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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Karin Kallmaker

Liebe im Sternenlicht

Roman

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch
von Lea Brandes

K+S digital

1

»Eine alleinstehende Frau mit Vermögen sollte unbedingt ans Heiraten denken.« Jane watete aus dem Teich und blieb tropfnass auf der alten Decke stehen, die sie auf dem zarten jungen Frühlingsgras ausgebreitet hatten.

Diese ungeheure Behauptung reichte aus, um Syrahs Schläfrigkeit zu vertreiben. »Du? Ehematerial?«

Jane schüttelte das Wasser aus ihren Haaren. »Ich sehe das so: Wenn eine Frau in den Vierzigern, mit geregeltem Einkommen, noch nie verlobt war, vielleicht sogar noch nie eine Beziehung hatte, dann braucht sie einfach eine feste Partnerin.«

»Du meinst, sie braucht dich.« Syrah pflückte eine Traube von der Rebe neben sich auf der Decke.

»Kommt aufs gleiche raus. Sind die gut?« Jane warf einen skeptischen Blick auf die leuchtend grünen Früchte, dann nahm sie sich eine.

Syrah steckte sich die Traube in den Mund, aß sie und schaffte es, ihr Lächeln beizubehalten. »Ich finde schon.«

Vertrauensvoll steckte auch Jane sich eine Traube in den Mund. Syrah gestattete sich ein schadenfrohes Lachen, dann massierte sie sich den Hals, um ihre gereizten Schleimhäute zu besänftigen.

»Du lügender Sack Blumenerde – sie sind sauer!« Jane holte aus, aber Syrah duckte sich lachend weg.

»Ja, ich weiß. Und gut sind sie auch, findest du nicht?«

»Du willst mich vergiften. Hilfe, wie soll ich das überleben?«

Syrah reichte Jane die Wasserflasche, um wiedergutzumachen, dass sie sie hereingelegt hatte.

»Es ist noch zu früh für reife Trauben. Das müsstest du doch eigentlich wissen. Nimm einen kleinen Schluck Wasser und behalte es eine Weile im Mund. Das muss man sich mal vorstellen: Diese Traube und tausende andere ihrer Art werden diesen Herbst, nächstes Jahr, in zehn Jahren, genauso schmecken wie dieser Moment, wie der Himmel, der leichte Wind, diese zarten Wolken, der feine Nebel, der heute Nacht vielleicht aufsteigen wird.« Syrah legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und spürte den vielfältigen Geschmacksnuancen nach, die sich noch immer auf ihrer Zunge trafen. »Diese Trauben werden einmal die in Flaschen gefüllte Essenz unserer Erinnerungen sein.«

»Wie ein Gemälde, bloß trinkbar.« Jane gab die Wasserflasche zurück, dann streifte sie sich ihre Boxershorts über. »Ich hab leider auch noch was anderes als Wein im Sinn.«

Jane hatte die Angewohnheit, ihre Kleider anzuziehen, noch bevor sie trocken war, und heute war es nicht anders. Während Syrah ihrer Freundin dabei zusah, wie sie versuchte, das Tank Top über ihren noch nassen Oberkörper zu zerren, kamen ihr sofort unzählige ähnliche Nachmittage in den Sinn. Schwimmen im Teich, ein Sonnenbad, Snacks, die sie aus Bennetts Küche stibitzt hatten – das war die einzig angemessene Art, diese wunderbaren Mittagspausen im Mai zu würdigen. Syrah räkelte sich genüsslich im warmen Sonnenschein. Nur noch ein paar Minuten, dann würde auch sie sich anziehen. »Gibt es etwas Wichtigeres im Leben als Wein?«

»Ja. Die Liebe. Eine tolle Frau mit einem heißen Körper und einem phantasievollen Geist. Das ist es, wonach ich mich sehne. Ich hab es satt, allein zu sein. Ich hab es satt, mit dir zum Frühlingsball zu gehen.«

Syrah öffnete schlagartig die Augen. »Du meinst, du willst dieses Jahr nicht mit mir hingehen?«

Jane ließ sich auf die Decke fallen, das Tank Top erst halb übergestreift. »Na ja, doch, ich will schon, jetzt, wo du endgültig zurück bist. Es war blöd, allein hinzugehen. Ich hoffe, du hast dich gut amüsiert in Europa, denn ich hab mich ohne dich zu Tode gelangweilt.«

»So schlimm, dass du auf den Gedanken gekommen bist zu heiraten? Was ist in dich gefahren?«

»Das alte Netherfield-Anwesen ist nun doch noch verkauft worden, und ich habe so einiges über die neue Besitzerin gehört.«

