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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

Ann Wadsworth

Mrs. Medina

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch

von Andrea Krug

K+S digital

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds vielmals für die Gewährung eines Arbeitsstipendiums, das die Übersetzung dieses Romans außerordentlich beförderte.

Für Alice Robinson

1948  1999

ERSTER TEIL

In der Klinik

In der Klinik saß ich anfangs immer am Fenster und sah hinaus. Manchmal den ganzen Tag lang, oder fast den ganzen Tag. Da mein Zimmer zur Straße lag, gab es einiges für mich zu sehen, und ich entdeckte, dass sich nach einer Stunde oder so eine gewisse Regelmäßigkeit der Ereignisse einzustellen schien, eine Art Balance.

Ein Auto biegt um die Ecke, hält, setzt zurück, parkt. Eine Tür knallt zu. Eine Frau geht davon (sie ist groß, dünn, ihre Haut hat die sahnige Farbe von Cappuccino), und ihre Bahn wird von einem Mann ausgeglichen, der quer über die Straße geht, um sie einzuholen. Er winkt mit einem kleinen Päckchen, das in rotes Papier eingeschlagen ist. Sie treffen sich; sie reden miteinander. Sie küsst ihn auf die Wange. Dann setzen die beiden ihren Weg gemeinsam fort.

Während dieses Abenteuers hält ein Bus auf der Hauptverkehrsstraße, einen halben Block entfernt. Zwei Jungen, Mützen in der Hand, steigen in einem Wirbel von Beinen und fernen Rufen aus.

Eine Brise weht die Straße hinunter, hebt die Gardinen eines Zimmers in dem Backsteingebäude direkt gegenüber. Ein Stück alte Zeitung flattert und segelt über den Gehsteig. Ein Auto fährt vorbei, sein Auspuff undicht und knatternd. Ich höre ein kurzes Hämmern von Musik.

Zwei Frauen kommen die Straße herunter, beladen mit Einkaufstaschen; sie begegnen einer dritten. Sie bleiben stehen und reden miteinander. Setzen die Taschen ab. Sie lachen. Auf der anderen Straßenseite tritt eine weitere Frau aus einem Gebäude, sieht die Straße hinauf und hinunter und stemmt die Hände in die Hüften. Sie sieht in meine Richtung, setzt ihre Brille ab. (Sieht sie mich?) Graue Strähnen entwischen dem pinkfarbenen Schal, den sie sich um den Kopf geschlungen hat. Denkt sie an die Verrückten hier hinter den vergitterten Fenstern?

Ich verfolge diese Geschehnisse mit gleichgültiger Neugier und denke an Räder, Uhren, die Ordnung von Zifferblättern und Zahlen. Bin ich verrückt? War ich es?

Zu jener Zeit stand mein eigenes Leben in einer düsteren Ecke, still, doch mit einer gewissen Bedrohlichkeit, und wartete darauf, dass ich mich seinem Blick stellte. Ich versuchte, diesen Augenblick so lange wie möglich hinauszuzögern. Ich behielt die Augen auf der Straße und meine Hand auf der Uhr. (Die Straße war die Eule Avenue, in einem der eher bescheidenen Randbezirke von Boston.) Es heißt, dass unser Kosmos sich ins Chaos ausdehnt, aber in jener Straße erblickte ich die Bestätigung von Ordnung, solange ich nicht zu aufmerksam hinsah. Genau wie früher die unüberdachten Tribünen im Baseball-Stadion Fenway Park an einem heißen Juli-Nachmittag auf wundersame Weise farblich ausgewogen schienen – die roten Hemden, die weißen Hemden, das grüne Kleid, der nackte Oberkörper. Solange man nicht zu genau hinsah. Und ich musste mich hüten; wenn ich zu genau auf die Straße hinausblickte, dann sah ich vielleicht die hässlichen Tabakflecken auf den Zähnen der Frau mit dem pinkfarbenen Schal oder wie der Mann mit dem roten Päckchen sich um Mitternacht auf Zehenspitzen in das Zimmer seiner Tochter stahl und in ihr Bett glitt, in dem sie wartete, Schlaf vortäuschend, und sich wünschte, sie wäre tot.

Aus dem stillen Zentrum des Chaos beobachtete ich und versuchte geduldig zu lernen, wieder ein Leben zu leben.

Oberflächlich betrachtet war ein Großteil meines Lebens – von den letzten vier oder fünf Monaten abgesehen – so ausgewogen gewesen wie diese Straße. Ich vermute, das war die Krankheit, von der ich genesen sollte, aber ich stehe allzu offenkundigen Parallelen misstrauisch gegenüber. Ich war nicht dumm. Meine Erfahrungen gehörten jedenfalls zu der geregelten und überschaubaren Art wie, sagen wir, eine Reise durch die griechische Inselwelt, die nur fünfzehn Minuten je Insel veranschlagt, und alle sind angewiesen, spätestens um halb sechs wieder an Bord zu sein, bereit zum Ablegen. Ich glaube gern, dass einer der Gründe, aus denen ich mich zu Patrick hingezogen fühlte, darin lag, dass er so klare Vorstellungen davon hatte, was er wollte, was er mochte. Er hätte sich für eine der griechischen Inseln entschieden und die Reisegruppe gebeten, ihn dort zurückzulassen. Mit ihm zusammen musste ich nicht länger eigene Entschlüsse fassen. Nach seinem Tod jedoch musste ich natürlich sofort eine ganze Lebzeit an Entscheidungen treffen. Und zu der Zeit waren die meisten meiner Wahlmöglichkeiten bereits verstrichen. Oder die wichtigste, vielleicht.

In jener Klinik zu sein war eine verstörende Erfahrung, obwohl die anderen das glücklicherweise nicht zu bemerken schienen. Als Hauptgrund dafür, mich freiwillig in die Klinik begeben zu haben, führte ich an, dass ich jemanden brauchte, der mich eine Weile bekochte. Ich glaubte nicht, ernsthaft gestört zu sein. Doch der Körper kann – ganz auf sich gestellt – verrückt spielen, während der Kopf noch klar denkt. Ich glaube nicht, dass ich gegessen hätte, wenn nicht jemand anders gekocht hätte. Taylor Bond, mein Therapeut, hatte einiges dazu zu sagen. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber wir kommen miteinander klar. Es spielt im Grunde keine Rolle, wer von uns recht hat.

Anfangs gab es in meinem Klinikzimmer nur das Bett, einen schlichten Holztisch, eine Metalllampe mit einem biegsamen Schwanenhals. Einen schweren Polstersessel, in dem ich lesen konnte. Ein gerahmtes Blumenbild an der Wand, ich weiß nicht, was für Blumen – ich konnte Blumen damals nicht lange genug ansehen, um sie zu bestimmen. Rote und gelbe. Auf meinem Tisch lag ein einziges Buch, ein Wörterbuch. Anfangs wunderte ich mich nicht darüber. Später, als ich länger wachblieb, blätterte ich in dem Wörterbuch, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich entdeckte, dass eine Seite schrecklich zerknüllt und dann wieder glattgestrichen worden war, nicht übermäßig erfolgreich. Auf dieser Seite war das Wort dumpf mit schwarzem Filzstift dick umkringelt worden:

dumpf (Adj.) ( ~er, ~[e]ste) [verkürzt aus → dumpfig]: 1. hohl od. dunkel u. gedämpft [klingend]. 2. feucht, von Feuchtigkeit verdorben o. ä., im Geruch u./od. Geschmack davon zeugend, so dass es beim Atmen unangenehm ist, den Atem beklemmt; muffig, modrig. 3. untätig, geistig niedergedrückt od. unbeweglich u. ohne Anteilnahme am äußeren Geschehen; stumpf[sinnig; abgespannt; erstarrt]. 4. nicht klar ausgeprägt, undeutlich [hervortretend], unbestimmt, ohne klare Besinnung, unklar, unbewusst. 5. (veraltend) benommen (auch taub, gefühllos).

