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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Weitere ebooks von Karin Kallmaker bei Krug & Schadenberg:

 

Unvergessen

Liebe im Sternenlicht

Dein Herz sei mein

Es begann mit einem Kuss

Tanz auf dem Eis

Und auf einmal ist es Liebe

Karin Kallmaker

Ins Licht der Liebe

Roman

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Krug

K+S digital

Für Maria, einzigartig,
und auf neue Freundschaft

TEIL I

Holly, heute

Holly dachte nur: »Genau das habe ich gewollt.«

Lippen, so weich, so köstlich wie in ihrer Phantasie. Eine beharrliche Hand auf ihrem Rücken, die sie nicht gehen ließ. Ihr Arm um diesen glatten Nacken geschlungen, haltsuchend, so dass ihre Vernunft sich dem fordernden Mund nicht länger widersetzte.

Die Musik übertönte ihr Stöhnen, aber sie wusste, dass das Ja, das in ihrer Kehle hochstieg, nicht zu verbergen war, das Ja auf eine noch nicht gestellte Frage. Dieses Ja zog ihr Rückgrat zusammen und ließ sie den Mund öffnen, um die Frage zu erbitten.

Schließlich wieder Luft holen. Sie atmete tief ein und war benommen, während ihr Körper auf das kundige Streicheln ihrer Schulterblätter reagierte, ihrer Rippen, weiter nach vorn, bis ihre Brüste vor Verlangen schmerzten.

Endlich erklang in ihrem Ohr, über die Musik und das Pochen ihres Pulsschlags hinweg, die Frage. »Wollen wir irgendwo hingehen, wo wir allein sein können?«

Sie nickte. Die Hand auf ihrem Rücken führte sie zur Tür, aber dann hielt Holly unvermittelt inne. Sie sah auf, blickte in die unergründlichen Augen, die die Farbe von schmelzendem Eis besaßen, und murmelte: »Ich weiß gar nicht, wie du heißt.«

Sie musste die Frage wiederholen, ihre Lippen spürten die Wärme eines weichen Ohrläppchens.

Die unergründlichen Augen betrachteten sie einen langen Moment, als ob die Entscheidung noch nicht gefallen wäre. Dann schickte der Atem an Hollys Ohr ihr eine lustvolle Welle das Rückgrat hinunter.

»Ich heiße Reyna.«

Holly, zwei Monate zuvor

1

Wieder einmal schlug der Regen ans Fenster, und Holly Markham hob den Blick von ihrer Arbeit, um die Schwere des Unwetters abzuschätzen. Heftiger Wind, strömender Regen – ein typischer südkalifornischer Wintersturm. Lästig, aber mehr auch nicht.

Sie nahm sich einen Augenblick Zeit, um zu beobachten, wie die Tropfen ineinanderliefen und sich lösten, um die Fensterscheibe hinabzugleiten. Es schien ein zufälliger Tanz zu sein, aber Holly vergnügte sich mit der Überlegung, welche Gleichung die Abwärtsbewegung von Regentropfen auf einer Glasscheibe unter Berücksichtigung der variablen Windgeschwindigkeit, der Ansammlung von Schmutz und der Masse eines jeden Tropfens am besten beschreiben würde. In der Natur waren sehr wenige Dinge wirklich vom Zufall bestimmt.

Mit leichtem Widerstreben wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Versicherungsstatistiken zu, die auf ihrem Schreibtisch ausgebreitet waren. Sie waren nicht halb so faszinierend wie die Regentropfenmuster, aber letztlich fesselte alles, was mit Zahlen zu tun hatte, unweigerlich ihr Interesse. Die durchschnittlichen medizinischen Kosten für die häufigsten Arbeitsunfälle, die geographischen Schadenshäufigkeiten und die regionalen Kosten der Gesundheitsfürsorge waren nur einige der Faktoren, die Alpha Indemnitys Tarife für Arbeitsunfallversicherungen beeinflussten. Clay bezeichnete ihren Job als den Unterbauch der modernen Geschäftswelt. Er hatte recht. Aber ihre Arbeit machte sich bezahlt, und ihr B.A.-Abschluss in Mathematik war ihr von Nutzen. Sie definierte sich nicht über ihren Job. Er war nur ein notwendiges Übel.

Ein Schatten blockierte das Licht, das auf ihre Unterlagen fiel, und sie blickte auf.

»Der große Mann verlangt nach dir. Wie üblich, wie immer.« Tori hatte einen Stapel Ausdrucke unter den Arm geklemmt. Holly sah, dass es die Unterlagen für das halbjährliche Meeting der Preiskommission waren. Ursprünglich hätten sie in der folgenden Woche versandt werden sollen, doch am Abend zuvor war die Deadline vorgezogen worden. Tori wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.

»Ich komme sofort. Nimm dir ein paar M&M«, bot Holly ihr an und wies auf die Schale mit den Süßigkeiten auf ihrem Schreibtisch. Toris ausdrucksvolle braune Augen kündeten von ihrem Stress.

»Danke.« Sie kaute genüsslich. »Ich erinnere mich nicht, dass es jemals zuvor so schwierig war, einen neuen Aktuar einzuarbeiten.«

Holly zuckte die Achseln. »Sein Spannungsniveau ist ein bisschen hoch, nicht?« Sie hatte Jim Felkers Tendenz, ins Trudeln zu geraten, sobald unvermittelt neue Informationen auftauchten, und seien sie noch so trivial oder marginal, sehr wohl bemerkt. Insbesondere Tori hatte mehr als ihren Anteil an Revisionen und Verifizierungen aufgedrückt bekommen.

»Ich gäbe alles, um dein Händchen für Zahlen zu haben.« Tori nahm sich noch ein paar M&M und verzog sich an ihren Schreibtisch.

Holly wappnete sich mit ein paar Schokopillen und ging zwischen den Reihen von Arbeitsnischen zu Jims Büro hinüber. Von all den Schwächen, die zu überwinden Clay ihr geholfen hatte, war Schokolade – die wundersame Mischung von Zucker, Koffein und Fett – als einzige ausgenommen.

Jim war vollends am Schleudern. »Holly, du musst dir diesen Zahlensalat ansehen. Keine von diesen Aufstellungen scheint mir korrekt zu sein.« Ihm standen sämtliche verbliebenen Haare zu Berge. Seine schwarzgerahmte Brille saß schief.

Sie nahm sich ein paar Minuten Zeit, um sich die Aufstellungen anzusehen. Zumindest wusste Jim, wann er sie in Ruhe zu lassen hatte. Nach Regionen aufgeteilte Zahlenreihen mit entsprechenden Standardabweichungen – eine einfache mathematische Funktion. Schließlich sagte sie: »Die Ergebnisse sehen gut aus. Gemessen an den Ausgangsdaten scheinen sie mir schlüssig zu sein.«

»Wie das? Guck dir diese Zahlenkolumne an. Fünfzig Zahlen, jede beginnt mit eins, und dennoch beträgt die Gesamtsumme fast hundert. Das ergibt doch keinen Sinn.«

Geduld – die einzige Tugend, über die sie, wie Clay ihr beipflichtete, in beträchtlichem Ausmaß verfügte – kam Holly nun zupass. »Es verhält sich hier wie mit der Gesamtsumme beim Einkauf in einem Warenhaus. Ich kann zehn Dinge einkaufen, alle unter zehn Dollar. Statistisch gesehen, bei gleichmäßiger Verteilung der Preise und unter der Annahme, dass nichts unter vier Dollar kostet, würde man eine Gesamtsumme nahe der Standardabweichung erwarten – fünfundsechzig bis fünfundsiebzig. Aber tatsächlich bewegt sich die Summe immer um die Neunzig. Das liegt an der ungleichmäßigen Verteilung der Preise. Die Waren kosten weniger als zehn Dollar, aber nur Pennies weniger, nicht Dollar. Also ist meine Gesamtsumme statistisch gesehen hoch.«

Jim sah sie an, als hätte sie ihm soeben eine lange, komplizierte Geschichte über eine Ferienreise erzählt, die sie als Kind unternommen hatte.

