.«

Ein Liebeslied von Andy Lau hob leise im Hintergrund an.

»Das ist unser Zeichen«, sagte Michael.

»Tanzen wir«, erwiderte Amanda.

Die Wongs wandten sich zum Gehen. Ava registrierte allerdings noch Mays aufeinandergepresste Lippen und Changxings umwölkte Stirn. Irgendwo in ihrer Welt muss irgendetwas schiefgelaufen sein, dachte sie.

Die Musik wurde lauter, und Michael und Amanda betraten die Tanzfläche. Während der ersten Hälfte des Liedes tanzten die beiden allein miteinander, dann holte Amanda ihren Vater auf die Tanzfläche und Michael seine Mutter. Der Saal brach in Hochrufe aus.

Der Rest des Abends war Ava nur noch schemenhaft in Erinnerung. Sie hatte erwartet, dass sie viel an ihrem Tisch sitzen und die Gäste beobachten würde, aber stattdessen hatten Amanda und Michael sie gebeten, sie zu begleiten, während sie von Tisch zu Tisch wanderten. Normalerweise brachte das Brautpaar nach dem Servieren der Haifischflossensuppe einen Trinkspruch auf die Gäste aus, aber Michael und Amanda hatten beschlossen, mit dieser Tradition zu brechen. Danach war Ava die meiste Zeit auf der Tanzfläche. Der Tradition gemäß tanzte sie zuerst mit Peter, dem Trauzeugen des Bräutigams, dann folgten alle ihre Halbbrüder und schließlich auch noch ihr Vater. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er mit ihr tanzen würde.

»Das muss unangenehm für dich sein«, sagte sie.

»Nicht annähernd so unangenehm wie eure Begegnung für dich und Elizabeth«, gab er zurück.

»Sie war bezaubernd.«

»Ich kann mich glücklich schätzen.«

Ava fragte nicht, was er damit meinte.

Während der Abend voranschritt, wurde Ava zur Zielscheibe der Aufmerksamkeit eines außerordentlich attraktiven Mannes, der etwa in ihrem Alter oder vielleicht ein wenig jünger war. Er erzählte ihr, er sei als Jurist für die Regierung in Hongkong tätig. Was er nicht erwähnte, aber Amanda sehr wohl, war die Tatsache, dass er der einzige Sohn einer der wohlhabendsten Immobilienbarone der New Territories war. Er flirtete zuvorkommend und beharrlich mit Ava und bat sie zwei Mal, sich mit ihm zum Abendessen zu verabreden. Ava war versucht ihm zu sagen, dass sie lesbisch sei, aber er tanzte so gut, dass sie ihn nicht als Partner verlieren wollte.

Um Mitternacht gesellte Ava sich, aufs Angenehmste müde, zu der übrigen Hochzeitsgesellschaft am Ausgang des Ballsaales, um die Gäste zu verabschieden. Als diese an ihr vorüberströmten, kam ihr in den Sinn, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben tatsächlich Teil dieser großen Familie war. Zuvor hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter, ihre Schwester Marian und sie selbst auf irgendeiner fremden Insel gestrandet wären, an der ihr Vater von Zeit zu Zeit anlegte, während die Tanten und Halbgeschwister auf anderen fernen Inseln lebten. Jetzt war sie offiziell als Marcus Lees Tochter anerkannt worden – als Halbschwester seiner vier Söhne, und auch Elizabeth Lee hatte ihren Status bestätigt. Es gab ihr das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein – ein Gefühl, das ihre kleine Familie in Kanada ihr nicht geben konnte. Aber hier in Hongkong, wo alle, die etwas galten, alle anderen kannten und wo Familien nah beieinander lebten und ständig miteinander zu tun hatten, spürte Ava, dass sie Teil dieses größeren Kreises geworden war.

Als die letzten Gäste den Festsaal verließen, richtete Michael das Wort an die Hochzeitsgesellschaft. Er dankte allen dafür, ihren Part zu diesem fantastischen Tag beigetragen zu haben. Ava hörte zu, bis ihr Blick über Michaels Schulter hinweg auf einen Mann fiel. Er stand draußen im Gang und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Es war Sonny, Onkels Bodyguard und Chauffeur, aber es war nicht der Sonny, den sie kannte.