Ich erkannte mich sofort in all diesen Begriffserklärungen, und ich wusste, dass ich diejenige gewesen war, die das Wort eingekringelt und dann die Seite malträtiert hatte. Wann das gewesen war, wusste ich allerdings nicht mehr.

Wenn ich nicht die Straße beobachtete, lag ich in meinem Bett und betrachtete den Baum und den Himmel (eine banale Sache für Menschen im Gefängnis oder in einer Klinik, aber ich »betrachtete« gar nicht wirklich; nach einer Weile »sah« ich kaum mehr). Ich bat sie schließlich, das Blumenbild fortzunehmen, und bald darauf brachte Bond mir etwas anderes, eine kleine Reproduktion von einem der Bilder Canalettos von der Piazzetta in Venedig.

»Hier«, sagte er. »Die Blumen haben mir auch nicht besonders gefallen. Ich möchte, dass Sie sich das hier jeden Tag einfach bloß anschauen.«

»Ich werde versuchen, daran zu denken.«

»Betrachten Sie es. Es gibt eine Menge zu sehen. Versuchen Sie, jeden Tag etwas Neues zu entdecken.«

»Ich kenne dieses Bild sehr gut. Ich habe es schon oft betrachtet.« Ich lächelte. »Ich glaube nicht, dass ich noch etwas Neues entdecken werde.«

»Versuchen Sie es einfach.«

»Ist das eine Vorübung für irgendwas?«

Ich gewann den – niemals erhärteten – Eindruck, dass dieses Bild von einem anderen Patienten zurückgelassen worden war. Also betrachtete ich es; die Einzelheiten in Canalettos Bildern können wundervoll sein. Doch ich besitze eine Radierung von Whistler, die viel besser ist, viel stimmungsvoller, wie die Stadt selbst.

Als ich das Gemälde sah, erinnerte ich mich, wie mich eine Aussicht, ein Sonnenuntergang, ein geselliges Mahl einst hatten bewegen können; einst hatte ich gespielt, sogar gelacht und nicht darüber nachgedacht, ob ich glücklich war. Bond hat vielleicht geglaubt, dass diese frühere Person einfach durch eine kleine Erinnerung daran wiedererschaffen werden könnte, genau so, wie ein Hologramm sein Gesamtbild aus einem kleinen Stück seiner selbst rekonstruieren kann, auch wenn der Rest zerstört worden ist. Aber mit diesem Plan wollte ich nichts zu tun haben. Ich muss den Rest meines Lebens leben, und obwohl ich nicht weiß, wie ich das bewerkstelligen werde, möchte ich doch nicht, dass diese frühere Person daran beteiligt ist.

Eines Nachts wachte ich auf, hörte den Märzwind in den Bäumen und meinte den stechenden Duft eines Herbstfeuers zu riechen, wie Patrick und ich es gerochen hatten, als wir Jahre zuvor über die Felder bei Assisi gingen. Ich glaubte deutlich die Stimme eines jungen Mannes zu vernehmen, der bei der Olivenernte war und uns eine Warnung zurief wegen einiger Sicheln, die er am Weg entlang hatte liegenlassen. Wir hatten angehalten, überrascht, mochten keinen Schritt mehr tun – Patrick dachte aus irgendeinem Grund, dass er uns erschießen wollte –, aber der junge Mann hatte gelacht und dorthin gewiesen, wo die Sicheln lagen, und uns weitergewinkt. Es war dumm, ein unvermitteltes kleines Missverständnis, aber Patrick und ich hatten uns voller Erleichterung aneinandergeklammert und waren geblieben und hatten einen Becher Wein mit diesem Mann getrunken, für den wir augenblicklich unsterbliche Freundschaft empfanden. Es war ein prächtiger Nachmittag, verhangen mit süßem Herbstrauch.

Wir empfinden immer Heimweh nach Orten, an denen wir nicht sein können. Wonach sehnen wir uns? Nach einem Gefühl von Ganzheit oder Frieden, etwas, das niemals dort möglich ist, wo wir gerade sind? Manche haben das Gefühl, bei ihrer Geburt losgelöst und durch die Zeit geschleudert zu werden, ohne Ahnung, wohin sie gehören oder zu wem, und sie sind ihr Leben lang davon besessen, irgendwo anzulanden, diesen fehlenden Menschen oder Ort oder Geist zu finden. »Diese idiotische Leidenschaft des Teils für das Ganze«, wie Sartre geschrieben hatte. Ja. Eine Vergeudung, nicht wahr, diese Art der Suche? Damit kannst du dein gesamtes Leben vergeuden.

Ich habe diese idiotische Aufwallung des Wiedererkennens nur ein einziges weiteres Mal in meinem Leben gehabt. Das ist vermutlich meine Zuteilung.

In der Klinik ließen sie mich die meiste Zeit über in Ruhe, so dass ich tun konnte, was ich tun musste. Ich bin sicher, sie hatten keine Ahnung, warum ich da war. Eines Tages besuchte mich Bond, und schließlich begannen wir miteinander zu reden.

»Ich weiß, dass ich Sie enttäuscht habe«, sagte ich zu ihm, aber mit dem tatsächlichen Problem hatte das nicht das geringste zu tun. »Und Sie werden mir wahrscheinlich nie wieder Schlaftabletten verschreiben.«

Er sah mich ausdruckslos an. »Ist das das erste, was Ihnen in den Sinn kommt?«

Ja.

Und das war merkwürdig, weil ich gar keine Tabletten genommen hatte. Tabletten hatten nichts damit zu tun.

Santino Cassieri vom Trio Riviera, Patricks ehemaligem Kammermusiktrio, besuchte mich, als ich in der Klinik war. Er kam und spielte eine Weile Geige. Dann ging er wieder. Wir haben nicht viel geredet; ich spüre, dass er Patrick sogar noch schmerzlicher vermisst als ich und dass mein Anblick ihn zutiefst quält. Und wer könnte es ihm verdenken? Er hat allerdings erwähnt, dass Barbara Wu, die Pianistin des Trios, beschlossen habe, ihre Konzertlaufbahn wegen ihrer zunehmenden Arthrose endgültig zu beenden. Ihre Entscheidung kam nicht unerwartet. Wir schwiegen beide und dachten daran, was das für sie bedeuten würde. Patrick hatte sie sehr geliebt.

Santino trug Jeans und ein weißes Hemd, dessen Ärmel bis zum Ellenbogen hochgekrempelt waren, und seine Kleidung roch wie frisch aus der Reinigung. Mit seinen fünfzig Jahren sieht er immer noch aus wie ein Student.