Sie wies auf die Zahlenkolumne, die Jim als Beispiel herangezogen hatte. »Die Zahlen haben eine ungewöhnliche Gewichtung am oberen Ende. Das finde ich merkwürdig. Du hast sehr wenige 1,1 und viele 1,9.« Es war keine Überraschung für sie, dass die medizinischen Kosten pro Verletzung anstiegen.

»Also hat Tory nicht die richtigen Daten zusammengestellt?« Er schnaubte und schüttelte den Kopf. »Manche Leute …«

»Die Deskriptoren sehen ganz okay aus«, erwiderte Holly rasch. »Aber diese Zahlen hier gehen dem Trend nach vielleicht rauf. Was bedeutet, dass sie im nächsten Quartal möglicherweise über zwei liegen.«

Er machte sich eine Notiz, war aber so schnell, dass er beinahe noch gesehen hätte, wie Holly die Augen verdrehte. Er war der Aktuar – er war derjenige, der sich darüber wundern sollte, warum Daten unerwartet waren, statt einfach bloß zu vermuten, dass die Endsummen der Aufstellung falsch waren.

Sie lächelte zuvorkommend. »Brauchst du sonst noch was?«

Er wies verärgert auf einen Stapel Ausdrucke. »All diese Aufstellungen hier müssen noch mal verifiziert werden. Ich werde Tori da ransetzen. Vielleicht kriegt sie es diesmal richtig hin.«

Arme Tori, dachte Holly. »Möchtest du, dass ich sie mir ansehe? Vielleicht müssen sie nicht alle erneut verifiziert werden.«

»Nein, nein, sie stimmen allesamt nicht. Wenn Tori mehr Zeit auf ihre Arbeit verwenden würde als auf ihr Privatleben, dann würde sie vielleicht mal was dazulernen.«

Holly wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Sie war zwar die leitende Analytikerin, aber nicht Toris Vorgesetzte. Es schien ihr nicht angemessen, dass er ihr seine Ansichten über Torys Leistungen mitteilte. Sue war die Abteilungsleiterin, die als Puffer zwischen den Anforderungen der Aktuare und den Daten sammelnden und komplizierte Statistiken aufbereitenden Analytikerinnen fungierte. »Es ist mir noch nie aufgefallen, dass Tori groß was anderes macht als arbeiten.«

Sein Gesicht nahm einen verschwörerischen Ausdruck an. »Sieh dir nur mal das Bild auf ihrem Schreibtisch an. Es ist doch ziemlich offenkundig, womit sie sich die ganze Zeit über beschäftigt.«

Holly blinzelte. Was meinte er bloß? Hatte Tori ein neues Bild auf dem Schreibtisch stehen? »Ich hab sie immer für schön konzentriert gehalten.«

»Schön?« Er zuckte die Achseln. »Tja, eindeutig. Du hast einen Freund, stimmt’s?«

Auf dieses Non sequitur konnte Holly bloß nicken, bevor zu ihrer Erleichterung sein Telefon klingelte und sie gehen konnte. Sie wusste nicht, worauf er angespielt hatte, aber die unangenehme Färbung seines Tons verriet, dass er an irgend etwas in Toris Privatleben Anstoß nahm. Hackte er deshalb ständig auf ihr herum?

Ihre Absicht, einen kleinen Umweg an Toris Schreibtisch vorbei zu machen, wurde vom gedämpften Summen ihres Palm Pilots vereitelt. Sie zog ihn aus der Hosentasche. Ups. Sie hatte vollkommen vergessen, dass sie mit Jo zum Mittagessen verabredet war. Sie würde zu spät kommen.

Sie traf halb durchnässt in ihrem üblichen Restaurant ein und stellte erleichtert fest, dass Jo es sich gerade erst in einer ihrer bevorzugten Sitznischen bequem machte.

»Ich fürchtete schon, zu spät zu kommen«, gestand sie, während sie Jo gegenüber Platz nahm.

Jo lächelte. »Du machst dir immer Sorgen, zu spät zu kommen. Ich weiß nicht warum – du bist immer pünktlich.«

»Das war nicht immer so, wie du dich sicher erinnerst«, rief Holly ihr ins Gedächtnis zurück. Sie kannten sich seit acht Jahren, seit ihrem ersten Jahr auf dem Irvine Campus der Universität von Kalifornien. Jo hatte sie schon gekannt, bevor Clays Bemühungen, Holly von ihren vielen schlechten Angewohnheiten zu kurieren – einschließlich ihres mangelhaften Zeitgefühls – von Erfolg gekrönt waren.

Vielleicht war es Jos flüchtiger Blick zum Fenster, der Holly davor warnte, das Thema Clay zu vertiefen. Er erinnerte sie daran, wie unbehaglich ihr bei ihrem gemeinsamen Mittagessen vier Wochen zuvor zumute gewesen war, als Jo aus heiterem Himmel verkündet hatte, nicht mehr über Clay sprechen zu wollen. Jo hatte Clay nie gemocht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Doch sie hatte ihre Abneigung nie zuvor zum Ausdruck gebracht.

»Worauf hast du Appetit?« fragte Jo nach kurzem Schweigen, während sie die Speisekarte studierte und Holly ihrem Beispiel folgte.

»Auf einen Burger – wenn du versprichst, mich nicht zu verpetzen …« Sie verkniff sich zu sagen bei Clay.

»Tu ich nicht«, sagte Jo voller Ernst. »Würde ich nie tun.«

»Danke.«

Sie gaben ihre Bestellung auf und saßen dann da und tranken ihren Kräutertee. Holly fielen fünf Dinge ein, die sie hätte sagen können, aber sie hatten allesamt mit Clay zu tun. Jo schien ungewöhnlich nachdenklich zu sein.

»Wie geht’s Rod?« Wenn sie nicht über Hollys Freund reden konnten, dann vielleicht über Jos.

»Vermutlich ganz gut«, erwiderte Jo, nachdem sie noch einen Schluck Tee getrunken hatte. »Wir haben uns vor drei Monaten getrennt.«

Verblüfft starrte Holly sie an.

Jo beantwortete die unausgesprochene Frage. »Es ging nicht – ich war nicht darauf vorbereitet, dir den Grund zu erzählen.«

Holly betrachtete Jo als eine ihrer engsten Freundinnen; auch wenn sie beide enorm viel zu tun hatten, sahen sie sich doch etwa einmal im Monat. Sie hatten einander auf Anhieb gemocht und waren stets in der Lage, genau dort anzuknüpfen, wo sie beim letzten Mal aufgehört hatten. Sie kam sich egoistisch vor, weil sie in den vergangenen Monaten nicht nach Rod gefragt hatte und fand es im nachhinein seltsam, dass Jo ihn nicht von sich aus erwähnt hatte. »Und nun?«

Jo hielt den Blick gesenkt und schüttelte den Kopf.

