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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

Sylvia Brownrigg

Geschrieben für Dich

Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Krug

K+S digital

Für eine Freundin

PROLOG

Was würde geschehen, wenn ich einige Seiten für dich schriebe? Jeden Tag eine Seite, um dir zu zeigen, dass ich eine Geschichte finde, die Geschichte, wie wir einst hätten zusammensein können. Wie wir zusammensein könnten.

Wir werden nie zusammensein. Sweetheart. Ich bin zu spröde, zu verhalten, zu schroff. Und du bist alles in allem zu verheiratet. Für diejenigen unter uns, die diesen Zustand nicht aus eigener Erfahrung kennen: Er segelt an uns vorüber wie ein Kreuzfahrtschiff, alle Lichter brennen, die Party in vollem Gange, während das Wasser dir sanft oder stürmisch erlaubt, darüber hinwegzustreichen. Wir winken von unserer selbstgefälligen oder vielleicht einsamen Küste, warten, bis die seezerteilende Helligkeit ihre silbrige Musik hat verklingen lassen, und wir bleiben allein in der Dunkelheit zurück, auf dem Trockenen, um unsere mitternächtlichen Erkundungen ungehindert fortzusetzen.

Er ist ein wunderbarer Mann, dein Jasper, nicht dass ich ihn kennen würde. Ich weiß um seine Vorzüge, weil er dich erstrahlen lässt – man erblickt sein Licht durch deine Gestalt und insbesondere dein Gesicht, wenn du Geschichten von euren gemeinsamen Abenteuern erzählst: Klippen und Waldspaziergänge und gewundene, kühle mittelalterliche Gassen. Vergissmeinnicht-Meere, gesäumt von herzensreinen Stränden, auf denen ihr beide euch schweigend oder redend in der Sonne ausstreckt. Galerien und nächtliches Bummeln, Konzerte und Festessen. Sprache und Reisen, und die vielen Weisen, auf denen ein Paar sich begegnet. Diese Erzählungen werden so lebendig durch deinen begehrten Mund und das Wesen deiner Augen, dass ich sie sehen kann, Filme in meinem stillen Geist, die ich abspiele, wenn ich zu Hause bin, mich in meinen leeren Räumen rege und darauf warte, dass mein eigenes Schiff einläuft.

Es wird kommen. Irgendwo wird sich ein Platz für mich finden. Irgend jemand wird auf diesem oder jenem Deck eine Extrakoje finden, oder jemand wird zum Glück in letzter Minute abspringen. Wer weiß, vielleicht bekomme ich sogar einen Platz am Tisch des Kapitäns zugewiesen, um mich unter all die uniformierten Typen und ihre Frauen zu mischen. Nein, der Tisch des Kapitäns ist vermutlich nicht für mich bestimmt. Vielleicht eher etwas wie Tisch Dreizehn, mit den Versicherungsvertretern und medizinischen Exzentrikerinnen, die mich als Geschichtenerzählerin feiern – Wirklich! Wie wundervoll! Erzählen Sie, welche Art von Geschichten? – und wo ich mein Mineralwasser trinken darf, ohne allzu viele Umstände zu verursachen. Ich werde an meinem Tisch an Bord sitzen und dir still zuprosten, über die Meere hinweg, dahin, wo du an deinem funkelst.

Bis dahin habe ich Genüsse für dich in petto. Eine vollkommene tieflila Aubergine; karamellisierten Fenchel; Röstkartoffeln mit Rosmarin; zur Erinnerung. Koriander-Orzo mit Huhn und Okra. Kiwis und Tangerinen. Kuchen saftig vor soviel Ingwer und Butter, wie sich eine Frau nur leisten kann, um etwas duftend Gewürztes und Verlockendes zu erschaffen, einen Geschmack, der dich an ein spätes Glas Wein und stimmungsgelöste Glieder erinnert: jene Frage in den Augen oder die zufällige Berührung eines Armes durch eine andere Hand. Der nie geküsste Kuss. Die entflammte Vorstellungskraft.

Genug. Genug. Die kulinarischen Genüsse sind echt oder werden es sein. Hier nun sind deine Seiten.

ERSTER TEIL

 

Bunt verstreut wie Konfetti lagen die Blätter auf dem Gehweg, als sei soeben ein Umzug vorübergekommen, und Flannery meinte noch nie im Leben solche Farben gesehen zu haben. Sie würden sich vertiefen und eindringlicher werden, wie Flannery wusste, warme Orange- und Granatapfeltöne, und sie konnte es kaum erwarten. Wie jedes andere eindrückliche Erlebnis lag dieser Anblick noch vor ihr. Doch schon bedeckten die Blätter goldruten- und walnussfarben den Boden, und oben in den Bäumen (sie blickte himmelwärts) fand sie unendliche Grünschattierungen, sämtliche Apfel- und Limonen- und Melonenfleischtöne, die sie sich nur vorstellen konnte. Sie waren so schön, dass sie sie am liebsten verspeist hätte oder eingeatmet, in sich aufgenommen, zu einem Teil ihrer selbst gemacht hätte. Wenigstens wollte sie sie niemals vergessen. Sie befahl ihrem Erinnerungsvermögen, sie zu bewahren; später mochte eine Zeit kommen, in der sie ihren Trost brauchte.