Patrick war einer der schönsten Männer, die mir je begegnet sind. Sein (in jüngeren Jahren) schwarzes Haar war streng aus der hohen Stirn zurückgekämmt – eine Stirn wie das Antlitz eines Berges. Im Gegensatz dazu erschienen seine Züge weich; er hatte verträumte grüne Augen und volle, aber keineswegs schlaffe Lippen. An manchen Abenden saß er am Fenster, die Wange an die obere Wölbung seines Cellos geschmiegt, die Arme locker um dessen Taille geschlungen. Ich unterbrach diese erotischen Momente mit seinem Instrument nur selten. Er spielte mit dem Schmerz und der Virilität eines Besessenen. Den Gesang, den er diesem Kasten aus Holz und Darm entlockte!

Patrick war die Musik unmittelbar vertraut. Er durchdrang sie. Ich habe selbst miterlebt, was beispielsweise das Spielen des Andante von Schuberts Trio für Klavier, Violine und Violoncello in B-Dur bei ihm bewirkte. Was mich anbelangt, ich glaube schon, dass diese Musik bewegend sein kann, aber ich habe für romantische Schwelgerei nicht viel übrig. Ich bevorzuge den ersten Satz, das Allegro, das »mit funkelndem, leidenschaftlichem Esprit« voranschreitet. Das sind meine eigenen Worte, die ich Patrick gegenüber verwendet habe, als wir eines Abends im Bett lagen und Champagner tranken und Formulierungen für mögliche Besprechungen ersannen. (Schön formuliert, fand ich.)

Wenn ich mir diese Zeit ins Gedächtnis zurückrufe (zurückrufen ist ein angemessenes Wort), neige ich dazu, vom Eigentlichen abzuschweifen, mich in nebensächlichen Erwägungen zu ergehen (das Schubert-Trio beispielsweise). Um ein Leben in Ordnung zu bringen, wie ich es versuchen sollte, sollte ich mich einzig an Fakten halten, die dem Wesen nach leicht verständlich sind, ohne von hintergründigen Feinheiten verfärbt zu werden.

Obwohl es, wie man mir sagt, gerade die Feinheiten sind, die das Gewebe des Lebens ausmachen.

In Gegenwart von Menschen mit psychischen Problemen fühlen sich die meisten Leute unbehaglich. Sie finden sie faszinierend und gleichzeitig abstoßend. Das ist ein keineswegs ungewöhnlicher menschlicher Konflikt. Wir empfinden ähnlich, wenn es um exotische Speisen wie Aalleber und gefüllten Schafsmagen geht oder um gewisse Gewaltverbrechen. Meine eigene Krankheit war aus dem Stoff, der geschaffen ist, sie zu verbergen; deshalb mussten sich die anderen lange Zeit nicht damit befassen und ich selbst auch nicht. Aber das Drama wurde größer und umfassender. Ich spielte mehr als eine Rolle, vor allem nachdem Lennie in mein Leben getreten war. (Da – ich habe zum ersten Mal ihren Namen geschrieben.) Ich hatte verschiedene Drehbücher für verschiedene Situationen, verschiedene Menschen. Ich hätte wissen müssen, dass dies nicht ewig so weitergehen konnte.

Was mir den Rest gab, war, dass ich Patrick belog, oder vielleicht wäre hintergehen das bessere Wort, ein Handeln, das verschlagener, unehrlicher ist. Nach diesem Punkt verlor alles in meinem Leben vollkommen an Substanz, war bereit zum Betrug. Ich glaube, im Leben eines jeden Menschen muss es einen anderen Menschen geben, den man nie belügt, der einen annimmt. Für mich war Patrick dieser Mensch. Bis auf die letzten drei oder vier Jahre seines Lebens, als ihm alles zu entgleiten begann, war Patrick stets ganz und gar da, wenn wir zusammen waren; er war stets bei mir. Er nahm mich an, immer. Ihn zu hintergehen machte mich krank, aber ich rechtfertigte mein Tun, indem ich mir sagte, dass es ihm nicht gutginge, dass ich ihn vor Kummer bewahrte, mit dem er vielleicht nicht hätte umgehen können. Doch Patrick zu hintergehen brach mir nicht nur das Herz, es brach auch meinen Willen. Verrücktheit tritt dann ein, wenn niemand mehr bleibt, dem man die Wahrheit erzählen kann. Wenn man ganz allein damit ist.

Nach ein paar Tagen in der Klinik wollten sie, dass ich mit den anderen Patienten Umgang pflegte, auch wenn ich nur für kurze Zeit da sein würde. Mir war es egal. Eine der Frauen auf unserer kreisförmigen Station sagte zu mir: »Meine Tochter ist die Königin von Miami.« Ein vorbeikommender Mann hörte das. »Unmöglich«, wandte er ein und schüttelte ernst den Kopf. »Castro ist die Königin von Miami.« (Das könnte stimmen.) Mir war es egal. Ich mochte diese Geschichten. Niemand log. Dies waren Geschichten aus einem Leben, das ich den Großteil meiner Jahre ignoriert hatte. Sie waren authentisch.

Nach zehn Minuten oder einer Stunde konnte ich in mein Zimmer zurückkehren und die Tür schließen; ich konnte zu meinem Stuhl am Fenster zurückkehren oder zu meinem Bett. Um halb zwölf brachte man mir mein Mittagessen, holte es wieder ab; um halb sechs Abendessen. Nach dem Abendessen konnte ich hinausgehen und mit den anderen Fernsehen gucken, wenn ich wollte (ich wollte nicht), und um zehn konnte ich Milch oder Saft haben.

»Hätten Sie gern ein Radio?«, fragte Bond mich. Ich verneinte. Er öffnete die Hände. »Bücher?« »Noch nicht.« Kurz darauf meinte er: »Wir müssen bald miteinander reden.« Ich lächelte und sah weg. Das wusste ich.

Mein Zimmer war in zwei unterschiedlichen Schattierungen eines Grüntons gestrichen, der nicht dazu geschaffen war, die Phantasie anzuregen. Mein Fenster ging nach Südosten.

»Können wir jetzt vielleicht einfach …«, sagte Bond. Die Rollen von Patientin und Arzt sind uns beiden nicht wirklich angenehm. Ich fing an, mit ihm zu reden, als Patricks Verstand sich zu verabschieden begann, und sehr lange Zeit bestärkte ich mich in dem Glauben, dass meine Besuche in seiner Praxis mir halfen, mit Patricks sich verschlechterndem Zustand umzugehen. Bond jedoch hatte sich nie täuschen lassen, wie im nachhinein klar wurde. Ich kenne ihn schon eine Weile, und ich mag ihn. Er hat gewartet, bis ich dieses Spiel leid war. Jetzt glaubt er bestimmt, er habe zu lange gewartet.

»Es ist an der Zeit, dass wir miteinander reden – dass wir anfangen, darüber zu reden, was mit Ihnen passiert ist«, sagte er. »Sie haben nicht an Selbstmord gedacht.«

Es war keine Frage, aber ich sagte: »Nein.« Er beobachtete mich und wartete. »Sie finden, dass ich Sie betrogen habe, weil ich nicht mehr zu Ihnen gekommen bin. Weil ich keine Termine mehr wahrgenommen habe.« Das war alles, was mir dazu einfiel. Betrogen war natürlich ein unangemessenes Wort.