»Stimmt was nicht?«

Jos strahlendes Lächeln kam unverhofft und ließ die Tränen in ihren Augen vergessen. »Keineswegs. Ganz im Gegenteil.«

»Na, da bin ich aber froh«, erwiderte Holly voller Ernst. »Du musst mir den Grund nicht erzählen, wenn du nicht willst.«

»Ich werde dir alles erzählen – aber nicht jetzt.«

Das Glück, das aus Joes Zügen sprach, beschwichtigte Holly, und sie ließ es dabei bewenden, auch wenn sie es befremdlich fand, dass Jo ein Geheimnis vor ihr hatte. Sie sprachen über Filme – Jo schien in letzter Zeit viel ausgegangen zu sein. Holly vermutete, dass sie jemand neues kennengelernt hatte, fragte aber nicht nach, weil das wieder zu dem Tabuthema von Jos Trennung geführt hätte. Kein Zweifel, die ganze Zeit über, während sie aßen, strahlte Jo förmlich von innen heraus.

»Ich fasse es nicht, dass du Good Will Hunting immer noch nicht gesehen hast. Den gibt’s schon eine Ewigkeit auf Video. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der die Matheaufgaben kapieren würde.« Jo strich sich die ungebärdigen schwarzen Locken aus dem Gesicht.

»Wir gucken uns nicht so oft Filme an.« Der Plural war Holly herausgerutscht, ehe sie sich’s versah. Sie aß eine koschere Gurke und stellte fest, dass sie den Burger verputzt hatte, ohne es recht zu merken. Es machte sich nie bezahlt, das Frühstück auszulassen. Sie nahm Jos restliche Pommes ins Visier.

»Ich weiß – ihr seid mit weit gewichtigeren Dingen befasst – wie dem Lesen tiefschürfender Bücher oder dem Verziehen eures biodynamischen Blumenkohls«, spottete Jo. »Du solltest ihn dir jedenfalls mal ansehen. Der Junge wird dir gefallen. Der Film hat außerdem einen Oscar fürs Drehbuch bekommen – ist also kein triviales Zeug. Hier«, fügte sie hinzu und schob ihren Teller mit den letzten Pommes zu Holly hinüber. »Gut, dass ich nicht das gegrillte Gemüse genommen habe, nicht?«

»Danke.« Sie stippte mit der Pommes ein bisschen Salz auf, bevor sie hineinbiss. »Du hast deine Diss noch gar nicht erwähnt. Bist du immer noch auf der Suche nach einer neuen Doktormutter?«

»Ja. Ich hatte eine gefunden, aber dann hieß es, dass ihr gesamter Fachbereich zum Frühjahrssemester geschlossen wird. Der Krieg gegen die staatlichen Bildungseinrichtungen nimmt kein Ende.«

»Wie ärgerlich«, sagte Holly mitfühlend. »Und was wirst du nun tun?«

Jo sah stirnrunzelnd auf ihren Tee hinunter. »Keine Ahnung. Mist. Ich bin froh, dass ich zumindest den halben Tag unterrichten kann, sonst hätte ich kein Dach überm Kopf. Hey, hast du schon gehört, dass sich die Teilzeitkräfte gewerkschaftlich organisieren wollen? Es ist absurd, dass wir keine Vertretung haben wie die Vollzeitangestellten. Zahlenmäßig sind wir viel mehr.«

»Vielleicht kommt dadurch etwas in Bewegung.« Holly hatte den Eindruck, dass Jos Job als Lehrbeauftragte am Fachbereich Betriebswirtschaft an der U.C. Irvine fortwährend auf der Kippe stand, und Clay erging es im Fachbereich Sozialwissenschaft an der Cal State Fullerton nicht besser. Sie würde ihm von dem gewerkschaftlichen Zusammenschluss erzählen, es würde ihn gewiss interessieren. Die Stundenpläne der Teilzeitkräfte wurden ständig geändert, Kurse hinzugefügt oder gestrichen, die Zahl der Teilnehmenden verdoppelt oder halbiert – alles ohne jedes Mitspracherecht.

»Ich mache mir keine allzu großen Hoffnungen«, meinte Jo. »Aber irgendwas muss passieren. Sie bauen immer wieder feste Stellen ab und erwarten von Leuten wie mir, die Qualität der Lehre zu garantieren. Die Verlierer sind die Studierenden. Wir reden von der Universität von Kalifornien, verdammt noch mal. Ganz davon abgesehen sind wir Teilzeitkräfte die Lückenbüßer, die man dort hinsteckt, wo es gerade brennt. Sie wollen, dass ich nächstes Semester bei den Betriebswissenschaftlern Statistik unterrichte.«

Holly verschluckte sich an ihrem Tee. »Du?«

»Ja, als ob Ökonomie und Handelsrecht dasselbe wären wie Statistik. Du hingegen – ich wette, du könntest zur Tür hereinspazieren und aus dem Stegreif eine erstklassige Statistikvorlesung halten.«

Holly bezweifelte das. »Ich bin vollkommen aus der Übung.«

»Wirf zweihundertfünfzigmal eine Münze. Wie oft hintereinander kommt maximal Kopf?«

»Siebenmal. Warum?«

Jo schüttelte mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Mitleid den Kopf. »Ich habe gestern abend anderthalb Stunden gebraucht, um das auszurechnen. Es war die erste Frage des ersten Tests in einem Statistikkurs. Und das ist bloß Statistik für BWLer. Ich habe den Kurs heute morgen abgesagt. Für jemand, die da völlig raus ist …«

»Ich hab mich an die Antwort erinnert, mehr nicht. Die Frage ist ein Klassiker.« Sie berechnete das Trinkgeld, rundete bis zum nächsten Dollar auf und legte ihre Scheine auf Jos, um die Rechnung zu begleichen.

Jo schürzte die Lippen. »Du würfelst einhundert Mal. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du eine Zahl auf dem Würfel nie würfelst?«

»Einmal in hundertmal hundertmal würfeln.« Holly war allmählich genervt. »Worauf willst du hinaus?«

»Ich will sagen, dass du diejenige bist, die unterrichten sollte – du bist diejenige, für die der Weg geebnet ist zu Forschungsstipendien, Veröffentlichungen, einem Lehrstuhl in Mathematik an einer Vielzahl von Hochschulen. Wenn du promoviert hättest, würde sich Irvine die Finger nach dir lecken – selbst Berkeley. Und das sind bloß zwei öffentliche Hochschulen. Die privaten wären genauso begierig, und zwar noch bevor sie mitkriegen, dass du außerdem erhellende, überzeugende wissenschaftliche Abhandlungen verfassen kannst, wenn dir der Sinn danach steht. Du bist der geduldigste Mensch, den ich kenne. Du wärst eine großartige Dozentin. Oder vergiss die Hochschule, überleg mal, was du in einer High-School bewirken könntest. Lehrerinnen und Lehrer haben einen nachhaltigeren Einfluss auf das Leben Heranwachsender als Filme oder Bücher, selbst als Kunstwerke. Überleg mal, für die Mädchen wärst du der lebende Beweis, dass Frauen gut in Mathe sein können.«

Zweifelsohne wusste Jo, dass sie gefährliches Terrain betreten hatte. Jo war diejenige gewesen, die nicht über Clay hatte reden wollen. Hollys Schweigen verhieß ihr, dass sie zu weit gegangen war.