Sie stammte von einem Ort, an dem Herbst das Herannahen von Feuchtigkeit und Nebel bedeutete, die erneute Zähigkeit des Schuljahres: eine schlichte, öde Last auf Schultern und Hoffnung. Etwas ganz anderes als diese Leuchtkraft des Lichts und den frischen Biss der Kälte in die Wangen, ein spielerisches Zwicken, ein Liebesbiss eher als ein ernsthafter Schlag, der vor dem herannahenden Winter warnte. Sie war der hiesigen Winter noch nicht müde, da sie noch keinen erlebt hatte. Sie wusste, dass die nahende Pracht Tod und Verfall bedeutete, die Verheißung von eisgefangenen Ästen und schlüpfrigschwarzen Straßen, doch sie brachte es nicht fertig, die ihr innewohnende Trauer zu verspüren. All die Lebendigkeit vermochte sie nur als Heiterkeit zu deuten. Nicht als Melancholie.

Flannery überließ sich den Filmklischees vom Osten, wie sie sie als Tochter des Westens erfahren hatte. In ihren Turnschuhen kickte sie das Laub. Sie grub die Hände in die Taschen ihres Mantels, der ein ernstes Gewicht besaß, das ihr ungewohnt war. Sie wusste, dass diese Herbstpracht, die sie auf einen unerhörten Gipfel des Glücks trug – von dem sie unverhofft einen vollen Panoramablick hatte; sie erkannte die Gestalt ihrer Zukunft, den weiten Wirkungskreis der ihr bevorstehenden Städte und Tage – sie wusste, dass sie nie wieder einen solchen Höhepunkt reinen, sinnlichen Vergnügens erleben würde. Nie wieder in ihrem ganzen Leben.

Sie war siebzehn. Sie hatte im Grunde keine Ahnung von irgendwas. Und sie war im Begriff, jemandem zu begegnen – buchstäblich hinter der nächsten Ecke.

Mit dieser Person erwartete sie ein neues und vollkommen ungeahntes Glück.

 

Um die Ecke befand sich ein Diner. Diner: Schon allein die Wörter waren neu hier, als befände sie sich in einem anderen Land, und genau so fühlte sie sich jede einzelne Minute. Sie war mit Coffeeshops aufgewachsen, nicht mit Diners. Sie hatte keine Grinders gegessen, sondern Submarine Sandwiches. Sie hatte noch nie, nicht eine Sekunde lang, in Erwägung gezogen, ein Geleeomelette zu essen.

Dieser Diner nannte sich Yankee Doodle, ein fröhlicher Name, der der gedrückten Düsterkeit des Lokals Hohn sprach. Das Yankee Doodle hatte Geleeomelettes auf seiner Speisekarte, und Flannery kam sich verwegen vor, als sie Platz nahm. Sicher, sie hätte ein getoastetes Kleie-, Mais- oder Blaubeermuffin bestellen können – egal, es war im Grunde alles ein und dasselbe, und sie meinte den knusprigen gebutterten Rand dieser wohlgeformten Rundstücke bereits zu schmecken –, doch noch immer trug sie die goldene Pracht der Blätter in ihren Gedanken, und so sagte sie zu der sauertöpfischen Bedienung, die, vor Ungeduld geladen, wartete:

»Ein Geleeomelette, bitte. Und ein Glas Orangensaft.«

Die Kellnerin nickte, kritzelte auf ihren Block und verschwand hinter dem engen Formica-Tresen, an dem einige jackettragende Gestalten über heißen Getränken und Doughnuts hingen oder über Hash Browns mit ketchupblutigen Eiern. Einen gebeugten Mann in weißem Hemd, dessen kahl werdender Schädel von dampfenden Fettwolken gezeichnet war, wies die Kellnerin mit unnötiger Lautstärke an:

»Geleeomelette!«

Das Wort, absurd, wenn man es aussprach, vor allen Dingen so laut und mit der gelangweilten Stimme der Bedienung, hatte einen Vorzug: Es erregte die Aufmerksamkeit einer Person, die an einem Tisch in einer nahegelegenen Ecke saß, einer Person, vor der Flannery sich ansonsten vielleicht hätte verbergen können, als sie in den vertrauten Zustand linkischer Befangenheit versank.

Schwarz gekleidet, Kaffee trinkend, eine Zigarette rauchend. In ein Buch vertieft – zumindest bis »Geleeomelette!« sie aus ihrer Konzentration riss. Dank einer gnädigen Ahnung bemerkte Flannery die Leserin einen Moment bevor »Geleeomelette!« gebellt wurde, so dass sie ihren Blick bereits auf den eleganten herbsttonfarbenen Schopf gerichtet hatte und sich schon neugierig fragte, um welches Buch es sich da handeln mochte.

Die grünen Augen blickten irritiert auf, um zu sehen, wer um alles in der Welt eine solche Bestellung aufgegeben haben mochte.

Flannery erblickte die Augen der Leserin, ihre katzengrünen Augen, und hielt den Atem an. Niemals zuvor im Leben – zumindest nicht seit dem Laub – hatte sie eine solch herzzerreißende Farbe gesehen.

 

Auf den grünglitzernden Spott – Flannerys Frühstücksbestellung war vom Standpunkt einer Erwachsenen kaum zu begreifen – antwortete das hungrige Mädchen mit einem verlegenen Lächeln und einem entschuldigenden Schulterzucken. Ich kann es nicht ändern, versuchte Flannery zu vermitteln. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Es erfolgte kein Lächeln im Gegenzug. Das flüchtige Aufblicken der Leserin war so kurz, dass Flannerys Schultern noch hochgezogen waren, als jene Augen bereits wieder auf die Buchseiten zurückkehrten und die ernsten Lippen einen tiefen Zug von der Zigarette nahmen.