»Im Gegenteil, ich finde, ich hätte Ihre Reaktion vorhersehen müssen.«

»Sind solche Dinge vorhersehbar?«

Er lächelte. »Jedenfalls war ich nicht überrascht.«

Vielleicht hatten auch andere Menschen schon empfunden wie ich, die Tage ein langer grauer Nachmittag nach dem anderen, Appetitverlust, die Abneigung zu essen, die ungewaschenen Kleider, der ungepflegte Körper. Die Faszination, die von der Gin-Flasche ausging. In die Dunkelheit zu starren.

»Es war nicht bloß Patrick, wissen Sie.«

Er nickte.

»Auf ihn bin ich im Augenblick sogar ziemlich wütend.«

»Und das Mädchen …«

»Lennie. Und sie ist kein Mädchen, wie ich Ihnen schon oft genug gesagt habe.«

»Sie ist auch in das alles hier verstrickt.«

»Ich fühle mich betrogen.«

»Von …«

»Nicht von ihr.«

»Haben Sie von ihr gehört?«

»Ich weiß nicht, wo sie ist. Und sie hat auf jeden Fall nicht die geringste Ahnung, wo ich bin.«

Bond beobachtete mich einen Moment. Er sieht zuviel mit diesen Augen, dachte ich. Patrick hat oft Bemerkungen über Bonds Haut gemacht, ein sattes Braun, mit einem goldenen Schimmer. Ich fühlte mich mehr von seinen Augen angesprochen.

»Hegen Sie Hoffnung?«, fragte er schließlich.

»Ich mache mir keine besonderen Gedanken darüber.«

»Dann allgemein gesprochen: Hegen Sie Hoffnung?«

Ich dachte über die Frage nach. »Nein, allgemein gesprochen hege ich keine Hoffnung. Weder im allgemeinen noch im besonderen. Ich dachte, ich hegte Hoffnung, was Lennie anging, aber das hat sich als schwelgerische Phantasie entpuppt.«

»Vermutlich hegen Sie doch noch Hoffnung, was Lennie anbelangt. Die Dinge zwischen Ihnen sind nie wirklich geklärt worden. Das lässt Raum für Hoffnung.«

»Nun, vielleicht irren Sie sich ja.«

Nach einem Moment sagte er: »Haben Sie sich schon überlegt, wo Sie neu beginnen möchten?«

»Meinen Sie wo oder an welchem Punkt?«

»Beides. Sowohl als auch.«

»Nein, das habe ich mir noch nicht überlegt. Mit bestimmten Dingen tue ich mich schwer.«

Er nickte. »Eines nach dem anderen.«

»Es ist schwer, wissen Sie …«

»Ja …«

»Wenn die beiden Menschen …«

»Ja …«

»Lassen Sie mich ausreden!« Ich sah ihn an, erschrocken über meinen Ton. »Bitte.«

»Entschuldigung.«

»Schon gut. Ich würde gern irgendwo auf einer Insel neu beginnen, wenn Sie es genau wissen wollen. Ein kleines Zimmer. Keine Besitztümer. Keine großen Ambitionen.«

»Keine Menschen.«

»Genau. Keine Menschen aus meiner Vergangenheit. Niemand, um den ich mich kümmern muss, den ich bekochen muss, den ich großziehen muss. Keine ewigwährenden Versprechungen, keine Pietàs, kein Kämpfen Seite an Seite auf den Barrikaden, kein Champagner um Mitternacht, kein atemloses Abwärts im Fahrstuhl.«

Er sah überrascht drein, unterbrach mich aber nicht.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Bond«, fuhr ich fort. »Es wird sich alles finden. Es geht mir gut.« Ich sah auf die Uhr.

»Das haben Sie bei unserem ersten Treffen andauernd gemacht. Auf die Uhr geschaut.«

»Ja, ich war in Sorge, dass mir nichts mehr einfallen würde, was ich Ihnen noch erzählen könnte.«

»Und nach einer Weile …«

»Konnten Sie mich gar nicht mehr zum Schweigen bringen.«

»Wer hat Sie betrogen?«, fragte er. »Wie hat man Sie betrogen?«

Ich brachte meine Augen ganz nah an den Canaletto. Bond hatte mir gesagt, ich solle ihn mir ansehen, und ich war kooperativ. Winzige Menschen schrumpften vor der Architektur zu Zwergengröße – das Rosa und Weiß des Ducalpalazzo, Sansovinos prächtige Bibliothek. Die Weite der Piazzetta an sich. All diese Dinge hatten eine ganz bestimmte Funktion zu erfüllen, aber ihre Umgebung ließ sie nahezu bedeutungslos erscheinen. Sinnlos.

So sah ich es am ersten Tag. Aber ich sah es nicht zum ersten Mal.

Ich erinnere mich, wie ich Patrick das erste Mal belog. Ich zwinge mich manchmal, an diesen Abend zu denken, weil es mir hilft, meinen Geist in dem, was dann folgte, zu verankern. Es war ein Abend Ende Oktober, aber noch warm. Den Nachmittag hatte ich mit Lennie verbracht, und ich konnte mich einfach nicht von ihr trennen, bis es schon sehr spät war, fast sechs. Ich wusste, dass einige Freunde zum Abendessen kommen würden und dass Patrick und Santino und Barbara – das alte Trio Riviera – für sie spielen würden, was zu der Zeit schon selten genug vorkam. Das Essen war mehr oder weniger vorbereitet, aber ich hätte spätestens um vier zurücksein sollen. Ich kehrte in die Wohnung zurück und fand Patrick im Wohnzimmer vor, die zitternden Arme um das Cello geschlungen. An diesem Abend trug er einen dunkelblauen Leinenblazer und ein etwas helleres blaues Hemd mit dünnen weißen Streifen und eine seiner Paisley-Krawatten. Es hatte ihn offensichtlich sehr viel Zeit gekostet, sich anzukleiden. Er roch schwach nach seinem vertrauten Eau de Cologne. Seine breite Stirn war von einem feinen Schweißfilm bedeckt, und in seinen Augenwinkeln hingen zwei kleine Tränen. Als ich mich im Zimmer umsah, stellte ich fest, dass er versucht hatte, alles herzurichten; eine Spur von Eissplittern führte in die Küche zurück, und auf dem Couchtisch stand ein Teller mit zerbröselten Crackern und einem Stück alten Käse, den ich hatte fortwerfen wollen. Meine späte Rückkehr wurde plötzlich zu ungeheuerlich, um Worte dafür zu finden, und so zog ich, ohne seinen Blick zu erwidern, das Taschentuch aus seiner Brusttasche – das große hellblaue Taschentuch, das zu seinem Hemd passte – und tupfte ihm auf eine vertraute und intime Weise, die ich aus der jüngsten Erinnerung aufrief, die Stirn trocken. Es war keine Geste der Zuneigung oder gar der Reue, obwohl ich mich schrecklich schuldig fühlte. Ich kam direkt aus Lennies Bett zu ihm, und er wusste, wo ich gewesen war. Das war nicht die Lüge. Die Lüge bestand darin, dass die Geste nicht für ihn bestimmt war. Die Geste kam, weil mein Körper sich noch immer nach ihr sehnte und ich Hautkontakt brauchte. Die Haut, die ich berührte, war seine, aber mein Geist erinnerte sich an ihre Haut. Und das war der erste Betrug.