»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich weiß, dass deine Tante dir eingebleut hat, dass Mathematik undamenhaft ist. Dass die Tatsache, intelligent zu sein, jede Hoffnung, einen Mann abzukriegen, zunichte macht.«

»Das habe ich überwunden«, entgegnete Holly heftig. »Das weißt du.«

»Ja«, antwortete Jo ruhig. »Auf deine Tante hörst du nicht mehr. Aber hat dir Clay letzten Endes nicht dasselbe erzählt?«

Holly Kehle war rauh wie Sandpapier, als sie antwortete. »Ich möchte mich nicht wegen Clay mit dir streiten. Nein, das hat er mir nicht erzählt.«

Jo beugte sich unvermittelt vor. Ihre Augen blitzten vor Ärger, wie Holly überrascht feststellte. »Wie hat er es denn formuliert? Dass Mathematik dem Streben nach wahrer Menschlichkeit zuwiderläuft? Dass der M.A. und die Promotion, die du am MIT hättest abschließen können, schlicht ›illusorisches Streben‹ wäre, ›Pseudo-Bildung‹? Aber hat er dir je vorgeschlagen, andere akademische Bahnen einzuschlagen? Lag sein eigentliches Problem vielleicht darin, dass man dir deinen Doktortitel praktisch garantiert hat, während er nach vier Jahren immer noch nicht in der Lage war, seine Dissertation abzuschließen? Er hat sie nie abgeschlossen, stimmt’s? Er hat nichts als Verachtung für die praktische Anwendbarkeit der Mathematik übrig, aber ich wette, dein Gehalt kommt ihm ganz gelegen.«

Holly glitt aus der Nische und drehte sich nicht mehr um. Sie wollte das nicht hören. Es war, als kenne sie Jo nicht mehr.

Bei dem Wind war ihr Schirm nahezu nutzlos, aber sie spannte ihn dennoch auf. Das Brausen in ihren Ohren löschte Jos Stimme aus, bis sie direkt hinter ihr auftauchte.

»Es tut mir leid, Holly. Ich wollte dir das alles nicht so um die Ohren hauen.«

Holly setzte den Weg zu ihrem Auto fort. Erst als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, fand sie ihre Stimme wieder. »Es klang, als hätte dir das alles schon lange auf der Seele gelegen.«

»Stimmt. Es tut mir leid – ich weiß, dass ich dich verletzt habe.«

»Hältst du wirklich so wenig von mir?«

»Nein – von ihm. Er ist so … nein. Ich hab schon genug gesagt.«

Holly wandte sich Jo zu. Ihre Schirme verhaken sich im Wind, und der Regen schlug ihnen ins Gesicht. »Er hat einen besseren Menschen aus mir gemacht.«

Jo biss sich auf die Lippe. Dann erwiderte sie mit fester Stimme: »Darüber ließe sich streiten. Tut mir leid«, sagte sie noch einmal, als Holly sich anschickte zu widersprechen. »Ich bin eine Zicke. Aber hör mal. Tu mir einen Gefallen, ja?«

Holly nickte.

Jo nestelte ihre Schirme auseinander. »Ich möchte, dass du mal darauf achtest, ob du es eine halbe Stunde lang fertigbringst, etwas zu sagen, zu tun oder zu denken, ohne dich zu fragen, ob Clay das gutheißen würde.«

Hollys Lippen zitterten, und sie wusste, dass Jo ihre Tränen nicht für Regentropfen halten würde. »Ich weiß nicht, ob ich dich je wiedersehen möchte.«

Das hatte gesessen. »Dann tut es mir wirklich leid.« Jos Lippen bebten. »Ich werde warten, bis du dich meldest.«

Holly hatte die Autotür bereits geöffnet, als Jo noch einmal das Wort ergriff.

»Ich habe geglaubt, Rod zu lieben, aber dann bin ich erwachsen geworden.«

Holly blickte verwirrt auf, doch Jo sah sie nur noch einen Moment forschend an, dann eilte sie davon.

Im Büro herrschte dicke Luft, als Holly nach der Mittagspause zurückkehrte, aber sie achtete nicht weiter darauf, sondern ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder. Die Szene mit Jo beschäftigte sie noch immer. Ihr schwirrte der Kopf … vor Zorn hauptsächlich. Jo hatte kein Recht, sich ein Urteil über ihre Beziehung mit Clay anzumaßen. Jo hatte ja keine Ahnung. Nichts von dem, was sie gesagt hatte, entsprach der Wahrheit.

Sie gab ihr Passwort ein, ohne die unnatürliche Stille zu bemerken, und wurde von mehr als einem Dutzend neuer eMails begrüßt. Dann registrierte sie, dass die einzigen Laute die Bieps! der eingehenden Mails waren.

Voller Entsetzen überflog sie die einzelnen Nachrichten. Alle wollten wissen, wie sie dazu stand, dass Tori eben gefeuert worden war.

Sie eilte die stillen Arbeitsnischen entlang, um Tori aufzusuchen.

Tori versuchte offenkundig, nicht zu weinen, aber in ihren Augen glitzerten Tränen der Wut.

»Was ist passiert?« fragte Holly leise.

»Ich habe die Deadline für die Präsentation überschritten«, fauchte Tori und gab sich keinerlei Mühe zu vermeiden, dass alle anderen mithören konnten. »Ich habe erst gestern abend erfahren, dass sie für heute angesetzt war. Und vor zwei Stunden hat er mir gesagt, ich solle alles überprüfen, und trotzdem soll alles heute Nachmittag per Kurierdienst losgeschickt werden. Was unmöglich ist. Dann erzählt er mir, ich hätte lange genug Gelegenheit gehabt herauszufinden, was er unter arbeiten versteht und würde es einfach nicht kapieren. Nach vier Jahren kriege ich eine Abfindung in Höhe eines halben Monatsgehalts und kann gehen.«

»Ich kapier das nicht.« Tori hatte erfolgreich mit mehr als einem Dutzend Aktuaren gearbeitet. Jim Felker war der erste, der mit ihrer Arbeitsleistung nicht zufrieden war.

»Ich auch nicht.« Tori nahm die Fotografie, die seit Neujahr auf ihrem Schreibtisch stand, und legte sie in den Karton, in den sie ihre persönlichen Sachen packte.

Mit vagem Unbehagen starrte Holly auf das Foto hinab. Sie hatte es genau betrachtet, als sie es das erste Mal gesehen hatte, weil Tori darauf einfach fabelhaft aussah. Es war bei einer Silvester-Soiree aufgenommen worden, und sie und Geena hatten sich schwer in Schale geworfen – Tori in einem Abendkleid, das ihre üppigen Kurven betonte, und Geena in einem schwarzen Anzug, der mit Pailletten übersät war. Geenas Arm lag lässig um Toris Taille, und sie sahen glücklich und entspannt aus. Das Bild hatte inzwischen mehrere Wochen auf Toris Schreibtisch gestanden und ersetzte ein älteres von den beiden, auf dem sie in Wanderkleidung zu sehen gewesen waren. Es war das einzige Foto auf ihrem Schreibtisch gewesen. Worauf um alles in der Welt hatte Jim Felker an diesem Morgen angespielt?