Oh. Gott. Diese Lippen. Es war die Zigarette, die Flannerys Aufmerksamkeit auf sie lenkte, jetzt, wo die Augen der Leserin wieder auf ihr Buch gesenkt waren. Flannery hatte nichts weiter zu tun, als diesen Mund beim Rauchen zu beobachten, und obwohl sie nicht hätte sagen können, warum er so schön war, oder die Faszination seiner Form hätte beschreiben können – sie war zu jung, um Worte für derlei Dinge zu haben –, konnte sie doch nicht umhin, ihn zu beobachten, geschminkt in einem dunklen Persimonenton, der seine Spuren auf der Zigarette hinterließ. Doch sie war heruntergebrannt, wie Flannery bemerkte, und bald drückten die zarten, entschlossenen Finger sie aus. Flannery sah rasch beiseite, voller Panik, befürchtete weiteren smaragdgrünen Spott, würde sie bei diesem schamlosen Starren erwischt.

Die Kellnerin brachte ihr den Orangensaft, und Flannery trank einen großen Schluck, als kippe sie einen Wodka. Er war künstlich süß und von unwahrscheinlicher Farbe, eher wie eine Werbetafel oder Wandfarbe als wie echter Fruchtsaft. Sein seltsamer Geschmack ließ ihren Gaumen pochen, und sie war erleichtert, als die Bedienung kurz darauf mit einem anderen Aroma wiederkehrte, um ihn zu vertreiben: ein leicht gebräuntes gelbes Omelette, das lieblos auf einen dicken, ovalen weißen Teller bugsiert worden war.

Flannery starrte es einen Augenblick an. Was hatte sie da bestellt? Was war überhaupt ein Geleeomelette? Sie drückte die flache Seite der Gabel zögernd hinein, stach ein sauberes Stück davon ab. Aus dem Schnitt quoll ein dickes, durchsichtiges Purpurrot, als hätte sie eine außerirdische Vene getroffen. Das Purpurrot war, stellte sie fest, nichts anderes als Traubengelee. Voller Unbehagen mieden das Purpurrot und das Gelb einander auf dem Teller. Sie waren nicht füreinander geschaffen: Zusammenzusein sagte ihnen nicht zu. Flannery legte die Gabel hin und trank in kleinen Schlucken ihren Saft, um Mut zu fassen.

Irgend etwas veranlasste sie, einen Blick auf die Leserin zu riskieren, und sie war sicher, eben noch ein verräterisches Neigen des Kopfes zu erhaschen, als hätte die Frau gerade sie beobachtet. Dieser ermutigende Gedanke bewog Flannery, ihren Blick auf die nun nicht mehr rauchende Gestalt zu heften, die einen Schluck schwarzen Kaffee trank. Und noch einen. Sie blätterte die Seite um. Sie schürzte die Lippen. (Diese Lippen!) Sie strich sich eine Strähne des tief rotbraunen Haares hinter das zarte Ohr. Sie trank ihren Kaffee. Ihre Augen glitten zur nächsten Seite hinüber. Flannery vergaß ihr Omelette und beobachtete die Frau beim Trinken ihres Kaffees. Noch immer wollte sie wissen: Was war das für ein Buch?

Es funktionierte. Die Konzentration der Leserin ließ nach, und schließlich blickte sie auf, eine Augenbraue hochgezogen, mit ironischem Gesicht.

»Schmeckt dir dein Frühstück nicht?« fragte sie hinterhältig laut, so dass die Kellnerin sie hören konnte. Flannery mochte nicht ehrlich antworten und es zugeben, also zuckte sie erneut die Schultern, stumm. Idiotisch. »Du scheinst Gefallen an meinem Kaffee zu finden«, fuhr die Leserin fort und griff nach einer weiteren Zigarette, »so wie du ihn anguckst. Vielleicht solltest du dir selbst eine Tasse bestellen, wenn du Lust darauf hast.«

Das reichte. Flannery errötete von der Brust an aufwärts, eine saftige, heiße pflaumenrote Demütigung. Sie wandte den Blick ab, bat um die Rechnung, zahlte und verließ das Yankee Doodle fluchtartig. Ohne zurückzublicken. Ohne auf ihr Wechselgeld zu warten.

Auf der Straße pochte ihr das Herz laut in den Ohren, vor Hast und vor Verlegenheit. Nicht so laut allerdings, als dass es die inneren Worte ihrer stummen Entgegnung übertönt hätte.

Es war keineswegs so gewesen, dass sie den Kaffee gewollt hatte, nein. Das nicht. Sie hatte der Kaffee sein wollen: Sie hatte das schwarze Getränk darum beneidet, jene Lippen kosten zu dürfen.

 

Sie hätte nie hierherkommen sollen. Sie gehörte hier nicht hin. Wenn Flannery irgendwo hingehörte – woran ihre unausgeglichene Haut und ihr unbeholfener langbeiniger Gang sie zweifeln ließen –, dann keinesfalls auf dieses geschäftige altehrwürdige Universitätsgelände, in ein Jahr, das Jahreszeiten besaß, unter diese missmutigen Menschen. Sie hatten allesamt vor, sie auszulachen, ganz klar, Tag für Tag, bis sie schließlich einknickte und in das Land der Computer und Eukalyptusbäume zurückkehrte, in dem einem alle – im Ernst – einen schönen Tag wünschen.