»Gerüchte verbreiten sich schnell in dieser Gegend.« Ein leichter Wind strich über ihre beinahe trockenen Brüste. Syrah rollte sich herum und griff nach ihrem Tank Top. »Sie könnte eine Hete sein.«

»Nein. Mit Sicherheit lesbisch. Und eine Femme, also denk ich, hey, sie braucht einfach jemanden wie mich. Ich bin voll qualifiziert. Ich kann Sachen reparieren, tanzen, unterhalte mich gern und finde, Sex macht enorm viel Spaß. Mein einziges Manko ist der Geldfaktor.«

»Du bist Künstlerin. Da gehört es dazu, dass du kein Geld hast. Ich hingegen bin keine Künstlerin und habe trotzdem kein Geld.«

»Du hast ein Weingut. Ein riesiges altes Weingut.«

»Gehört meinem Vater.«

»Und wird eines Tages dir gehören.«

»Hoffentlich erst in weiter Zukunft.« Syrah konnte sich der leisen Sorge nicht entziehen, die sie beim Gedanken an ihren Vater überkam. Er war körperlich nicht mehr so fit wie vor ihrer Zeit in Europa. »Momentan reichen manchmal schon die Benzinkosten, um die Kasse zu sprengen.«

»Gute Farbe kostet mehr.« Mit einer trägen Handbewegung verscheuchte Jane eine geschäftig summende Biene.

»Außerdem bist du bestimmt nicht die Einzige, die ein Auge auf den Neuzugang geworfen hat. Du brauchst nur hierherzuziehen, und alle denken automatisch, du gehörst ihnen.« Syrah hatte nicht verbittert klingen wollen. Vor ihrem Auslandsaufenthalt war sie nicht sonderlich beliebt gewesen. Doch die vier Jahre in Europa hatten ihren Attraktivitätsgrad irgendwie gesteigert, und diese Launenhaftigkeit verdross sie. Schließlich war sie noch immer dieselbe Frau wie damals.

»War es in Frankreich nicht genauso?«

»Eigentlich nicht.« Syrah streifte sich das Tank Top über den Kopf und warf ihre dunklen, noch feuchten Locken nach hinten.

»Aus deinen E-Mails zu schließen, standen sie vor deiner Tür Schlange.«

»Ja, schon, aber das war alles nichts Ernstes. Ich weiß nicht, was hier in Kalifornien passiert ist. Alle sind wild aufs Heiraten. Ich meine nicht nur diejenigen, die konkret vor den Traualtar treten. Schon bevor ich fortging, gab es diesen Trend zur Pärchenwirtschaft. Das war schließlich einer der Gründe, warum ich aus Kalifornien weg bin. Ich brauche keine feste Beziehung.«

»Und wollte keines von den hippen französischen Mädels was Ernstes mit dir anfangen?«

»Wir hatten Spaß zusammen, und nur darum ging es. Aber jetzt bin ich zu Hause.«

Jane schwieg eine Weile, und Syrah war dankbar für ihre Zurückhaltung. Es war zu schmerzhaft, noch einmal über den glühend heißen Sommer zu sprechen, der im Jahr zuvor fast die gesamte Weinernte in Europa vernichtet und die bevorstehende Ernte stark in Mitleidenschaft gezogen hatte, oder über die nicht zu leugnende Tatsache, dass dem Ardani-Weingut die tatkräftige Präsenz eines weiteren Familienmitglieds gefehlt hatte. Ihr Vater konnte bei jeder beliebigen Traube sofort am Geschmack erkennen, von welchem Weinberg sie stammte, aber ihm fehlte zunehmend die Energie, um seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzuleiten und dafür zu sorgen, dass alles reibungslos lief.

Syrah streifte sich Slip und Shorts über und blinzelte in die Sonne, deren Strahlen heiß auf ihrer Haut tanzten. Für einen Augenblick war ihr Genuss so intensiv, dass ihr der Atem stockte. Sie hatte damit gerechnet, Europa zu lieben, vor allem die Unabhängigkeit, die das dortige Leben ihr bot. Und wirklich, sie hatte ihre Zeit dort genossen, sich über den Respekt gefreut, den die Winzerinnen und Winzer ihr entgegenbrachten, für die sie jeweils ein Jahr lang arbeitete. Trotzdem hatte sie sich unablässig nach der Sonne und dem strahlend blauen Himmel des Napa Valley verzehrt. Seit ihrer Rückkehr im Dezember, den langen, feuchten Winter hindurch, hatte sie nur auf die Ankunft des prachtvollen Frühlings gewartet. Letztlich spielte es keine Rolle, aus welchem Grund sie zurückgekommen war. Hier war sie zu Hause. Sie hatte nicht vor, noch einmal fortzugehen.