Mit einem flauen Gefühl im Magen zählte Holly zwei und zwei zusammen. Lieber Gott – er hatte Geena gemeint. Er warf Tori vor, vollkommen von ihrem Privatleben in Beschlag genommen zu sein, weil sie lesbisch war.

»Hat er … sonst noch was gesagt?«

»Er hat gesagt, manchmal passten Leute einfach nicht zusammen. Er meinte, woanders wäre ich … besser aufgehoben. Woanders als im reaktionären Orange County, soll das wohl heißen.«

»Scheiße.« Holly wäre jede Wette eingegangen, dass der Fahrer damals auch der Ansicht gewesen war, Rosa Parks, die schwarze Bürgerrechtlerin, wäre im hinteren Teil des Busses besser aufgehoben. Sie war sich sehr wohl darüber im klaren, dass Orange County überwiegend konservativ war, aber schließlich gab es mittlerweile ein Gesetz, das Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund der sexuellen Orientierung verbot. Wie wollte Jim Felker damit durchkommen? Wo war Sue?

Tori sah sie scharf an. Dann nickte sie. »Ja, das glaube ich auch. Ich dachte, es wäre okay, out zu sein, selbst in diesem Winkel von Kalifornien. Ich habe in diesem Laden nie ein Geheimnis aus meinem Lesbischsein gemacht. Er ist derjenige, der neu hinzugekommen ist. Und es ist ja nicht so, dass ich viel Zeit darauf verwende, von meinem Privatleben zu erzählen – im Gegensatz zu anderen Leuten.« Sie warf einen bitterbösen Blick in Richtung von Dianes Arbeitsnische. Diane war berüchtigt dafür, von ihrem letzten Date zu erzählen und verbrachte Stunden damit, das nächste zu planen. Hollys Ansicht nach hätte Diane schon längst zurechtgewiesen gehört. Das hatte sie Sue beim letzten Quartalsgespräch auch gesagt. Diane war nicht halb so produktiv wie Tori.

Sie begriff, dass sie diejenige sein würde, die Toris Nachfolgerin würde einarbeiten müssen. Sie würde diejenige sein, die drei Monate lang die Arbeit der oder des Neuen würde überprüfen müssen.

Es war nicht fair. Holly wusste, dass ihr Part gering wog im Vergleich zu dem, was Tori durchmachen musste. Das alles war ganz und gar unfair.

»Geh nicht, bevor ich nicht zurück bin«, sagte sie zu Tori.

Als sie zu Jims Büro hinüberging, wusste sie, was sie zu tun hatte. Blitzschnell hatte sie ihren Entschluss gefasst, und dann war ihr der Gedanke gekommen, dass Clay ihrem spontanen Handeln in diesem Fall gewiss applaudieren würde.

Sie betrat Jims Büro, ohne anzuklopfen. Auch das war ungewohnt bei ihr. Sie überraschte Sue, ihre Abteilungsleiterin, mitten in einer heftigen Auseinandersetzung mit Jim.

»Möchte jemand meine Meinung hören?«

Sue antwortete erst, als die Bürotür geschlossen war. Dann strich sie sich die graue Locke zurück, die ihrem für gewöhnlich festen Knoten entwischt war. »Holly, ich kann mir denken, dass du verärgert bist, aber Kündigungen fallen nicht in deinen Zuständigkeitsbereich –«

»Es sei denn, ich muss die neue Kollegin mit aussuchen, einarbeiten und anweisen. Ihr schmeißt eine Frau raus, die sehr gut ist in dem, was sie tut, ungeachtet dessen, was der Neuzugang hier denkt.« Holly atmete heftig. Sie hatte keine Ahnung, woher sie die Courage nahm. Aber sie würde nicht nachgeben.

Sue, normalerweise unerschütterlich, schien es schwerzufallen, sich zu zügeln. »Ich sagte bereits, die Sache geht dich nichts an!«

»Er sollte nicht befugt sein, sie zu feuern. Das war schon immer eine idiotische Regelung. Die Analystinnen sind dir unterstellt, aber ein Aktuar kann jede von uns feuern.«

»Sie hat eine wichtige Deadline verpasst«, wandte Jim ein.

»Eine Deadline, die unmöglich einzuhalten war und von der sie erst gestern erfahren hat. Und du hast sie angewiesen, Daten zu verifizieren, die zu überprüfen ich angeboten hatte.« Sie wandte sich an Sue. »Er hat sie gefeuert, weil sie lesbisch ist. Alles andere ist schlicht Unsinn.«

Sue bedachte Jim mit einem Blick, der besagte, sie würde liebend gern eine Folterprozedur überwachen, die einzig für ihn ersonnen war. Sie wandte sich entschlossen an Holly. »Die Qualität der Arbeit hat gelitten.«

Holly war schockiert, dass Sue Jim in Schutz nahm. Mit dem letzten Rest an Geduld, den sie aufbringen konnte, wandte sie ein: »Betrachte es mal statistisch, Sue. Ein Aktuar von mehr als einem Dutzend, für die Tori gearbeitet hat, findet ihre Arbeit unzureichend. Logischerweise liegt das Problem beim Aktuar und nicht bei Tori.«

»Das grenzt gefährlich an Beleidigung«, brauste Jim auf.

»Willst du mich auch feuern?«

»Ich weiß nicht, warum du sie verteidigst.« Jims greinender Ton raubte Holly den letzten Nerv. »Es ist ja nicht so, als ob du genauso wärst. Du bist normal. Menschen wie wir sollten sich nicht damit abfinden müssen, ständig mit der Nase auf das Sexleben von denen gestoßen zu werden.«

»In den vier Jahren, in denen ich mit ihr zusammengearbeitet habe, hat Tori nicht ein einziges Mal von ihrem Sexleben gesprochen. Diane hingegen hat ein Jahr lang eine strikt auf die Arbeitszeit begrenzte Cybersex-Beziehung mit einem Kollegen aus der Buchhaltung gehabt. Eine Tatsache, auf die ich dich hingewiesen habe, Sue. Diane arbeitet immer noch hier und bekommt ein Vollzeitgehalt für Teilzeitarbeit.«

Sue war nah am Explodieren. Holly wusste, dass Sue seit fast dreißig Jahren für Alpha Indemnity arbeitete, und hatte noch nie gehört, dass sie jemals die Kontrolle verloren hätte. »Nichts von alldem ist in dieser Angelegenheit von Bedeutung …«

»Ich werde für Tori aussagen, wenn sie einen Anwalt einschaltet. Das ist Diskriminierung, schlicht und einfach.«

»Es dürfte schwer werden, für jemanden wie sie in Orange County einen verständnisvollen Richter zu finden«, wandte Jim hämisch ein. »Außerdem ist sie diesen Monat zweimal zu spät zur Arbeit erschienen.«

Sue schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jetzt halt den Mund!« Sie schluckte und sah Holly mit hartem Blick an. »Zum letzten Mal – das hier geht dich nichts an.«