»Hey, Flannery!« rief eine Verbündete in einem dünnen Mantel über die verkehrsflirrende Straße hinweg. Eine Kommilitonin aus dem Westen, der Flannery gleich am ersten Tag begegnet war. Sie wohnten auf demselben Stockwerk und teilten sich einen überbesetzten Waschraum. Sie hieß Cheryl, was Flannery leichtes Unbehagen verursachte, doch mit einem Namen wie Flannery konnte man es sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. »Gehst du zu Einführung in die Literaturkritik? Es fängt in zehn Minuten an.«

»Noch was Neues? Ist das jetzt nicht ein bisschen spät?« Es kam ihr bereits vor, als sei sie schon ihr halbes Leben hier, dabei waren es erst zwei Wochen.

»Ja, aber der Professor ist gerade erst zurückgekommen. Aus Paris. Bradley. Er soll toll sein.«

Es hatte so viele Anfänge gegeben, wie es schien – wann würden sie enden? Dennoch: Literaturkritik. Es könnte das sein, was sie brauchte. Eine Waffe. Schlag sie mit ihren eigenen Waffen. Lerne die Sprache der Klugschwätzer.

»Okay.« Sie passte ihre Schritte denen ihrer Halbfreundin an. »Meinst du, ich hab noch Zeit, mir unterwegs in der Cafeteria ein Muffin zu holen?« Ihr Magen gähnte hungrig.

Cheryl sah auf die Uhr. »Wenn wir uns beeilen«, meinte sie. »Aber hab ich dich nicht eben aus dem Yankee Doodle kommen sehen?«

»Aus dem was? Ach, äh – ja …«

»Sieh dich vor«, neckte Cheryl sie. »Sonst hast du den Erstsemesterspeck ruckzuck drauf.«

Das sonnige Geschöpf streckte spielerisch die Hand aus, um Flannery auf den Bauch zu klopfen. Es bedurfte der strengsten Selbstbeherrschung, die Flannery aufbringen konnte, um sie nicht zu schlagen.

 

Die erste Zusammenkunft eines Seminars war immer ein Gemenge aus Papieren und Gesichtern, eine geschäftige Phantasie über das enorme Gewicht an neuem Wissen, das bald gewonnen sein mochte. Flannery hatte sich bereits für ein breites Spektrum an Themen eingeschrieben: Einführung in die Kunstgeschichte; Revolutionen – Eine Einführung: Frankreich, Russland, China; Einführung in die Weltliteratur; Einführung in das Sozialverhalten von Tieren. Flannery fragte sich, wie sie die Zeit für all diese Einführungen finden sollte.

Vielleicht war die sakkotragende, grauhaarige Gestalt am unteren Ende des Raumes mit den hohen Fenstern, die wie angeheitert an dem hölzernen Stehpult lehnte, in der Tat toll. Aus Bradleys Einführung in die Einführung konnte Flannery keinerlei Rückschlüsse darauf ziehen. Er stimmte eine Litanei von Worten an, die sie nicht kannte, aber als unterschiedliche Wochenthemen des dichten Lehrplans identifizierte; er sprach flüssig europäische Namen aus, deren gedruckte Entsprechungen sie auf der Liste der Pflichtlektüre gerade eben ausmachen konnte. Nachdem er sein verwirrendes Kauderwelsch über den Stoff, den sie eines Tages vielleicht alle beherrschen würden, beendet hatte, erklärte er, dass es Tutorien gäbe, für die man sich anmelden müsse – ergänzende Lehrveranstaltungen, durchgeführt von Graduierten, die die Bewertungen vornehmen würden, wie Cheryl mit unterdrückter Stimme erläuterte, als ob Flannery das nicht längst gewusst hätte. Die Tutorien wurden von Bob und Anne geleitet, die in der ersten Reihe saßen, mit dem Rücken zu den Studierenden, und ihre müden graduierten Arme hoben, um sich zu erkennen zu geben. Wie sich zwischen Montags-Bob und Dienstags-Anne entscheiden? Wie so viele ihrer Entscheidungen traf Flannery auch diese blind. Sie wählte Anne. Dienstags-Anne.

»Au ja, dann gehe ich auch zu ihr«, meinte Cheryl und griff nach Flannerys Arm.

Flannery hielt den Atem an. Einführung in die Literatur-kritik. Jetzt komme ich. »Au ja«, wiederholte sie im stillen, im privaten Raum ihrer Gedanken, au ja ist keine Wendung, die wir als Collegestudentinnen benutzen. Es klingt, als wärst du eine Fünftklässlerin.

Vielleicht bekam sie schließlich doch noch heraus, wie das Leben hier lief. Wurde das Entwickeln derartiger Erwiderungen in diesem grundlegenden Einführungskurs behandelt?

 

Durch die Tage stolperte sie, nachts jedoch schwamm sie frei durch die kühlen Gewässer ihrer Einbildungskraft. Im Dunkeln war ihr Körper seiner schüchternen Entschuldigungen ledig, und ihre jungen Hände wanderten über ihr Fleisch, wie zum ersten Mal. Sie gestattete sich die Stunden, wie fortgeschritten auch immer sie sein mochten, die sie für diese Erkundungen brauchte, auch wenn sie im Grundkurs Revolutionen am nächsten Tag müde war und auf Cola zurückgreifen musste, um die Energie aufzubringen, sich pflichtgemäß Notizen zu machen.