»Ich glaube«, meinte Jane schließlich, »ich habe es satt, mich nur um mein eigenes Vergnügen zu kümmern.«

Syrah schaute überrascht auf. »Aber du warst doch immer stolz darauf, den Damen Vergnügen zu bereiten.«

»So meine ich es nicht.« Jane bog ihren langen Hals nach hinten und schloss die Augen. »Da verbringe ich einen prima Abend mit irgendeiner süßen Chiquita, die fürs Wochenende aus San Francisco angereist ist. Sie fährt zufrieden nach Hause, und auch ich habe meinen Spaß gehabt. Wir haben zusammen zu Abend gegessen und gefrühstückt, und dann denke ich ans Mittagessen.«

»Ans Mittagessen?« Syrah setzte sich auf, um sich die Sandalen überzustreifen, und versuchte ihr Lächeln hinter den ihr ins Gesicht fallenden Haaren zu verbergen.

»Lach nicht.« Jane runzelte die Stirn. »Vielleicht sind es die Hormone, vielleicht liegt es daran, dass ich, wie du, die Dreißig endgültig hinter mir gelassen habe. Ich weiß es nicht. Ich sehne mich danach, einer Frau von früh bis spät das Leben zu versüßen. Ich will nicht nur Abendessen, Bett und Frühstück. Ich will vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Was Festes.«

»Nur weil irgendeine Frau in diese Gegend gezogen ist, heißt das noch lange nicht, dass sie dein Typ ist. Was ist, wenn sie kein Hirn hat? Oder keinen Geschmack? Vielleicht steht sie nicht auf Künstlerinnen?«

»Künstlerin – na ja.« Jane zuckte die Schultern. Überrascht bemerkte Syrah den bitteren Zug um ihren Mund.

»Künstlerin – jawohl!« wiederholte sie. »Du bist kreativ. Du hast Charakter und Charisma. Die Französinnen würden dich begierig auf einen Cracker streichen und vernaschen.«

»Ich will mich nicht vernaschen lassen. Ich … ach, verdammt, ich weiß nicht, was ich will. Ich weiß, was ich nicht will. Ich will keinen Sommer mehr, in dem ich immer allein Mittagessen muss.«

Syrah begriff nicht recht, warum Jane nun genau das Leben aufgeben wollte, das sie seit der Highschool mit wachsendem Genuss zelebriert hatte. Was war nur aus der süffisanten Butch geworden, die einst behauptet hatte: »Glück ist, sie so zu verausgaben, dass du sie anschließend wieder aus dem Schlaf locken kannst«?

Sie grub in den Taschen ihrer Shorts nach den Schlüsseln für den Pick-up und griff nach den Trauben und der Wasserflasche. »Es muss fast eins sein.«

Jane brummte zustimmend und stand auf. »Kannst du mich bei der Arbeit absetzen?«

»Klar. Hast du Lust auf einen Burger oder so heute Abend?«

»Okay.«

Es lag Syrah auf der Zunge zu sagen, dass Rauhbein, ihr Hund, mehr Begeisterung an den Tag gelegt hatte, als sie ihn das letzte Mal mit dem Wort »Burger« lockte, aber sie hielt sich zurück. Sie und Jane waren schon sehr lange befreundet. Janes vorübergehende Fixierung auf eine feste Partnerschaft würde ihrer Freundschaft keinen Abbruch tun. »Ich hole dich ab, sobald die Probierstube geschlossen ist. Bis sechs Uhr mache ich die Verkostung.«

Sie manövrierte den Pick-up den Hang hinunter, behutsam bremsend, damit sich keine Staubwolke hinter ihnen bildete. Jane öffnete und schloss die Gatter auf dem Weg zurück zu der von Bäumen gesäumten Zufahrtsstraße. Sobald die Reifen auf Asphalt trafen, stellte Syrah den CD-Player an und fuhr zügig bis zur Landstraße, die zu Janes derzeitiger Arbeitsstelle führte. Mit offenen Fenstern und Stevie Nicks’ Reibeisenstimme in den Ohren fühlte es sich an wie damals, als sie noch in der High-school waren.

Die Weinberge, die grünen Baldachine der Laubbäume – all das hatte sich seitdem nicht verändert. Zu beiden Seiten der kurvenreichen Straße wuchsen die Reben in ordentlichen Reihen: Riesling in sonniger Lage, Syrah im Windschatten eines langgestreckten Hügels, Pinot im Schatten – alles war genau wie in ihrer Erinnerung. Der jährliche Zyklus von Knospe, Frucht und Ernte war jeweils nur von kurzer Dauer. Doch das, was all dem zu Grunde lag, die Reben, war in Syrahs Augen so unvergänglich wie der Erdboden selbst.