Wie immer trug er einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Er war ein großer Mann von gut eins fünfundneunzig mit mächtigen Schultern und kräftiger Brust, aber trotz seiner massigen Gestalt war er unglaublich behände. Er gehörte zu den wenigen Menschen, bei denen Ava bezweifelte, sie körperlich bezwingen zu können. Doch der Mann, der da im Gang stand, sah nicht aus wie jemand, den man hätte fürchten müssen. Er hatte die Arme verschränkt, die Schultern hingen tief, sein Kopf war gesenkt. Er sah aus wie ein Mann, der sich in sich selbst verkrochen hatte.

Ohne sich zu entschuldigen, verließ Ava die Gruppe und ging auf ihn zu; ihre hohen Absätze klickten auf dem Marmorboden.

»Sonny«, sagte sie.

Er sah auf und schien verwirrt. Ava fragte sich, ob er sie erkannte.

»Onkel ist gerade ins Krankenhaus gekommen. Es sieht nicht gut aus«, sagte er.

4

AVA LIESS SICH VON SONNY zum Mandarin Oriental fahren, um sich umzuziehen. Auf dem Weg dorthin erzählte er ihr, dass Onkel ihm am Samstagmorgen kräftiger als sonst erschienen war und dass er seine Wohnung seit Wochen zum ersten Mal verlassen hatte, um sich mit Onkel Fong zum Mittagessen zu treffen. Statt Congee zu bestellen, von dem er praktisch lebte, hatte er sein Lieblingsgericht gegessen: gebratene Nudeln mit Rindfleisch und XO-Sauce.

Das Restaurant war nur wenige Straßen von Onkels Wohnung in Kowloon entfernt, und er hatte darauf bestanden, zu Fuß hin- und zurückzugehen. Sonny begleitete ihn; er bot Onkel seinen Arm an, den er jedoch nicht wollte. Der Fahrstuhl im Apartmentblock war wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb, weshalb sie die Treppe bis zu Onkels Wohnung in der dritten Etage zu Fuß gehen mussten. Sonny bot an, Onkel zu tragen, woraufhin Onkel ärgerlich erwiderte, Sonny solle sich um seinen eigenen Kram kümmern. Doch Sonny blieb bei ihm; er folgte ihm, zwei Stufen hinter ihm, bis nach oben und vergewisserte sich, dass Onkel wohlbehalten in seiner Wohnung ankam.

Gegen elf Uhr abends rief Lourdes Sonny an. Onkel war kurz zuvor ins Badezimmer gegangen, weil er sich hatte übergeben müssen – was für ihn keineswegs ungewöhnlich war. Lourdes fand jedoch, dass er außerordentlich blass war, als er aus dem Bad kam, und dass sein Blick nicht fokussiert war. Sie hatte den Eindruck, dass er nicht wusste, wo er war – und vielleicht nicht einmal, wer er war. Sie folgte ihm ins Schlafzimmer und deckte ihn gut zu. Einige Minuten später hörte sie, wie er sich erneut übergab, und sie rannte zurück ins Schlafzimmer. Auf dem Bettzeug war eine Blutlache. Er machte Anstalten, aufzustehen, vielleicht wollte er wieder ins Bad, aber als sie versuchte, ihm aufzuhelfen, brach er zusammen. Sie rief einen Rettungswagen. Dann verständigte sie Sonny. Er traf noch vor dem Rettungswagen ein. Onkel war bewusstlos, er atmete rasselnd und war blass und fahl im Gesicht.

Sonny folgte dem Rettungswagen zum Queen Elizabeth Hospital im Süden von Kowloon. Nachdem Onkel aufgenommen worden war, war er zum Grand Hyatt gefahren.

»Ist er in Block R?«, fragte Ava. Block R war der Turm, in dem sie ihn früher schon besucht und in dem er sich einer Brachytherapie unterzogen hatte.

»Nein, Notaufnahme.«

»Hast du Dr. Parker angerufen?«

»Er müsste inzwischen dort sein.«

Im Mandarin zauderte Ava, was sie für den Krankenhausbesuch anziehen sollte. Sie stand unter Schock und konnte nicht klar denken. Es war eine Sache, zu verstehen, was da gerade mit Onkel passierte, aber eine ganz andere, das Unausweichliche zu akzeptieren. So lange er sie immer noch zum morgendlichen Congee getroffen hatte, war sie in der Lage gewesen, die schreckliche Realität aus ihren Gedanken zu verbannen. Jetzt wusste sie, dass es am folgenden Morgen kein Congee geben würde. Vielleicht würde es nie mehr Congee geben.