Wie konnte Flannery so alt sein und sich selbst immer noch nicht kennen? Denn diese Siebzehnjährige fühlte sich wahrhaftig alt. Die einsamen Jahre nachhaltigen pubertären Lesens und musikgespeisten Schreibens hatten die Gewissheit in ihr genährt, von Reife erfüllt zu sein – von einem ungewöhnlichen und auf seine Weise eindrucksvollen gefühlsmäßigen Selbstbewusstsein. Sie besaß einen wachen Sinn für das Wesen der Menschen. Sie hatte zwei ihrer High-School-Freundinnen gesprächsweise durch den Verlust ihrer Jungfräulichkeit begleitet, wiewohl sie an ihrer eigenen problemlos festhielt.

Flannerys Selbstbewusstsein erstreckte sich indes nicht auf ihr sexuelles Wesen. Sie und ihr Körper begannen gerade erst miteinander zu kommunizieren. Wo war sie gewesen, fragte sie sich manchmal, als all die anderen Sechs- und Achtjährigen eifrig Doktor spielten und in einem schattigen Winkel des Gartens Untersuchungen anstellten? Warum hatte ihre Mutter sie nie mit irgendeinen kleinen Freund beim gegenseitigen Befummeln überrascht, so dass sie anschließend die angemessene Anzahl von Jahren schamerfüllt und immer noch neugierig hatte durchleben müssen? Alle verfügten über derlei Geschichten, wie es schien. Der ruppige ältere Junge, der seine Hand in deine Hose steckte. Das bierenthemmte Gefummel in der Mittelstufe, das beinahe aufs Ganze ging. Sie hätte sich sogar mit dem einsamen Ritt des Nachmittags durch den staubtrockenen Canyon begnügt, bei dem der verführerische Rhythmus des Pferdes eine heißwangige Erregung erzeugte.

Nichts. Nichts dergleichen. Flannery war geküsst und umarmt und zum Tanzen ausgeführt worden wie jedes andere hübsche Mädchen. Sie hatte Gefummel im Park und Geschmuse auf Partys erlebt, die unverhoffte Begegnung mit Gesabber, und in dieser Begegnung hatte eine vage Ahnung von Begierde gelegen. Doch sie hatte ganz gewiss nie einen Orgasmus gehabt. Sie hatte – typisch – erst einmal darüber lesen müssen, und dann hatte sie sich – neugieriges Geschöpf – aufgemacht, danach zu suchen.

Im College, Tausende von Meilen von daheim und allem Vertrauten entfernt, in der sicheren Obhut der Dunkelheit, fand sie ihn schließlich. Wieder und wieder. Oh! Das war es also, wovon die Rede war. Als Flannery ihn erst einmal gefunden hatte, konnte sie gar nicht ablassen, dieses Vergnügen anzustreben, und sie genoss die Laute ihres kurzen Atems in der stillen Nacht. Mehr. Weiter. Noch mal. Sie hatte versäumte Jahre aufzuholen.

Und dennoch – selbst als sie auf diesem neuen Feld der Erkenntnis zunehmend bewandert wurde, wusste sie, dass etwas fehlte. Sie brauchte einen anderen Menschen – ein Gesicht, eine Gestalt –, den sie in ihre Phantasie mit hineinnehmen konnte.

 

Warum war Cheryl ständig um sie herum? Warum konnte Flannery sie nicht gegen die schüchterne Puertoricanerin einen Stock tiefer eintauschen, die mit der leisen Melodik einer Dichterin sprach, oder notfalls auch gegen den sonnengebleichten Surfer-Nick mit dem Ohrring, neben dessen Lachen sie beim Essen oft zu sitzen schien, obwohl sie bislang noch kein Wort miteinander gewechselt hatten bis auf den Austausch ihrer Namen und ihrer Heimatstaaten und Klagen über ihre schimmelbefallenen Schlafräume.

»Hi, Cheryl.« Flannery war an diesem Morgen zu müde, um dagegen anzukämpfen. Sie hatte eine lange Nacht hinter sich: Sie war zur Spätvorführung eines Thrillers gegangen, in dem eine temperamentvolle schwarzhaarige Schauspielerin die Hauptrolle spielte, deren lederbekleidete Kapriolen Flannery hinterher allein in ihrem Zimmer noch lange beschäftigt hatten. Ihre steifen Finger pulten nun die Kranbeeren aus einem zuckerkrustigen Muffin. Sie brauchte das Vitamin C.

»Was machst du hier?« Cheryl hatte sich vor ihr aufgebaut. »Kommst du nicht mit?«

»Wohin?« Manchmal war das College wie eine einzige endlose erschöpfende Aneinanderreihung von Terminen. Sie brauchte jetzt schon ein Schläfchen, und dabei war es noch nicht einmal zehn Uhr.