Sie sah zu, wie Jane ihren Boss begrüßte und dann einen zusammengerollten Bewässerungsschlauch hochwuchtete, um ihn in den Innenhof des neuen Bürogebäudes zu tragen. Syrah konnte der anonymen Glas- und Spiegel-Architektur nichts abgewinnen, doch immerhin legten die Auftraggeber Wert auf eine ausgiebige Bepflanzung, so dass Jane das ganze Frühjahr über zu tun hatte. Sobald der Job beendet war, würde ihre Freundin wieder die Farben hervorholen und zu ihrer ersten Liebe zurückkehren. Das hatte Jane in jedem Sommer seit der Highschool so gehalten. Sie kann sich nicht wirklich verändert haben, dachte Syrah. Jane doch nicht. Und alles andere auch nicht.

»Ich bin wieder da!« rief Syrah und ließ ihre Schlüssel in die Schale neben der Hintertür fallen. Rauhbein begrüßte sie prompt, indem er ihre Knie umschnüffelte, ihr kurz mit dem Schwanz Luft zufächelte und sich dann, nach gestillter Neugier, würdevoll zurück auf sein Lager begab.

Von Menschenseite allerdings gab es keine Antwort, und ein kurzer Blick in die Probierstube bestätigte ihr, dass sie leer war. Sie ging um das Haus herum zur Veranda mit Blick auf einen sonnigen Hang, der sich in sanften Wellen bis hinunter zur Straße erstreckte. Dort entdeckte sie ihren Vater und musste lächeln, weil er gerade ein leises Schnarchen von sich gab. Der alte Schaukelstuhl war schon immer sein Lieblingsplatz für ein Nickerchen zwischendurch gewesen.

Sie legte die Trauben neben ihn auf den Sitz und schlich auf Zehenspitzen zurück zur Probierstube, um das Schild an der Tür auf Geöffnet zu drehen. In ein paar Wochen, ab Anfang Juni, würden sie den ganzen Tag lang geöffnet haben. Dann war bis zum Herbst Schluss mit den Schwimmausflügen in der Mittagspause.

Sie bereitete die Weinprobe vor und runzelte die Stirn, als sie die Liste der zur Verkostung bereitstehenden Weine sah – warum schenkten sie noch immer von der Spitzencuvée aus? Ihr Renommee wuchs beständig, und Syrah fand, dass es an der Zeit war, sie zu lagern. Ein lautes Scheppern aus der Küche verriet, dass Bennett vom Einkaufen zurück war, und so ging sie in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Unreife Trauben und ein paar Kekse hatten ihren Hunger nicht besänftigen können.

»Du rätst nie, was ich für Neuigkeiten habe.« Bennett stellte ein Glas mit ihrer hausgemachten Paste auf den Tisch, und Syrah öffnete eine Packung Sesamcracker. »Zumal es Neuigkeiten sind, über die du dich ganz besonders freuen solltest.«

Syrah strich reichlich Paste auf ihren Cracker und seufzte glücklich, während sie sich die köstliche Mischung aus pürierten Oliven und Knoblauch auf der Zunge zergehen ließ. »Netherfield hat eine neue Besitzerin.«

»Woher weißt du das?«

»Jane hat es mir erzählt.«

»Jane.« Bennett runzelte die Stirn. Syrahs Hand, die sich gerade erneut auf das Glas mit der Paste zubewegte, fing sich einen Klaps. »Hol dir einen Teller. Also wirklich, nach all den Jahren, in denen ich versucht habe, dir Manieren beizubringen. Jane hat doch keine Ahnung. Ich habe mich umgehört: Anscheinend ist die neue Besitzerin eine Geschäftsfrau mit Vermögen. Sie ist erst in den Vierzigern, hat sich aber bereits mehr oder weniger aus dem Berufsleben zurückgezogen, um ihren Ruhestand zu genießen. Nimm dir eine Serviette.«

»Mm-hm.«

»Sie soll sehr attraktiv sein, und außerdem sympathisch, heißt es, und sie hat schon zugesagt, einen Wohltätigkeitsball bei sich zu organisieren, sobald das Haus wieder bewohnbar ist. Es wird bereits daran gearbeitet.«

»Jane sollte ihre Dienste für die Gestaltung des Gartens anbieten. Sie ist gut genug, um das hinzukriegen. Bei dem künstlerischen Talent, das sie hat.«

Bennett hatte unterdessen sämtliche Lebensmittel verstaut und wusch sich die Hände.