»Zu spät zur Arbeit erschienen? Soll das ein Scherz sein? Wir alle machen andauernd Überstunden!« Holly holte tief Luft. Das war doch unglaublich! Sie hörte förmlich, wie Clay sie anfeuerte. Es war richtig, was sie tat. Weiter mit Felker zu reden würde nichts bringen. Sie versuchte es ein letztes Mal mit Sue. »Sue, ich habe dich immer respektiert. Ich weiß, es ist nicht einfach, eine Gruppe von hochbezahlten, besserwisserischen Experten zu leiten, aber du machst das gut. Bis jetzt ist es dir gelungen, die Beziehungen zwischen den Analysten und den Aktuaren frei von Spannungen zu halten. Aber das hier geht zu weit. Ich kann nicht glauben, dass du nicht einsiehst, dass Tori Unrecht geschieht. Zu spät gekommen – das ist Quatsch, und das weißt du.«

Sue schwieg, obwohl ihr Kiefer vor Wut und Frust mahlte. Sie musterten sich. Plötzlich hatte Holly das Gefühl, als ob eine Gleichung, die sie gar nicht als unvollständig erkannt hatte, in ihrem Kopf aufging. Sue, die unverheiratete ältere Frau ohne sichtliches Privatleben. Manchmal lag die richtige Antwort auf der Hand.

Ein bisschen freundlicher sagte Holly: »Vielleicht siehst du es doch.« In Sues Augen flackerte etwas auf. Sie hat Angst, erkannte Holly. Tori ist verzichtbar, solange Sues Geheimnis gewahrt bleibt. »Vielleicht bist du deshalb noch übler als er.«

Sues Mund wurde zu einer blassen, schmalen Linie. »Mach es nicht noch schlimmer, Holly.«

Holly warf Jim einen abschätzigen Blick zu. »Ich werde es einfacher machen. Wenn sie geht, gehe ich auch.«

2

Eines von Tante Zinnias zahlreichen Geboten für schickliches Benehmen von Mädchen und Frauen lautete: »Drohungen sind Versprechen. Anständige Frauen halten, was sie versprochen haben.«

Holly hatte eine Drohung ausgestoßen und wahrgemacht. Mit Stolz und Würde, wie sie fand.

»Du hättest nicht hingehen und dich feuern lassen sollen.« Tori starrte unbewegt aus dem Fenster, während sie auf dem Weg zu ihrem Haus in der Nähe von Costa Mesa waren. Eine Hand spielte nervös mit einem losen Faden, den sie sich gezogen hatte, als ihr Pulloverärmel an irgendwas hinten in ihrem Aktenschrank hängengeblieben war. Pullover lassen sich ersetzen, dachte Holly, aber schwerlich einer, der so genau dem rauchigen Topas von Toris Augen entsprach. Tante Zinnia würde Toris modische Erscheinung als »schick« bezeichnen, ihr zweithöchstes Kompliment. Das höchste lautete »erlesen« und war Menschen königlichen Geblüts sowie Jackie O. vorbehalten. Holly hatte keine der beiden Auszeichnungen je errungen.

»Technisch betrachtet wurde ich nicht gefeuert. Ich habe gekündigt.« Holly stellte den Scheibenwischer eine Stufe höher und drosselte das Tempo. »Außerdem brauchtest du jemanden, die dich nach Hause fährt.«

Es hatte ein Scherz sein sollen, aber Tori warf ihr einen schuldbewussten Blick zu. »Jetzt fühle ich mich noch schlechter.«

»Das war doch nur Spaß. Ich hatte keine Ahnung, dass du immer mit Geena fährst. Was hättest du getan – drei, vier Stunden unten in der Halle gewartet?«

»Geena hätte mich früher abholen –« Den Rest ihrer Antwort schnitt das Klingeln ihres Handys ab. »Endlich! Das wird sie sein.«

Holly hatte keine andere Wahl, als zuzuhören, bemühte sich aber, so zu tun, als sei sie ganz aufs Autofahren konzentriert.

»Ich bin so froh, dass du anrufst! Ach, Honey …« Tori schluchzte. »Sie haben mich gefeuert. Felker, dieses Arschloch. Ich glaube, ich werde – kennst du nicht diese Anwältin? Holly sagt, er hat so Bemerkungen über uns gemacht. Holly – Holly Markham, ja, das Mathe-Genie. Halt dich fest – bist du noch dran? Die Verbindung ist immer so schlecht, wenn’s regnet. Jedenfalls – sie hat gekündigt, aus Protest. Sie fährt mich gerade nach Hause. Nein. Nein, ich bin sicher. Keine Schwester. Lieber Himmel, Honey, ich fasse es einfach nicht …«

Holly würde es Clay erst später am Abend erzählen können, obwohl er jetzt wahrscheinlich schon zu Hause war. Donnerstags ließ ihm sein Terminplan reichlich Luft. Doch es waren nicht gerade Neuigkeiten, die sie am Telefon erzählen mochte. Wenn sie Tori zu Hause abgesetzt hatte, musste sie pflichtgemäß bei Tante Zinnia vorbeischauen. Sie unterdrückte ein Grinsen. Tante Zinnia würde schockiert sein, dass Holly wegen einer solchen Sache gekündigt hatte. Ich sollte wahrscheinlich kein solches Glücksgefühl verspüren, dachte Holly. Für Tori ist das Ganze eine Tragödie. Aber für sich selbst empfand sie es als Triumph.

Tori dirigierte sie zu einem Bungalow aus den zwanziger Jahren, nicht weit vom Freeway 405 im Norden von Costa Mesa. Sie nahm das Angebot an, auf einen Kaffee hereinzukommen – sie waren beide vollkommen durchnässt worden, als sie ihre Kisten auf dem Rücksitz und im Kofferraum verstaut hatten. Holly konnte kaum glauben, wieviel Zeug sich in sechs Jahren angesammelt hatte. Dass die Heizung ihres alten Taurus einige Wochen zuvor den Geist aufgegeben hatte, schaffte ihrem Frösteln auch keine Abhilfe. Es war wirklich Zeit für einen neuen Wagen, aber Clay gegenüber hatte sie das Thema noch nicht angeschnitten. Clay war entschieden dagegen, etwas Neues zu kaufen, wenn das alte noch repariert werden konnte. Einer dieser neuen Vier-Liter-Wagen mit Hybridantrieb schien ihr verlockend. Doch wo sie jetzt arbeitslos war, war das vielleicht nicht der richtige Moment, um ihre Reserven anzuzapfen. Clay hatte recht – die Heizung reparieren zu lassen würde viel billiger sein und ressourcenschonender.

»Wollen wir einen Irish Coffee daraus machen?« Tori hielt eine schlanke Flasche hoch. »Ich glaube, wir haben auch noch Sahne.«

»Ja, warum nicht.« Spontaneität schien das Motto des Tages zu sein. Rotes Fleisch, Alkohol, Kündigung – da kam ganz schön was zusammen. Sie tranken einvernehmlich ihren Irish Coffee und redeten über alles mögliche, nur nicht über das, was passiert war. Holly war erstaunt, dass die dringende Recherche, die sie verfolgt hatte, die Daten, die zu vervollständigen ihr so wichtig erschienen war, ihr nun vollkommen gleichgültig waren. Sie war gegangen, ohne einen Blick zurückzuwerfen, zumindest was die Arbeit anbelangte. Die Arbeit war nun Sues Problem.