»Tutorium.« Cheryl zupfte Flannery am Pullover. Die Frau konnte es nicht lassen, sie anzufassen. Das uferte allmählich aus. »Literaturkritik. Erinnerst du dich?«

»O Gott. Ja. Danke, dass du mich erinnerst.« Flannery verschlang noch ein paar Krümel von ihrem Cranberry-Muffin, trank einen Schluck dünnen Kaffee und räumte ihr Geschirr zusammen. »Danke. Hatte ich völlig vergessen.«

Sie schlenderten über eine fremd anmutende Grünfläche zu einem fernen Seminarraum. Flannery musste sich Cheryls Führung überlassen. Für ihre Organisiertheit hätte sie ihrer nervigen Flurgenossin dankbar sein sollen, und um zu beweisen, dass sie es war, erlaubte Flannery Cheryl, sich munter zwitschernd über eine Verabredung auszulassen, die sie mit dem süßen Doug aus Iowa am Abend zuvor gehabt hatte.

Dienstags-Anne. Richtig. Und hier war er – der Dienstag. Wenn heute Dienstag ist, muss es Anne sein, dachte Flannery und erging sich schläfrig in weiteren ähnlich banalen Blödeleien.

 

Doug hing immer noch zwischen ihnen in der Luft, als die beiden Frauen den Seminarraum fanden, doch für Flannery wurde ihr Eintreten von einem lauten inneren Knalleffekt begleitet.

Mist!

Sie musste Anne sein, natürlich: Anne musste sie sein. Kleiner, in dem großen beigen Seminarraum, aber noch genauso lebendig, so vollkommen-mundig, so funkelnd. Sie saß am Kopfende eines breiten Seminartisches, blätterte in einer Mappe mit Unterlagen, reichte der Studentin zu ihrer Rechten ein Blatt Papier zum Weiterleiten und erlaubte Flannery, sie einen Augenblick zu betrachten.

Sie hatte noch dieselbe makellose klare Haut, dasselbe glänzende dunkelrote Haar, kinnlang. Und sie trug dasselbe Outfit. Schwarze Lederjacke, eher schick und feminin geschnitten, nicht wie eine Motorradjacke, silberne Reißverschlüsse an strategischen Stellen; engsitzende blaue Jeans, sorgsam ausgeblichen; spitze, hübsche, provozierende Stiefel. Nicht hochhackig oder empfindlich und auch nicht schwarz – ein tiefes Tierbraun –, zweifellos die Art, die zum Laufen gedacht war – »made for walking«. Sie ließen Flannery einen Nancy-Sinatra-Schauer über die hochgezogenen Schultern rieseln.

Sie hielt auf der Türschwelle inne, bevor sie gesehen worden war. »Ich kann nicht … Ich hab vergessen …«, stammelte sie an Cheryl gewandt.

»Was? Nun komm schon. Das ist der richtige Raum. Ich erkenne die Dame wieder.«

Das ist keine Dame, wollte Flannery sagen, aber sie hielt den Mund, als Cheryl sie zu einem Stuhl in der Ecke zog. Zum Glück waren die vorderen Plätze besetzt, so dass sie weit weg sitzen konnten, nah am Fenster. Schlimmstenfalls konnte Flannery immer noch hinausspringen. Das hätte vielleicht eine gewisse Poesie. Würde vielleicht, wenngleich zu spät, ihre Empfindsamkeit in Sachen Literaturkritik offenbaren.

Es musste geschehen. Sobald sie Platz genommen hatte, versuchte Flannery sich mit ihren Studienutensilien zu beschäftigen, doch alles, was sie wirklich brauchte, waren ein Block und ein Stift. Sie legte beides vor sich hin. Irgend jemand reichte ihr ein Blatt Papier, auf dem die Abgabetermine für die Hausarbeiten aufgelistet waren, die Sprechstunden von Anne, die Prüfungstermine. Es musste geschehen. Es gab keinen Ausweg. Schließlich blickte Flannery auf.

Und da war sie, ihre Peinigerin, und betrachtete Flannery wissend mit ihren großartigen grünen Augen.

 

»Also, Kinder«, begann die Tutorin und brachte die Ironie schon gleich zu Anfang ins Spiel. »Willkommen in der weiten Welt der Literaturkritik. Ihr seid sehr zahlreich, was erfreulich ist, aber zusätzliche Arbeit für mich bedeutet. Eure Aufgabe ist es, am Ende des Semesters Derrida von de Man unterscheiden zu können und Henry Louis Gates von Harold Bloom; meine Aufgabe ist es, euch voneinander unterscheiden zu können. Leider heißt das Anwesenheitsappell. Stellt euch vor, ihr seid bei der Army. Amy Adamson? David Bernstein? …« Und so fuhr sie fort und hielt nach jedem Namen einen Moment inne, um sich das Gesicht ins Gedächtnis einzuprägen.

Unweigerlich gelangte sie zu »Flannery Jansen«, ein Name, der sie veranlasste, mit einem ungläubigen halben Lächeln suchend im Raum umherzublicken. Flannery hatte keine Wahl. Sie musste die Hand mit dem Stift in widerwilligem Selbstbekenntnis erheben.