Hier war noch etwas, das sich nicht verändert hatte, stellte Syrah fest. Bennetts Hände waren noch genauso knorrig und kräftig wie eh und je. Als Kind hatte Syrah fasziniert zugesehen, wie diese Hände die zartesten Pasteten und Biskuitböden hervorbrachten. »Du bist die Tochter eines der angesehensten Winzer in dieser Gegend. Außerdem bist du nett anzuschauen und nicht auf den Kopf gefallen. Ich finde, du solltest Netherfield gleich heute Nachmittag einen Besuch abstatten und dich der neuen Besitzerin vorstellen.«

»Mm-hm.«

»Willst du nicht einmal ihren Namen wissen?« Bennett bedachte Syrah mit einem Blick, der zu besagen schien, dass mit ihr etwas ernsthaft nicht stimmen konnte, weil sie nicht gleich zu Beginn des Gesprächs danach gefragt hatte.

»Ich bin sicher, du wirst ihn mir sagen.«

Bennetts flinke Finger wuschen Tomaten, schnitten sie in identische rote Halbmonde und ließen die köstlich reifen Früchte in den Kochtopf glitschen. »Solange du so schnippisch bist, denke ich gar nicht dran. Manchmal bist du dermaßen verbohrt! Ich will doch bloß, dass du glücklich bist und in festen Händen.«

»Bennett, du warst nie in festen Händen, und ich glaube, du würdest dich als glücklich bezeichnen.«

»Für mich trifft das zu, aber doch nicht für dich.« Damit schien das Thema für sie beendet. Sie spülte sich die Hände ab.

»Vielleicht habe ich ja auch keine Lust, in festen Händen zu sein.«

Mit einem Klacken verschloss Bennett das Glas mit der Paste. »Ich habe deine Mutter gekannt, und du bist genau wie sie. Manche Menschen sind für die Zweisamkeit geschaffen, und Jane Lucas sollte eigentlich wissen, dass eine Frau wie Missy Bingley nichts für sie ist.«

»Wieso nicht? Eine Frau namens Missy scheint mir genau Janes Typ zu sein.«

Schubladen wurden mit wachsender Erregung geöffnet und wieder geschlossen. »Ich weiß nicht, warum du so begriffsstutzig bist. Jane ist ein sehr nettes Mädchen, aber sie ist exzentrisch.«

»Du meinst, weil sie mit ihren Händen arbeitet.«

»Wenn du darauf bestehst, ja. Ich weiß, sie bezeichnet diese Bilder als Kunst, aber sie könnte genauso gut Matsch auf die Leinwand klatschen. Wäre immerhin billiger als all die gute Farbe. Sie eignet sich wohl kaum als Partnerin für jemanden wie Missy Bingley, die ausnehmend kultiviert und liebenswürdig sein soll.«

Syrah wusste, dass weitere Einwände zwecklos waren. Bennett war in diesem Tal geboren und hatte den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, den Haushalt der Ardanis mit gestrenger Hand zu führen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Syrah mit Verwunderung, wie es Bennett gelang, ihre konventionellen Ansichten, die sie dreimal pro Woche zur Messe gehen ließen, mit ihrer unerschütterlichen Loyalität gegenüber der Familie Ardani zu vereinbaren. Sie wäre imstande, für zwei Lesben die Kupplerin zu spielen, danach zur Beichte zu gehen, weil sie eine solche Verbindung herbeigeführt hatte, und schließlich tief und fest wie ein Säugling zu schlafen.

Das Eintreten ihres Vaters ersparte Syrah weitere Diskussionen zu diesem Thema. Er hielt die Trauben in der Hand, die Syrah ihm gebracht hatte, und machte einen zugleich schläfrigen und zufriedenen Eindruck.

»Wie findest du sie?« fragte er.

»Aus ihnen wird der beste Gewürztraminer, den wir seit langem hatten.«

Er lächelte. »Da liegst du richtig. Die Milde fehlt ihnen noch, aber der Regen vor ein paar Wochen hat für ein zeitiges Hervortreten der Pfirsichnote gesorgt, und ihre charakteristischen Aromen werden bald erkennbar sein.«

Bennett schaltete sich ein. »Netherfield hat endlich eine neue Besitzerin, und Syrah weigert sich, ihr einen Besuch abzustatten. Ich muss dazu sagen, dass es sich um eine äußerst wohlhabende Frau handelt, die einen Gewinn für unsere Gemeinde darstellt.« Sie nahm Syrahs Vater die Trauben ab, gab sie in eine Schale und marschierte nach nebenan in die Probierstube, um sie dort auf der Theke zu platzieren. Durch die Schwingtür drangen Bennetts Kommentare schubweise zu ihnen herüber. »Man sollte denken … kann doch nicht immer allein bleiben … Jane Lucas – dass ich nicht lache! … nett anzuschauen und nicht auf den Kopf gefallen … die Dreißig längst hinter sich …«