Sie würde ihre Kolleginnen und Kollegen vermissen – das sommerliche Eisessen am Freitagnachmittag, die Popcorn-Parties am Mittwochnachmittag. Montagsmorgens würde sie sich nach der extra coffeinhaltigen Kaffeemischung sehnen, die sie gemeinsam für den Beginn der Arbeitswoche vervollkommnet hatten. Sie würde die Geburt von Romys Baby versäumen und die große Feier, die sie zu Jamillahs Pensionierung geplant hatten. Sie hatte die eMail-Adressen und Telefonnummern. Sie würde versuchen, in Kontakt zu bleiben. Als sie gegangen war, hatte sie sich ganz bewusst von jeder und jedem einzelnen verabschiedet. Ng und Liz waren in Tränen ausgebrochen, während Sue dabeigestanden hatte und zusehends grimmiger geworden war.

»Wir werden beide neue Jobs finden – innerhalb einer Woche, jede Wette«, sagte Holly, als Toris Niedergeschlagenheit zurückkehrte.

»Ich weiß, aber ich war gern bei Alpha, weil es so nah an zu Hause ist. Und jetzt hab ich Angst, für eine der anderen lokalen Gesellschaften zu arbeiten. Felker gehört dem Verband der Aktuare an. Was ist, wenn er mich auf die schwarze Liste setzen lässt?«

Holly sagte ihre ehrliche Meinung. »Zutrauen würde ich es ihm. Er hat immer Anspielungen gemacht, dass mit dir was nicht stimmt. Nicht was deine Arbeit anbelangt, sondern deine Person. Ich war zu doof, zwei und zwei zusammenzuzählen. Worin in meinem Fall eine gewisse Ironie liegt.«

Toris Augen füllten sich mit Tränen der Wut. »Scheißkerl! Was weiß der schon von mir? Gut, ich schlafe mit einer Frau. Weiß er auch, dass ich meinen Vater unterstütze? Interessiert es ihn, dass ich eine Hypothek auf unser Haus tilgen muss und noch immer mein Studiendarlehen zurückzahle?«

»Es interessiert ihn nicht. Sobald er kapiert hatte, dass du lesbisch bist, hat er nichts anderes mehr gesehen. Alles, was du getan hast, war davon gefärbt.«

»Scheiße – ich meine, die meiste Zeit über denke ich doch gar nicht daran, dass ich lesbisch bin. Ich meine, ich sinniere doch nicht ständig darüber nach. Genauso wenig wie darüber, dass ich blond bin. Ich bin es einfach. Okay, immer wenn ich meine Gehaltsabrechnung kriege und sehe, wieviel Steuern ich zahle, weil Geenas Krankenversicherung über Alpha läuft, macht es mich wütend, weil es so unfair ist. Verdammt, ihre Versicherung ist nun auch hinfällig. Ich muss eine andere für sie finden. Wenn COBRA ausläuft, soll sie sich nicht mit der miesen Uni-Versicherung begnügen müssen.«

»Erzähl mal.« Geena und Clay arbeiteten an verschiedenen Colleges, aber die Sozialleistungen waren für alle Teilzeitlehrbeauftragten gleich. Es war vermutlich kein Nachteil, dass sie Clay nie als ihren Lebensgefährten angegeben hatte. Zwar hätten sie ein wenig Geld sparen können, aber Clay war aus Prinzip dagegen, sich – außer in unumgänglichen Fällen – bei staatlichen Stellen registrieren zu lassen, und wenn sie sich nicht als Lebensgemeinschaft eintragen ließen, bekamen sie keine gemeinsame Versicherung.

»In West-Hollywood gibt es eine lesben- und schwulenfreundliche Gesellschaft, die mich einstellen wollte, aber der Arbeitsweg ist der Horror. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück auf der 405. Geena könnte vielleicht das College wechseln – da gibt’s die UCLA und Cal State Long Beach, aber es wäre ein Abstieg, die U.C. zu verlassen, um zur Cal State zu gehen. Gerade jetzt, wo sie so kurz vor ihrer Übernahme in eine feste Stelle steht. Oh …« Tori hielt inne. »So hab ich es nicht gemeint – entschuldige.«

Holly lächelte beschwichtigend. »Es stimmt ja – und Clay weiß das auch. Die University of California setzt höhere Maßstäbe und hat ein besseres Renommee. Ich hab Irvine besucht, weil meine Mutter dort war. Clay ebenfalls. Aber er ist mit Fullerton ganz zufrieden. Er weiß, dass er seine Dissertation endlich würde abschließen müssen, wenn er in Irvine unterrichten wollte, doch ich habe den Eindruck, er glaubt, dass es zu spät ist, die Publikationsanforderungen zu erfüllen. Zu viele willkürlich gesetzte akademische Hürden, die es zu überwinden gälte.«

»Ja, nicht wahr? Geena fand, es war die Hölle. Seminararbeiten zu verfassen fiel ihr immer leicht, bis sie an ihrer Dissertation saß – da ging plötzlich nichts mehr. Einmal hat sie zu mir gesagt, es käme ihr vor, als schriebe sie jedes einzelne Wort mit ihrem Herzblut, und trotzdem wüsste sie nicht, ob es jemanden ernsthaft interessierte. Aber letztendlich ist sie fertig geworden und hat ihren Doktortitel bekommen. Sie hasst den fortwährenden Druck, wissenschaftliche Beiträge zu veröffentlichen, aber sie liebt die Lehre und die Forschung.«

»Clay unterrichtet auch sehr gern. Er kümmert sich enorm um seine Studenten – viele Sprechstunden, das Denken junger Menschen formen und all das.« Der Irish Coffee ließ das Frösteln verschwinden.

»Ja, das ist bei Geena genauso. Ich möchte sie ungern dort herausreißen – nicht wegen eines Jobs.«

»Du wirst die perfekte Stelle finden. Du bist viel zu gut, als dass es anders sein könnte.« Holly versuchte ihr Mut zu machen. »Ich weiß nicht, ob es was nützt, aber ich bin gern bereit, dir eine Empfehlung zu schreiben.«

Tori versuchte offenkundig, sich zu beruhigen. »Danke. Das kann ich vielleicht brauchen. Ich möchte einfach nicht umziehen. Ich möchte nicht so weit von meinem Vater weg sein. Ich fahre gern ein zwei-, dreimal in der Woche bei ihm vorbei, um nach dem Rechten zu sehen.«

»Du solltest dich auch nicht genötigt sehen, an einem bestimmten Ort zu leben, nur um behandelt zu werden wie alle anderen Menschen auch«, meinte Holly.