»Du bist Flannery?« wiederholte sie und brachte die Rose der Verlegenheit auf Flannerys blassem Gesicht erneut zum Blühen. »Nun, das verleiht dir in Sachen Literatur sozusagen einen Vorsprung, nicht wahr?«

Gnädigerweise setzte sie ihren Namensaufruf fort, so dass Flannery fortan mit gesenktem Kopf dasitzen und sich für den Rest der Stunde darauf konzentrieren konnte, nicht zu hören, was die Frau zu sagen hatte. Die Tutorin sprach über den Stoff der ersten Vorlesung, schmückte ihn aus und erklärte und ermutigte, Fragen zu stellen. Trotz ihrer sturen Ohren konnte Flannery nicht umhin zu bemerken, dass die Worte mit heiterem Esprit und voller Anmut geäußert wurden. Sie konnte ebensowenig umhin zu bemerken – es waren ihre Finger, die es bemerkten –, dass zwischen ihren beiden Namen eine höhnische Nähe bestand. Ohne darüber nachzudenken, beim Nichtzuhören, schmückte Flannery den Namen der Tutorin auf dem Ausdruck mit einigen zusätzlichen Buchstaben aus, so dass ANNE zu FL-ANNE-ERY wurde. Als sie voller Schrecken bemerkte, was sie getan hatte, musste sie den ganzen Namen durchkritzeln, und zwar vehement. Schließlich war ANNE ARDEN vollständig ausgelöscht, verschlungen von einem Balken aus blauer Tinte.

Das Tutorium war vorbei. Gott sei Dank. Die Leute standen auf. Die Tortur war beinahe zu Ende. Flannery beugte sich zu Cheryl hinüber.

»Ich muss in das andere Tutorium wechseln.«

»Ja? Warum?«

»Ich kann … ich kann hier nicht mitmachen. Mir ist eingefallen, dass ich was anderes habe, was sich damit überschneidet.« Sie hatte nicht vor, der abwesenden, von Doug belämmerten Cheryl ihre Gründe darzulegen.

»Oh, na dann …« sagte Cheryl und wandte sich daunenjackendick ab, ganz beleidigte Aufgeblasenheit. »Wie du meinst …«

Flannery hatte die Absicht, es später wieder einzurenken; vielleicht indem sie ihr von den süßen getrockneten Aprikosen abgab, die ihre Mutter ihr von daheim geschickt hatte.

 

»Entschuldigung.«

Flannery stand gut zwei Schritte von dem Platz entfernt, an dem die schöne Frau noch immer saß. Sie musste die Stimme ein bisschen heben, um die tischbreite Entfernung zwischen ihnen zu überwinden; so etwas wie Nähe wollte sie keinesfalls riskieren.

»Ich habe ein Problem.«

Die Tutorin blickte mit dem ironischen Gesichtsausdruck auf, den Flannery bereits vom Tag des ungegessenen Frühstücks kannte. Die Seminarleiterin – Anne – schwieg, nicht aber ihre Augen. Ich weiß, dass du ein Problem hast, verkündeten sie klar und deutlich. Ich sehe es.

»Ich kann dienstags nicht. Das war mir nicht bewusst, als ich mich für dieses Tutorium eingetragen habe. Wie kann ich wechseln?«

Die Frau nickte, mit von Heiterkeit unterlegtem Ernst. »Es nehmen viel mehr Leute an diesem Seminar teil, als wir erwartet haben.« Sie klang freundlich, kollegial. »Wir werden vermutlich zusätzliche Tutorien einrichten müssen. Ich bin sicher, dass ich ein weiteres leiten werde. Wie sieht es bei dir donnerstags nachmittags aus?«

»Schlecht«, erwiderte Flannery so prompt, dass sie auf keinen Fall darüber nachgedacht haben konnte. »Aber ich könnte montags. Bei dem anderen Tutor – Bob.« Ihr wurde klar, dass der Wechsel vermutlich bedeuten würde, die Einführung in das Sozialverhalten von Tieren zu opfern. Soviel zu ihrem Schein in den Naturwissenschaften.

»Hmmm. Montags könnte jetzt auch schon voll sein.« Doch die Tutorin schien allmählich gelangweilt von diesem Spielchen. Sie schob ihre Unterlagen in die Mappe und fuhr in geschäftsmäßigerem Ton fort: »Komm nach der nächsten Vorlesung zu uns. Alle werden ihre Stundenpläne über den Haufen werfen, aber Bob und ich werden im Anschluss noch bleiben und zusehen, wie wir euch alle unterbringen. Wir möchten all unsere Herzblättchen glücklich sehen.«

»Tja.« Annes Sarkasmus setzte Flannery gewissermaßen frei. »Wir alle sind euch selbstverständlich aus tiefstem Herzen dankbar.«

Sie wandte sich zum Gehen, doch erst nachdem sie gesehen hatte, wie das anmutige Antlitz hochgefahren war. Als Flannery die Tür ansteuerte, vernahm sie die Stimme erneut. Sie schien jetzt heiserer, von einer nikotinerzeugten Rauhheit. Oh, natürlich. Es genügte nicht, dass Dienstags-Anne schön war, sie musste auch noch eine sexy Stimme haben – eine Stimme, für die Flannery in Erwägung ziehen würde zu sterben.

»Wie kommt man eigentlich zu einem Namen wie Flannery?« fragte diese Stimme Flannerys entschwindenden Rücken.

Flannery zuckte die Schultern, ihr Markenzeichen, auf dem Weg zur Tür hinaus. Sie wandte den Kopf nur halb.