Syrah sah, wie ihr Vater tastend seine Taschen absuchte. Wie üblich, befand sich seine Brille in der Brusttasche, die er, wie ebenfalls üblich, als letztes abtastete. »Letzte Woche kam ein Brief, aus dem ich nicht schlau geworden bin. Bin heute morgen noch mal darauf gestoßen und dachte, ich sollte ihn dir mal zeigen.« Er setzte sich die Brille auf und betastete seine Taschen erneut, bis er schließlich in der hinteren Hosentasche auf einen gefalteten Umschlag stieß. Er nahm den darin befindlichen Brief heraus und überflog ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, bevor er ihn seiner Tochter reichte.

»›Mr. Anthony Ardani, Vorstandsvorsitzender‹.« Syrah warf ihrem Vater einen verwirrten Blick zu. Vorstandsvorsitzender?

»Da Sie leider auf die dringlichen Fragen der Gläubiger der Ardani-Weingut AG nicht reagiert haben, sahen wir uns zur Inanspruchnahme eines gerichtlich eingesetzten Beraters gezwungen, der die von den Aktionären geäußerten Bedenken klären und Empfehlungen für das weitere Vorgehen abgeben wird.« Mit wachsender Verwirrung und Bestürzung überflog sie den Rest des Briefes. »Vater? Seit wann sind wir eine Aktiengesellschaft?«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Umwandlung ist vor zwei, drei Jahren passiert. Als du weg warst. Es schien eine gute Idee zu sein. Sie haben alle investiert. So konnten wir Kredite aufnehmen, um die Abfüllanlage zu erneuern und die großen Lagerfässer auszuwechseln. Ich habe dann auch noch die Tarpay-Weinberge ersteigert. Haben mich keinen Cent gekostet.«

»Aber, Vater …«

»Es kommt schon alles in Ordnung, Träubchen.«

»Vater, die Leute, die diesen Brief unterschrieben haben, besitzen mehr von Ardani als du. Sie haben jemanden engagiert, der uns sagen soll, wie wir unseren Betrieb zu führen haben, und falls wir nicht genau das tun, was uns dieser Berater sagt …« Entsetzt blickte sie auf die Schlusszeile. » ›… sind die Gläubiger zur Kündigung ihrer Darlehen berechtigt, und das kann die Zwangsversteigerung von Vermögenswerten in einem zur Tilgung der Verbindlichkeiten ausreichenden Umfang zur Folge haben.‹«

»Das ist der Teil, den ich nicht verstehe.« Er wirkte leicht beunruhigt.

»Unser Land, das Weingut – das ist es, was sie mit Vermögenswerten meinen, Vater.«

»Aber ich habe das niemandem verkauft.«

»Du hast Anteile vergeben.« Syrah schloss die Augen. »Nach der Umwandlung in eine AG kam das aufs gleiche raus.« Mit wachsender Besorgnis fügte sie hinzu: »Hier steht, du besitzt die geringste Anzahl von Aktien.«

»Aber ich bin Vorstandsvorsitzender.«

»Ach, Vater …« Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken.

»Zwei Autos sind gekommen«, verkündete Bennett, die gerade wieder die Küche betrat. »Eines davon ist ein Mercedes.«

»Ich übernehme die Verkostung«, bot ihr Vater an.

Syrah nickte benommen. Sie las den Brief erneut und versuchte sich die Situation klarzumachen. Sie wusste nicht viel über Aktiengesellschaften, aber wenn ein Gericht eingeschaltet wurde, um Entscheidungen über die Zukunft eines Betriebes zu treffen, dann konnte es um diesen Betrieb nicht gut bestellt sein. Aus der Probierstube drang das Geräusch von Stimmen zu ihr herüber, doch diesmal boten die vertrauten Geräusche keinen Trost. Schweren Herzens verließ sie schließlich die Küche und betrat das Büro ihres Vaters.

Seit ihrer Rückkehr im Dezember hatte er ihr Angebot, ihm bei der Verwaltung des Weingutes zu helfen, hartnäckig abgelehnt. Stattdessen hatten sie den Winter damit verbracht, Geräte und Ausstattung zu begutachten und sich ausgiebig über die Kunst des Verschneidens, über Spezialfässer und den Zustand der allmählich heranwachsenden Reben zu unterhalten. Nach seinen Aussagen boomte das Geschäft, und die Verkaufszahlen schienen dieses Bild zu bestätigen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pflanzten, jäteten und ernteten schnell und zuverlässig. Der Anteil der Chablis-Trauben von den neuerworbenen Tarpay-Weinbergen, den sie nicht selbst verarbeiten konnten, war bereits für den Großhändler vorgesehen. Es hatte den Anschein, als würde dies die beste Saison, die das Ardani-Weingut je erlebt hatte.