Tori blinzelte. »Das ist ein sehr aufgeklärter Standpunkt. Wenn nur alle so dächten wie du.«

Holly zuckte die Achseln. Sie hatte nie groß darüber nachgedacht, mit welchen Widrigkeiten Lesben und Schwule zu kämpfen hatten, aber sie war voller Mitgefühl. Sie hatte immer schon den Eindruck gehabt, dass deren Rechte allein aufgrund der religiösen Überzeugungen anderer eingeschränkt wurden, und so sollten die Dinge in diesem Land nicht laufen. »Finde ich nur fair.«

Die Haustür öffnete sich, und Geena eilte herein. »Ach, meine Süße, es tut mir so leid …«

Tori begann ernstlich zu weinen, Tränen des Zorns und der Verletztheit. Holly wandte den Blick ab, als die beiden einander in den Armen lagen, denn es war eine solch intime Situation – Geena hatte den Arm um Toris Taille geschlungen, Tori barg ihr Gesicht an Geenas Schulter – als ob die beiden füreinander bestimmt wären.

Sie stand auf, um zu gehen. Sie wollte die beiden nicht in ihrer Zweisamkeit stören, und außerdem war es an der Zeit, dem Wetter und dem Verkehr die Stirn zu bieten, um ihre Tante aufzusuchen.

Geena wischte Toris Tränen mit den Daumen fort. »Wir schaffen das schon, das weißt du doch.«

Tori holte tief Luft. »Ich weine nicht mehr darüber. Dieses Arschloch. Und Sue! Ich verstehe einfach nicht, dass sie sich nicht für mich eingesetzt hat. Nur Holly.« Sie schniefte.

Geena schenkte Holly ein angespanntes Lächeln. »Danke, dass du sie heimgefahren hast. Ich bin gekommen, sobald es ging.«

»Klar, du kannst ja nicht einfach aus dem Unterricht rausspazieren«, stimmte Holly zu. »Für mich war es kein Problem. Aber nun muss ich los.«

»Lass uns morgen zusammen Mittag essen«, sagte Tori unvermittelt. »Wir können Strategien zur Jobsuche entwickeln. Und dann hänge ich auch nicht so durch, weil ich nichts zu tun habe. Ein Uhr bei Tish’s. Das ist an der Ecke Culver und Walnut.«

»Gut«, sagte Holly. »Lass mich dir meine Nummer geben, damit du mich anrufen kannst, wenn irgendwas dazwischenkommt.« Sie hatte noch keinen Gedanken darauf verwendet, was sie mit all ihren kommenden Tagen anfangen würde.

Sie steckte Toris Telefonnummer in die Tasche und verabschiedete sich. Als sie durch den Regen zu ihrem Wagen lief, wurde ihr klar, dass sie praktisch alles tun konnte, was ihr in den Sinn kam, bis sie einen neuen Job gefunden hatte. Alles, was auch immer. Sie würde Clay fragen, ob er ein paar Ideen hatte.

Der Freeway 405 war dicht wie ein Parkplatz, und so beschloss Holly, den Harbor Boulevard bis nach Garden Grove hinaufzufahren, wo Tante Zinnia seit über dreißig Jahren lebte. Das Programm von National Public Radio, ein öffentlich-rechtlicher Sender, interessierte sie nicht, und als sie von einem Sender zum anderen sprang, landete sie doch immer wieder nur im nächsten Werbeblock. Im Fahren grub sie ein paar Cassetten aus, nahm aber eine nach der anderen wieder heraus, weil sie doch nicht recht zu ihrer Stimmung passten. Es würde eine langweilige Fahrt werden.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie zu spät bemerkte, dass sie sich auf der Rechtsabbiegerspur befand, und so war sie gezwungen, einmal im Carree zu fahren, um ihren Weg nach Norden fortzusetzen. Dass sie dabei auf eine Buch- und Musikhandlung stieß, kam ihr wie ein Wink des Schicksals vor. Wieder eilte sie durch den Regen, aber im Laden war es dampfig-warm. Eine halbe Stunde später verließ sie ihn mit zwei neuen Cassetten, einer neuen Ausgabe von Mathematische Expeditionen. Ein Streifzug durch die moderne Mathematik – ihr altes Exemplar hatte sich schließlich unwiderruflich in seine Bestandteile aufgelöst – und einem coffeinfreien Kaffee, der so sahnig war, dass er beinahe wie ein heißer Milchshake schmeckte. Mit ordentlich viel raffiniertem Zucker, dachte sie. Einfach köstlich! Burger, Alkohol, raffinierter Zucker, Kündigung ihres Jobs. Die Liste der Verstöße wurde länger und länger.

Sie legte die Cassette von den Gypsy Kings ein und drehte die Musik so laut auf, wie es die blechernen Lautsprecher des Taurus zuließen. Spanische Gitarrenvirtuosität verbunden mit unwiderstehlichen Rhythmen ließen sie auf dem Lenkrad mitklatschen, während sie ihre Fahrt fortsetzte.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so glücklich und voller Energie gefühlt hatte. Sie musste weit in ihrer Erinnerung zurückgehen, um einen Augenblick zu finden, in dem sie eine ähnliche Hochstimmung verspürt hatte wie in diesem Moment, viel weiter, als sie gedacht hätte. Sechs Jahre? Ja, sechs Jahre. Damals waren sie seit zwei Jahren ein Liebespaar gewesen. Clay hatte die Idee gehabt, sich einer Öko-Tour ins Tal des Todes und die angrenzende Wildnis anzuschließen.

In einer Gruppe von acht Personen plus Führer waren sie seit zwei Tagen auf einer Rucksacktour gewesen. Sie waren im Tal gestartet und die roten Hügel hinaufgewandert, die später in die Berge der Sierra Nevada übergingen. Kurz vor Einbruch der Dämmerung ließ ihr Führer sie anhalten, und Holly hatte sich auf der Stelle niedergelassen; sie hatte nicht die Energie, sich sofort daranzumachen, das Zelt aufzuschlagen, das sie sich mit Clay teilte. Sie genoss die Tour, aber ihr tat alles weh, jeder einzelne Muskel, und sie kam sich vor wie ein verweichlichtes Stadtmädchen. Was sie im Grunde ja auch war. Aber sie versuchte sich zu ändern, und Clay unterstützte sie nur zu gern dabei.

Clay sah aus, als hätte er noch weitere fünfzig Meilen wandern können. Selbst Kevin, ihr Führer, schien müder zu sein als er. Clay stieg noch ein Stück weiter hoch und rief dann zu ihnen hinunter, dass der Blick ins Tal von dort aus noch viel besser war.

»Wir liegen gut in der Zeit, Leute«, verkündete Kevin. »Wir sind gut zwei Stunden über das übliche Etappenziel des zweiten Tages hinaus, und deshalb bin ich von der üblichen Route abgewichen und habe uns zu diesem Pass hier geführt. Es ist äußerst wichtig, dass ihr heute abend gut guckt, ob ihr Blasen habt und sie behandelt – wir haben alles Nötige dabei. Morgen früh kommen wir an eine Wasserstelle, also knausert heute abend nicht mit Wasser. Austrocknung ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr.«

Holly legte erschöpft ihren Rucksack ab und wünschte, Clay käme zurück. Er trug ihren Wasservorrat, und sie war durstig. Plötzlich rief Kevin jemandem zu: »Pass auf!« Dann erklang ein Schmerzensschrei, der alle zusammenfahren ließ.

Die Klapperschlange flog mit einem dumpfen Knall gegen einen Baum, nicht weit von der Stelle, wo Holly saß. Kevin sah mit entsetzter Verwunderung auf seinen Bauch. Dann hob er langsam das Hemd und entdeckte die beiden Bisspunkte.