Doch er war erleichtert, das ich zurück war, und der weitere Abend verlief gut. Ich glaube nicht, dass er sehr lange bei diesem Betrug verweilte. Aber kurz nach diesem Abend fing er wieder an, zu Hause Cello zu spielen, und weil er inzwischen so hinfällig geworden war, war er nicht in der Lage, mit seinem früheren Elan zu spielen, auch wenn die Süße immer noch vorhanden war. Anstelle des Elans war immer wieder ein kurzes Aufflammen von Zorn zu vernehmen, was schmerzlich anzuhören war, weil er sich viel zu sehr mühte. Ich begann mich fern und ferner zu halten – erst im Wohnzimmer, dann in der Küche, schließlich in meinem Zimmer und in meinem Bad. Ich wurde so wütend auf ihn wie selten in all unseren gemeinsamen Jahren zuvor. Doch als er mich eines Abends aufspürte, trat ich lächelnd aus meinem Bad, wo ich Edith Wharton gelesen hatte – mein trockenes Haar in einem Handtuch –, um mich seinem festen Blick zu stellen, Cello in der Hand.

»Natürlich stört es mich nicht, wenn du spielst«, sagte ich leichthin. Lüge folgte auf Lüge. Ich schlüpfte an ihm vorbei ins Schlafzimmer.

In der Klinik träumte ich anfangs nicht. Ich hatte das Gefühl, dass ich alles verloren hatte, was mich in Träumen verankerte, so wie wenn man beim Computer auf eine Taste drückt und alles endgültig löscht. Ich war zufrieden. Was meine Träume gefüttert hatte, war nun blutlos, eine blinde Made. Ich litt nicht länger um die Katze, die ich mir in einer bitterkalten Januarnacht draußen vorstellte. Ich ging nicht länger wieder und wieder die letzten Stunden vor dem Tod meiner Mutter durch, die mit hohler Stimme sagte: »Ich habe Angst.« Ich versuchte nicht länger, die Gedanken eines jeden Passagiers zu lesen, der in einem abstürzenden Flugzeug gefangen war. (Was dachten sie? Was sahen sie?) Kurzum, ich legte die Rolle des leidenden Gottes ab. Ich empfand nichts.

»Würden Sie gern nach Hause zurückkehren?«, fragte Bond mich. »Es gibt eigentlich keinen Grund für Sie hierzubleiben.«

Ich versuchte mir rasch einen auszudenken.

»Ich bin noch nicht soweit.«

»Worauf genau warten Sie?«

»Sind Sie so erpicht darauf, mich hier rauszuholen?«

»Die Menschen hier sind nicht in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern. Sie hingegen können die Verantwortung für sich tragen, Sie können sich selbst versorgen, Sie sind sich Ihrer Lage bewusst.«

»Meine Lage ist es doch gerade, die mir angst macht.«

»Wir können unsere Sitzungen in meiner Praxis fortsetzen. Angst zu haben ist kein Grund hierzubleiben.«

»Geben Sie mir noch eine Woche.«

»Fünf Tage können wir Ihnen geben.«

Ich nickte.

Töpfe und Pfannen. Patricks Sachen, seine Partituren, seine Kleidung, sein Eau de Cologne. Die Wohnzimmergardinen mit dem Zigarettenbrandloch. Mein Bett. Meine Laken, das eine von einer Nacht mit Lennie, das ich in der untersten Schublade aufbewahrt habe. Eine leere Flasche San Gimignano unter der Spüle. Die leere Luft. Die Staubkörnchen, die durch den späten Nachmittag schweben. Die vollkommene Stille.

Der Rest meines Lebens.

Es war eigentlich keine Klinik, in der ich mich befand. Nun ja, im Grunde schon, aber es gab eine Abteilung für Menschen, die sich nicht in einer akuten Krisensituation befanden – eine Art »Verwahrabteilung«, so würde man es vermutlich nennen. Ich war freiwillig dort, und sie konnten mich nicht dort festhalten. Im Gegenteil, inzwischen schienen sie erpicht, mich loszuwerden. Bond hatte meine Aufnahme befürwortet. Er wollte mich wohl im Auge behalten. Er hatte mir ein paar Schlaftabletten verschrieben, und dann hatte ich einen Termin bei ihm versäumt, und daraufhin tauchte er bei mir zu Hause auf. Tina Bird hatte ihn angerufen, glaube ich; sie hatte sehr genau wahrgenommen, wie sich mein Geisteszustand verschlechterte. Ich selbst hätte Bond niemals anrufen können; unsere Beziehung war ziemlich förmlich. Ich hatte ihn mir in meinem Zuhause nicht vorstellen können, bis er plötzlich da war. In seiner Gegenwart hatte ich noch nie geweint. Ich sah ihm so oft wie möglich in die Augen, aber gewöhnlich sprach ich von der Interpretation von Träumen und darüber, wie ich mit Patricks zunehmender Senilität umgehen konnte.

Patrick hatte Bond für einen Scharlatan gehalten, aber Patrick hielt alle Ärzte für Scharlatane.

Ich hatte mit Bond zwar über Lennie gesprochen, hatte meinen Fall jedoch so distanziert geschildert, als stünde er zur Begutachtung: eine neunundfünfzigjährige Frau, glücklich verheiratet, verliebt sich in eine Frau, die halb so alt ist wie sie. So war es, kurz gesagt. Ich erinnere mich, wie ich beiläufig über die Situation gelacht hatte, als ich mit ihm sprach, während ich am ganzen Leib zitterte wie in einem Tiefkühlschrank.

»Worin lag die Faszination?«, fragte er mich an einem Punkt, eine Frage, die viel zu weit vom klinischen Kontext entfernt war, um mir zu behagen. »Gab es eine Vorwarnung?«

»Was für eine Vorwarnung? Meinen Sie, ob es Liebe auf den ersten Blick war? Nein, daran glaube ich nicht. Sie« – ich hob die geöffneten Hände – »stand zur Verfügung, schätze ich. Ich fand es ein wenig exotisch, fing an, ein bisschen zuviel darüber nachzusinnen. Ich glaube, es wurde unausweichlich, etwas, das ich schließlich ausprobieren musste.«

»Das klingt ziemlich kaltherzig, Mercedes – in Anbetracht Ihrer Reaktion, als sie aus Ihrem Leben verschwand.«

»Nun, es wurde in der Tat ein wenig komplizierter, Bond. Das leugne ich nicht. Ich komme nicht dahinter. Sie war da. An einem bestimmten Tag, als ich zu etwas derartigem bereit war, war sie da und jemand anders nicht. Ist Ihnen das nicht spektakulär genug?«

Er schien an dieser Situation gar nichts spektakulär zu finden, was nicht sonderlich zu meiner Beruhigung beitrug. Über meine sexuelle Verwirrtheit sprach ich nicht mit ihm, obwohl er mir an dem Punkt vermutlich hätte helfen können. Das Phänomen, zum ersten Mal in meinem Leben sexuell vollkommen erregt zu sein, war nichts, woran ich ihn hätte »teilhaben« lassen können. Ich ergötzte mich insgeheim daran, verbarg es aber nach außen hin oder versuchte es zu verbergen, sogar vor Lennie. Patrick verstand vermutlich am besten, was ich da gerade erlebte, aber am Ende entglitt er mir immer schneller, und es gab eine Menge wichtiger Dinge, über die ich nicht mit ihm gesprochen hatte.