Unter der jüngsten Wasserrechnung fand sie ein offiziell wirkendes Dokument mit der Überschrift: »Konkursverwaltung – letzter Stand.«

Es war zu viel auf einmal. Durch das Fenster sah sie die sanften grün-goldenen Hügel der Weinberge, die sie ihr Leben lang gekannt hatte. Das Weingut war seit mehr als hundert Jahren im Besitz der Ardanis. Diese Reben konnten nicht einer Handvoll Geldgeber in New York gehören.

Sie ging die Papiere durch in der Hoffnung, vielleicht doch noch auf hilfreiche Informationen zu stoßen. Das Faxgerät surrte und spuckte die Bestellung eines exklusiven Vertriebs in Napa aus. Unter dem neu eingetroffenen Fax lagen bereits weitere, die am Vormittag eingegangen waren. Aus ihnen ging hervor, dass sich in den nächsten Tagen eine gewisse Toni Blanchard melden würde, um einen Ortstermin zu vereinbaren. Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. Syrah starrte es entsetzt an. Sie stellte den Anrufbeantworter an und machte sich auf die Suche nach ihrem Vater.

Ein paar Kundinnen verließen gerade die Probierstube, schwer beladen mit soeben erworbenen Ardani-Weinen.

Sie legte ihrem Vater das Fax auf die Theke und wartete, bis er seine Brille gefunden und aufgesetzt hatte.

»Wer ist diese Frau? Der Name kommt mir bekannt vor.« Er sah zu Syrah hoch. »Immerhin eine Frau, Träubchen.«

»Ich glaube nicht, dass uns das was nützen wird.«

»Ah, jetzt erinnere ich mich.« Er lächelte sie erleichtert an. »Da war ein Beitrag in der Inc. vor ein paar Jahren, in derselben Ausgabe, in der sie auch über uns geschrieben haben. Das sind sehr gute Neuigkeiten – sie ist Bill Blanchards Tochter. Bestimmt habe ich den Artikel noch.«

»Bill Blanchard?«

»Ein sehr alter Freund von mir. Wir sind zusammen in Oregon aufs College gegangen. Er wollte Anwalt werden, und dann hat er es bis zum Richter gebracht.«

Syrah wusste, dass ihr Vater nichts wegwerfen konnte, und so war sie nicht sonderlich überrascht, dass er die Zeitschrift tatsächlich noch besaß. Zwei Wochen hätten ihm nicht gereicht, um die Steuererklärung des vergangenen Jahres zu finden, aber eine Zeitschrift, die drei Jahre zuvor über ihren Wein geschrieben hatte, konnte er innerhalb von zwei Minuten aufstöbern.

Auf Seite neunundvierzig fanden sie ein atemberaubendes Foto des Ardani-Weinguts, von der Probierstube aus aufgenommen, und einen kurzen Artikel über die Weine, die hier erzeugt wurden. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Porträt über die steile Karriere der Finanzexpertin und Unternehmensberaterin Toni Blanchard.

Ihr Vater entfernte eine gelbe Haftnotiz, die als Lesezeichen gedient hatte, von dem darunter befindlichen Foto. »Sie sieht sympathisch aus.«

Mit ihrem im Nacken zusammengefassten dunklen Haar und der teuren Ostküsten-Eleganz ihrer Kleidung wirkte Toni Blanchard geradezu hochnäsig. »Sie hat noch nie etwas anderes als Asphalt betreten«, meinte Syrah.

»Sie ist clever, und sie wird uns zur Seite stehen. Bill wird dafür sorgen, dass alles gutgeht – ein Pfundskerl, sehr anständig. Ich rufe ihn gleich mal an. Was hältst du davon?«

Das Telefon klingelte erneut. Wieder ließ Syrah den Anrufbeantworter laufen. Sie konnte sich schon die affektierte Stimme vorstellen, die zu Toni Blanchards eiskalter Miene passen würde, und ihr war nicht danach, diese Stimme früher als unbedingt nötig zu hören. Die vierzig Jahre alte College-Freundschaft ihres Vaters mit dem Vater dieser Frau reichte beileibe nicht aus, um sie auch nur im Geringsten zu beruhigen.

Mit einem Gefühl, als hätte sie Blei im Magen, schleppte sie sich zurück ins Büro und machte sich ernsthaft daran, die Papiere ihres Vaters zu ordnen. Die Situation konnte einfach nicht so hoffnungslos sein, wie es im Moment den Anschein hatte.