»Verdanke ich meiner Mutter.«

 

Die Stimme folgte Flannery über den von hohen Mauern umgebenen Campus, in die weitläufige Bibliothek mit ihren Büchertürmen hinein und wieder hinaus, die Flure der pseudogotischen Gebäude entlang. Sie wurde mit der Geographie ihrer Bildung ebenso vertraut wie Flannery selbst. Sie hörte die Stimme in der Duschkabine im weißgekachelten Waschraum (wo getriebene Kommilitoninnen ihre verstohlenen Brechrituale befolgten); in dem von Bleiglasfenstern gesäumten Speisesaal, wo sie schließlich auf Surfer-Nick traf. Am lautesten jedoch vernahm sie sie auf den diesiger werdenden, herbstbelaubten Straßen, die sie um Trost und Besinnung willen entlangwanderte, ruhige Augenblicke, in denen sie sich vergewisserte, dass sie mit Arbeit und Wandel auf dem laufenden war. Als der Oktober Gestalt annahm, sah Flannery auf ihr September-Ich zurück wie auf eine frühere Generation, geboren lange vor Beginn der modernen Welt, als Unschuld noch existierte. (Ihre Unschuld glaubte Flannery bei ihrem ersten Besuch im Yankee Doodle verloren zu haben.) Die damals frühen Gelb- und Grüntöne hatten sie in Staunen versetzt, doch jetzt nahmen die Bäume noch prächtigere Farben an – Mango und Ringelblume, Kürbis und Honigmelone und ab und an sogar Granatapfel, worauf sie gehofft hatte –, bis Flannery sich wie betäubt fragte, ob sie ihr das Herz stillstehen lassen oder ihre kalttränenden Augen blenden würden.

Noch immer hatte sie Annes Stimme in ihren Ohren. Wie war das möglich? Flannery hatte seit ihrem Wechsel in Bobs Tutorium nicht mehr mit Anne gesprochen. Bob machte Literaturkritik zu einer schmerzlosen, wenn auch nicht sonderlich faszinierenden Angelegenheit. Er besaß die gierigen Augen eines Eichhörnchens und braunborstiges Haar mit grob gestutzten Ausläufern, fast wie Koteletten. Es verlieh ihm das Aussehen eines deutschen Linken der siebziger Jahre, was ihm wiederum eine nette europäische Autorität verlieh, wenn er vor den staunenden Studierenden die Finten und Kapriolen von Derrida und anderen dekonstruierte. Bob liebte Männerjargon und Wortspielereien und die Vorführung pseudobeiläufiger postmoderner Tricks wie die semiotische Analyse des Essen, das bei McDonald’s angeboten wurde (»Was bedeutet McNugget?«), oder phantasiereiche Thesen über den verborgenen subversiven Gehalt von Hollywood-Schinken. Er behauptete, dass die muskelbepackten Action-Helden Hélène Cixous einiges über die Bedeutung von Maskulinität lehren könnten.

Flannery hörte Anne nicht wirklich, aber einmal in der Woche sah sie sie in der ersten Reihe des Hörsaals sitzen. Sie sah zu, wie Anne die Prüfungsfragen für die Zwischenklausur ausgab. Während Bradley dozierte, beobachtete Flannery, wie Anne sich mit der Hand durch das Haar fuhr, und sie ahnte, wie ihre Finger nach Nikotin zuckten; sie bemerkte, wie sie sich gelegentlich Notizen machte, und sie registrierte die Wölbung ihrer Lederjacke, wenn sie sich hinüberneigte und Bob einen Scherz zuflüsterte, der daraufhin nickte und grinste. Flannery konnte die Stimme oder die Scherze nicht vernehmen, konnte meistens nicht einmal Annes Gesicht sehen, nur den Kupferschnitt ihres Haares. Doch durch einen mentalen Zaubertrick spürte sie den Atem der Frau in ihrem Ohr, was ihr das eigene Mitschreiben unmöglich machte und sie tiefer mit ihrem Sitzplatz verschmelzen ließ, unnütz.

 

Cheryl ließ die Literaturkritik sausen, Gott sei Dank, so dass Flannery jede Verbindung zu Dienstags-Anne los war. Doch es gab noch eine Kommilitonin, eine clevere Koreanerin namens Susan Kim, mit der man gut theoretische Ansätze aufdröseln konnte, die jedoch die unselige Angewohnheit besaß, bezaubernde Anekdoten über ihre Tutorin zu erzählen – bei der es sich zufällig um Anne handelte. »Sie ist so klug und witzig – ich schwöre bei Gott, sie ist besser als Bradley«, hatte Susan Kim einmal zu Flannery gesagt. Widerwillig kündigte Flannery ihre gemeinsamen Studien auf und hoffte, auf diese Weise ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen.

Es gelang ihr nicht. Es war nicht zurückzugewinnen. Flannery hielt auf dem Campus nach Anne Ausschau, selbst wenn sie sich schwor, es nicht zu tun, und sie entdeckte Anne an Orten, an denen sie sie nie vermutet hätte. Sie erblickte Annes Gesicht durch das Fenster eines japanischen Restaurants, wo sie mit einem verborgenen Gegenüber Sushi aß; sie erblickte Anne, wie sie darauf wartete, die Straße zu überqueren, während sie aus einem Styroporbecher trank und ungeduldig dreinschaute; und einmal erblickte sie Anne in einem rund um die Uhr geöffneten Supermarkt beim Zigarettenkaufen, als Flannery Waschpulver brauchte. Sie trug ihr Waschtagsoutfit – ausgebeulte graue Trainingshose und ihre Schaffellstiefel und, o Gott, ein Sweatshirt mit einem saublöden Logo. Flannery hatte mit leeren Händen die Flucht ergriffen und sich gezwungen gesehen, Waschpulver von einer Kommilitonin zu erbetteln.