Ich bin es müde zu sagen: »Patrick wusste es.« Natürlich wusste er es. Ich habe mit ihm über Lennie gesprochen. Doch ich muss wiederum ehrlich sein; er kannte die Fakten, nicht aber das Ausmaß meiner Gefühle. Oder er kannte das Ausmaß, aber sein schwindender Geist registrierte nur Angst. Für Patrick war Sex etwas vollkommen Natürliches – er hieß ihn stets willkommen –, aber im Grunde war er ein konservativer Mann. Die Extreme in seinem Leben spielten sich in der Musik ab. Sex war für ihn wie Rinderbraten mit Kartoffeln; crème brûlée und Dom Perignon kannte er nicht. Na ja, vielleicht bin ich unfair. Sex mit Patrick hat mir Spaß gemacht, aber innerlich war ich nie wirklich beteiligt. Mir gefiel das Tröstliche, das darin lag, mit ihm zusammenzusein, mit ihm einzuschlafen, aufzuwachen, zu frühstücken. Mit ihm Arm in Arm durch die Straßen zu gehen. Unsere Gespräche. Uns verband eine außergewöhnliche Freundschaft. Ich habe mich nie als eine Frau wahrgenommen, die wegen eines anderen Menschen in einen Zustand fortwährender sexueller Erregung gerät, und schon gar nicht wegen einer anderen Frau. Bevor ich Lennie begegnet bin, hätte ich einen solchen Zustand mit Befremden betrachtet, vielleicht sogar mit einer gewissen Abscheu.

Wie wenig Worte doch taugen, um ein außerordentliches Ausmaß an Leidenschaft zu vermitteln; ihre Aufgabe liegt in der Kontrolle.

»Wo fangen wir an?«, fragte Bond.

»Der Reihe nach, wenn ich hier schon bald fort muss.«

»Gut. Fangen Sie an, wo Sie möchten.«

»Vieles davon kennen Sie schon.«

Er nickte. »Stören Sie sich nicht daran. Das macht nichts.«

Einen Moment überlegte ich, was ich sagen wollte. Was ich sagen musste. Was war das Problem?

»Ich habe meinen Mann geliebt«, sagte ich.

Wir versuchten es erneut.

»Vielleicht gibt es da gar kein Problem«, sagte ich. »Vielleicht ist alles gut. Ich vermisse Patrick, das ist ganz natürlich. Ich vermisse Lennie, das ist ganz natürlich. Das sind Dinge, an die ich mich gewöhnen muss. Sie stellen kein Problem dar.«

»Gut. Wie stellen Sie sich den weiteren Verlauf Ihres Lebens vor?«

Eine Kluft tat sich auf. Schloss sich rasch wieder.

»Antworten Sie spontan, Mercedes. Denken Sie nicht darüber nach.«

»Den weiteren Verlauf meines Lebens stelle ich mir eher behutsam vor.«

»Behutsam?«

»Ich weiß nicht, warum ich dieses Wort benutzt habe. Ich muss es langsam angehen lassen, das ist alles, muss mich vorsehen. Ich weiß nicht, wohin ich gehe.«

»Das könnte ermüdend werden.«

»Sei’s drum.«

»Sind Sie jetzt zornig?«

Ich stand auf und verließ den Raum. Ohne ein Wort. Ich bin kein unhöflicher Mensch; so hatte ich mich noch nie zuvor jemandem gegenüber verhalten. Im Aufenthaltsraum trat ich hinter das Klavier und beobachtete von dort die Tür. Bond folgte mir nicht. Vielleicht war unsere Zeit als Arzt und Patientin vorüber.

Am nächsten Tag entschuldigte ich mich für mein wortloses Verschwinden. Wir saßen uns in der hinteren Ecke des Aufenthaltsraums gegenüber. Es war eine ruhige Zeit, nach dem Mittagessen.

Er lächelte. »Das haben Sie noch nie zuvor gemacht.«

»Nein, das habe ich nicht. Sind Sie froh darüber? Ist es ein Zeichen für irgendwas?«

»Ein Zeichen wäre hilfreich, nicht wahr?«

Tränen schossen mir in die Augen, unerklärlicherweise. »Ja, das wäre es.«

Er wartete einen Moment, sehr geduldig. Vermutlich war er froh, dass ich endlich Tränen vergoss. Aber zum Vergießen waren es nicht genug, wie sich herausstellte. »Können Sie mir einen Hinweis geben, wo ich anfangen soll?«

»Sie haben Ihren Mann verloren, der Ihnen sehr viel bedeutet hat.«

»Ja.«

»Und Ihre Geliebte ist ebenfalls fort. Verschwunden – wohin auch immer. Wir wissen es nicht.«

»Wir wissen es nicht, und ich weiß es nicht.«

»Ihre Geliebte, die Sie mit ziemlich überraschenden Aspekten Ihrer selbst bekannt gemacht hat, Aspekten, die Ihnen beträchtliche Probleme bereitet haben.«

»Das, was ich empfunden habe, hat mir keine Probleme bereitet.«

»Und Sie sagen, Sie haben sich in diese Klinik begeben, weil Sie wollten, dass jemand Sie eine Weile bekocht.«

Ich konnte mein Lachen nicht unterdrücken.

»Warum lachen Sie?«

»Ich dachte an Jean Harris.«

»Jean Harris?«

»Die Rektorin, die ihren Geliebten, einen Diät-Arzt, erschossen hat. Als sie ins Gefängnis gesteckt wurde, soll sie gesagt haben: ›Wenigstens kocht jetzt eine Zeitlang jemand anders.‹«

»Haben Sie vor, nach Lennie zu suchen?«

»Natürlich nicht. Sie kann nach mir suchen, wenn sie mich will.«

»Sehen Sie, einige Dinge klären wir. Weiß sie, dass Patrick tot ist?«

»Woher sollte sie das wissen?«

»Sie könnte es erfahren haben.«

»Möglich. Doch ich wüsste nicht, wie, es sei denn, sie liest die Todesanzeigen, und das ist eher unwahrscheinlich.«

»Stellen Sie sich Ihr Leben jetzt mit ihr oder ohne sie vor?«

»Ich habe mir noch nie ein Leben mit ihr vorgestellt.«

»Ist das wahr?«

Natürlich nicht. »Wir haben nie darüber gesprochen. Ich habe das nie erwartet.«

»Nein, gesprochen haben Sie nie –«

»Sprechen wir über jetzt. Ich stelle mir mein Leben jetzt nicht mit ihr vor.«

»Aber –«

»Sie fehlt mir.«

»Ja.«

»Sie fehlt mir.«

Er nickte.

»Die Möglichkeit fehlt mir.« Meine Verwundbarkeit war nun offenkundig.

»Werden Sie nicht wütend, Mercedes. Versuchen Sie einfach, das hier zu Ende zu bringen.«

»Ich kann es nicht zu Ende bringen. Ich vermisse sie, aber ich bin auch wütend auf sie. Sie hat mich erweckt – diese Worte klingen unmöglich – sie hat mich da herausgeholt und dann ist sie … einfach auf und davon und hat mich zurückgelassen.«

»Verstehen Sie, warum sie fortgegangen ist?«

»Patrick hat sie mit seinem Konföderiertenschwert davongejagt.«

Bond lächelte.

»Nein, ich weiß nicht, warum sie fortgegangen ist.«

»Sie wusste, dass Patricks Leben zu Ende ging. Sie wusste, dass ihre Anwesenheit in Ihrem Leben ihm Sorge bereitet hat.«

»Sie ist gegangen, weil sie genug von mir hatte. Es lag an mir, nicht an ihm.«

Er sah mich ruhig an.

»Patricks Kräfte schwanden, aber gestorben ist er, weil er es sich gestattet hat«, sagte ich. »Er war fünfundachtzig, erinnern Sie sich?«

»Glauben Sie, Ihre Beziehung zu Lennie hat ihn zu der Entscheidung genötigt?«

»Mit was für Melodramen Sie tagtäglich zu tun haben«, erwiderte ich. »Wie schaffen Sie es, nicht zu lachen?«

»Es geht um das Jetzt – jetzt müssen Sie fortfahren. Sie müssen einen Weg finden fortzufahren, und Verleugnung hat da keinen Platz.«

»Ist das so?«

»Das ist natürlich Ihre Entscheidung.«

»Ich bin nicht dumm genug zu leugnen, dass Patrick und Lennie nicht länger zu meinem Leben gehören.«

»Zu Ihrem physischen Leben. Nein, mit dem Teil werden Sie keine Probleme haben.«

»Was könnte ich sonst noch leugnen?«

»Nun, was glauben Sie? Patrick nimmt in Ihrem emotionalen Gedächtnis noch immer einen großen Raum ein. Haben Sie damit ein Problem?«

»Nein.«

»Und Lennie? Wollen Sie ihren Platz leugnen?«

»Es ist schwer zu sagen, wo sie hingehören könnte.« Ich stand auf. »Und das ist alles, was ich heute sagen werde. Ich will mich hinlegen.«

Wie viele Tage blieben noch?

Zurück in meinem Zimmer legte ich meine Kleider ab und baute mich vor dem hohen Spiegel hinter der Tür auf. Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich imstande gewesen war, über ein Tennisnetz zu setzen. Warum mir ausgerechnet dieses Kunststück einfiel, weiß ich nicht. Früher habe ich das oft gemacht. Meine Schenkel waren fest; selbst heute wabbelt da kaum etwas. Meine Sorge galt stets meinen Knochen. Ich betrachtete mich im Spiegel. Ich war mit hohen Wangenknochen gesegnet, aber meine Schulterknochen sind wie zusammengelötete Rohre. Meine Hüften sind breiter geworden – das ist nicht zu leugnen –, aber meine Taille ist noch immer unverkennbar. Meine Brüste? Ich begutachtete sie unerschrocken, wog sie in den Händen. Lennie hatte gern ihren Kopf dazwischen gelegt. Patrick ebenfalls. Sie hingen mittlerweile ein bisschen. Durchschnittlich, vermutlich. Mein Haar ergraute auf schöne Weise, war inzwischen fast weiß, aber es ging, wenn ich es kurz hielt. Und mein Gesicht – es hat noch immer den sanften Ausdruck eines Schulmädchens, als sei alles, was in den vergangenen sechs Monaten geschehen war, spurlos daran vorübergegangen.

Es war verblüffend. Ich hatte nie viel über meinen Körper nachgedacht, außer wenn ich Schmerzen oder Beschwerden hatte. Ich hatte gewiss nie darüber nachgedacht, was andere Frauen sexuell attraktiv finden könnten. Die Möglichkeit war mir nie in den Sinn gekommen. Lennies Körper jedoch war so selbstverständlich sexuell und so eindeutig weiblich gewesen, dass ich manchmal über die Unausweichlichkeit meiner Gefühle bestürzt war. Doch jetzt über ihren Körper nachzusinnen ist ein Luxus, den ich mir nicht erlauben sollte.

Lennie hat einmal zu mir gesagt: »Ich bin Menschen leid, die nicht wissen, was sie wollen, die überredet werden müssen. Ich will jemand, die ein Licht in meinen Augen sieht und zu mir kommt.« Ich dachte, dass ich dieser Mensch wäre. Ich bin zu ihr gekommen.

Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder einen anderen Menschen lieben werde, männlich oder weiblich. Und das ist traurig. Man kann sich daran gewöhnen, nicht geliebt zu werden, aber nicht zu lieben ist ein grundlegender Mangel.

Später an jenem Abend ging ich in den Aufenthaltsraum, um zu sehen, ob die Schwestern mir eine Tasse Tee besorgen könnten. Im Stationszimmer war niemand, also trat ich in die Dunkelheit des größeren Raumes und stellte mich ans Fenster. Ich hoffte auf ein bisschen frische Luft; meine Haut fühlte sich klamm und alt an, unangenehm. Es sah nach einer schönen Nacht aus – das helle Funkeln der Sterne verriet, dass es kalt war. Ich fragte mich, einfach so, voller Neugier, wo Patrick sein mochte.

»Mögen Sie die Sterne?« Eine Stimme erklang von einem der Stühle.

»Wer ist da?«

»Fumio.« Er trat in das Licht, das vom Stationszimmer hereinfiel.

»Oh, ja.« Ich kannte ihn vom Sehen. »Ich dachte, Sie wären Arzt.«

»War ich auch.«

Er war Mitte Vierzig, schätzte ich, auf dem weitläufigen Spielplatz, auf dem der Tod dir hin und wieder auf die Schultern tippt, während du selbst noch deiner Jugend zulächelst. Sein kurzes Stachelhaar erhob sich wie eine Riesenüberraschung über seiner Stirn und war grau gesprenkelt. Er trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern.

»Mir ist nicht nach reden zumute«, sagte ich. »Ich wollte mir nur eine Tasse Tee besorgen. Ich will nicht unhöflich sein.«

»Ich verstehe«, erwiderte er. »Die Schwestern sind weg, wissen Sie. Ich glaube, woanders gibt es Probleme. Hier werden sie nicht wirklich gebraucht. Sie nennen dies die Haushaltsstation.«

»Ach, ja?« Ich lächelte. »Nun, so ist es ja eigentlich auch. Aber vielleicht benötigt doch mal jemand Hilfe. Irgend jemand sollte schon hier sein.«

»Ja. Ich benötige Hilfe, und ich kann niemanden finden.«

»Was fehlt Ihnen?«

»Ich brauche jemanden zum Reden. Ich habe verstanden, dass Sie es nicht sind, und das ist schon in Ordnung. Ich werde hier im Dunkeln warten, bis wieder jemand auftaucht.«

»Und ich werde zusehen, dass ich eine Tasse Tee auftreibe.« Die Katze in der Kälte, die Passagiere in dem abstürzenden Flugzeug. »Ich werde die Schwestern suchen.«

Ich hörte, wie er sich auf das Vinylsofa sinken ließ, das seufzend protestierte. Er erwiderte nichts. Als ich mit zwei Pappbechern lauwarmen Tees zurückkehrte, saß er noch genau so da wie zuvor.

»Kennen Sie Star Trek?« fragte er. »Die Fernsehserie?«

»Ja, ich habe davon gehört.«

»Sie sagen, das Weltall ist die ultimative Grenze.«

»Sie können reden, Fumio, aber ich möchte nicht reden. Ich heiße Mercedes Medina, und Sie können ruhig fortfahren, ohne etwas von mir zu hören.«

»Das Weltall ist nicht die ultimative Grenze. Der Geist ist die ultimative Grenze. Und zwar weil er endlos ist.«

Ich hörte eine der Schwestern auf die Station zurückkehren und ans Telefon gehen. Ich fragte mich, ob er es vorziehen würde, mit einer Schwester zu sprechen.

Er trank seinen Tee in kleinen Schlucken. »Haben Sie schon mal von der Tarantelwespe gehört?«, fragte er. »Wenn die Tarantelwespe bereit ist, ein Ei zu legen, sticht sie eine Tarantelspinne, tötet sie aber nicht, sondern lähmt sie nur. Dann legt sie das Ei oben auf die Spinne und schafft alles in ein Erdloch. Wenn die Larve schlüpft, kann sie sich an lebendiger Nahrung gütlich tun.«

Lieber Gott, dachte ich.

Er hob einen Finger. »Das ist das Mysterium: Erstens, woher weiß die Wespe, wo genau sie die Tarantel stechen muss, damit sie nicht stirbt? Damit sie am Leben bleibt, um als Nahrung zu dienen? Und zweitens, woher weiß die Larve, wie sie die Spinne essen muss, damit diese am Leben bleibt und ihr so lange als Futter dienen kann, bis die Larve reif zur Verpuppung ist?« Seine Zähne blitzten in der nahezu völligen Dunkelheit. »Wenn die Nahrung stirbt, stirbt auch die Larve.«

»Und drittens«, sagte ich, »wie ist es für die Spinne, wenn sie langsam bei lebendigem Leib verspeist wird?«

Er schaukelte geräuschvoll auf der Couch vor und zurück. »So wie wir Geschichte wahrnehmen, verläuft sie sehr langsam. Wir betrachten die Wespe und sagen: ›Das ist ein effektiver Weg, die Spezies am Leben zu halten. Die Natur hat sich so entwickelt, und deshalb muss sich die Spinne opfern.‹ Und wir glauben, das sei immer so gewesen. Stimmt nicht. Irgendwann hat die erste Wespe in genau die richtige Stelle stechen müssen.«

»Ich mag die Natur nicht«, sagte ich. »Ich gerate weder bei Blumen in Verzückung noch bei Waldspaziergängen oder Häuschen inmitten der Wildnis. Ich mag Menschen nicht, die ewig von der Natur schwärmen.«

»Schwärmen?«

»Entschuldigung. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich will darauf hinaus, dass etwas im Busch ist.«

»Ja.« Ich warf einen Blick zum Stationszimmer hinüber und sah, dass beide Schwestern zurückgekommen waren. Plötzlich stieg eine große Traurigkeit in mir auf – ich trauerte um all jene Spinnen, die gestochen wurden, rein zufällig, um lebendigen Leibes verspeist zu werden, ohne zu wissen, warum oder welchem Zweck sie dienten. Beim Gedanken daran füllten sich meine Augen. Ich konnte sie nicht retten, ich konnte nichts erklären, es gab keine Möglichkeit, ihnen in ihrer endlosen, qualvollen Opferung Trost zu spenden.

War der leidende Gott erwacht?

In der Dunkelheit brannten Fumios Augen hinter seinen kleinen Brillengläsern. »Denken Sie an eine frühere Weggabelung in Ihrem Leben«, sagte er zu mir. »Denken Sie an den Weg, den Sie eingeschlagen haben.« Er schwieg, um mir diesmal die Wahl zu lassen; ich machte bloß eine Handbewegung. Ich hatte in den letzten Jahren zu viele Weggabelungen hinter mir gelassen, um eine davon zu wählen. »Nun haben Sie einen Weg gewählt. Irgendwo in einem Paralleluniversum entfaltet sich der Weg, den Sie nicht gewählt haben.«

Plötzlich dachte ich an die Frau im Fahrstuhl im Mark Hopkins Hotel in San Francisco. Meine Flitterwochen mit Patrick. Die Frau in dem grauen Kostüm im Fahrstuhl. Ihre Perlen. Ihr Duft. In welcher verschlossenen Kammer meines Herzens atmete diese Erinnerung noch, beobachtete sie mich noch, weigerte sie sich noch immer, mich zu verlassen?

»Und wer hat diesen Weg eingeschlagen?«, fragte ich ihn, weil ich etwas sagen musste.

»Sie. Sie haben ihn eingeschlagen.« Seine Zähne blitzten wieder. »Und manchmal begegnen Sie diesem anderen Leben möglicherweise, im Traum vielleicht, oder bei einem mentalen Sprung.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre«, entgegnete ich und stand auf. »Geben Sie mir Ihren Becher. Ich nehme ihn mit.«

Er stand ebenfalls auf. »Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Danke, dass Sie sich zu mir gesetzt haben. Ich mache mir Sorgen wegen der Spinnen. Aber sie haben sich entwickelt, also muss es seine Richtigkeit damit haben.«

»Ja. Und wir müssen daran glauben, dass es in einem Parallelleben Spinnen gibt, die davongekommen sind.«

Er lächelte und verneigte sich leicht. Ich fragte mich, ob er ständig über derlei Fragen nachsann. Es musste kräftezehrend sein.

Die Frau im grauen Kostüm!

Patrick und ich waren in den Flitterwochen gewesen, was an sich nicht viel zu bedeuten hatte, da wir bereits seit etlichen Jahren zusammenlebten. Aber ich genoss Patrick zutiefst. Sein Trio sollte Ende April in Los Angeles spielen, und wir waren bereits zehn Tage zuvor nach San Francisco gereist.

Am Tag nach unserer Ankunft teilte ich mir mit dieser Frau den Fahrstuhl im Hotel, eine lange, gemächliche Fahrt nach unten, nur wir beide und der Fahrstuhlführer. Unsere Augen trafen sich, als ich einstieg, dann drehte ich mich um, um nach vorn zu blicken, wie man es im Fahrstuhl eben macht. Da war ein schwacher, vielschichtiger Duft, wenn ich mich recht entsinne, nichts Blumiges. Berauschend. Sie trug ein graues Kostüm, das sich eng an ihre hochaufragende Gestalt schmiegte, so wie es damals Mode war, darunter ein weißes hüftlanges Top. Kleine schimmernde Perlen. Ich war mir ihrer überaus bewusst. Anfangs dachte ich, es läge daran, dass ich überlegte, ob ich ein paar höfliche Worte mit ihr wechseln sollte; zwei Menschen allein in einem Fahrstuhl – das ist schließlich nicht so, als wäre man in einer Menschenmenge. Ich nehme an, das wäre ein Grund gewesen, sich angespannt zu fühlen, doch ich erinnere mich an nichts dergleichen. Ich erinnere mich an eine Art Aura, die sich um uns herabsenkte. Ich spürte, dass etwas im Begriff war, mit uns zu geschehen, etwas – ich hätte es damals nicht sexuell genannt – Körperliches, glaube ich. Ich hatte keine Erfahrung mit derlei Gefühlen. Mir ihres Körpers neben meinem bewusst zu sein beschleunigte meinen Atem ein wenig. Wie dumm von mir, nicht zu merken, was da geschah. Ich war mir ihres Atmens bewusst, des Gleitens ihrer Kleider auf ihrem Körper, des leichten Hebens und Senkens ihrer Brüste, wobei ich mich nicht entsinne, ob ich das tatsächlich sah oder vielmehr spürte. Ich spürte beinahe, wie ich mich zu ihr neigte (vielleicht tat ich es!), während der Fahrstuhl langsam abwärts glitt und durch den leeren Raum summte. Unsere beiden Leiber miteinander in der Schwebe gehalten.