2

Verärgert blickte Toni Blanchard auf ihren Salatteller. Der Kellner hatte vergessen, ihr das Dressing, wie verlangt, extra zu bringen. Sie fischte ein Salatblatt aus dem Häufchen Grünzeug. Es blieb schlaff und tropfend an der Gabelspitze hängen. Sie legte die Gabel beiseite. Ihr war entgangen, was ihre langjährige Geliebte eben gesagt hatte.

»Entschuldige. Ich habe dir gerade nicht zugehört.« Erwartungsvoll sah sie Mira an.

»Ich liebe dich nicht mehr.«

Toni musste blinzeln. Sie schüttelte den Kopf und wiederholte in Gedanken noch einmal Miras Worte.

Ihre Blicke trafen sich über den Tisch hinweg. Schließlich schlug Mira die Augen nieder. Tonis Stolz ließ es nicht zu, Mira zu bitten, ihre Worte noch einmal zu wiederholen.

Dann wurde ihr plötzlich klar, dass Mira Wickham, la belle dame sans merci, sie mit Absicht in dieses teure Restaurant in der Nähe der Park Avenue gelotst hatte, um sie abzuservieren: Sie wusste, dass Toni ihr in dieser gedämpften Luxusatmosphäre keine Szene machen würde und dass sie beide nach dem Schlußstrich das Restaurant genauso ruhig verlassen würden, wie sie es betreten hatten. Toni starrte ihren dressinggetränkten Salat an und stellte ihn sich auf Miras Gesicht vor. Der Kaffee dampfte noch. Er würde sich gut auf Miras Schoß machen. Noch vor ein paar Jahren hätte Toni sich wohl mit einer solchen Geste für den Schock revanchiert, aber jetzt nicht mehr. Sie und Mira waren schon so lange auf diese kleine Szene zugesteuert, dass drastische Reaktionen einfach nicht angebracht waren.

Den Salat würde sie nicht anrühren. Mira hätte wenigstens warten können, bis sie ihr fünfundzwanzig Dollar teures Rumpsteak genossen hatte. Unter diesen Umständen war das wahrscheinlich ein kleinlicher Gedanke. Mira hatte sie immer für ihre Sparsamkeit kritisiert, als sei es unvernünftig, über ein Bankguthaben zu verfügen.

»Ich hab’s genossen, Süße, aber jetzt ist unsere Zeit abgelaufen. Ich habe heute meine Sachen gepackt und werde für einige Zeit zu Hause in London sein. Ähm, Nancy begleitet mich.«

»Natürlich«, entgegnete Toni. Nancy. Na schön. Sie hätte es kommen sehen müssen. Für Mira gab es kein »auf ewig«. Vor noch nicht allzu langer Zeit wären zwei Jahre mit ein und derselben Frau für Toni mehr als eine bloße Affäre gewesen. Zum Glück waren ihr nur noch wenige romantische Vorstellungen geblieben. Sonst würde Mira jetzt schon vor Salatdressing triefen.

Weil sie wusste, wann es an der Zeit war, Verluste abzuschreiben und sich neu zu orientieren – ihr beträchtliches Vermögen hatte sie dem Wissen zu verdanken, wann investiert und wann verkauft werden musste –, griff Toni mit einem Lächeln nach ihrer Handtasche und verließ das Restaurant. Die Sache zwischen Mira und ihr war beendet. Der Salat blieb auf dem Teller, der Kaffee in der Tasse.

An jedem anderen Tag hätte Toni innegehalten, um die angenehm klare Luft an diesem wunderbaren New Yorker Frühlingsabend zu genießen, aber das Echo von Miras Stimme in ihrem Kopf ließ sie kaum zur Besinnung kommen.

»Ich liebe dich nicht mehr.«

Das klang ja geradezu, als habe Mira sie einmal geliebt. Warum hatte sie nicht erwidert: »Hast du das denn jemals getan?« Wie immer, sinnierte Toni, fiel ihr die perfekte Antwort viel zu spät ein. Im Sitzungszimmer eines Aufsichtsrates oder vor einer Aktionärsversammlung war sie nie auf den Mund gefallen. Aber bei Gesprächen unter vier Augen fehlten ihr manchmal plötzlich die Worte.

Zu Anfang waren Mira und sie unbestritten ein strahlendes Paar gewesen. Als die Liebesaffäre zwischen der Tochter eines Richters, die aus eigener Kraft eine brillante Karriere hingelegt hatte, und der blaublütigen Erbin aus Großbritannien bekannt wurde, hatte ihnen das einige schockierte Blicke eingebracht, und sie hatten es genossen.

»Ich liebe dich nicht mehr.«

Sie war wie betäubt. Und überrascht, dass sie nichts von Nancy gewusst hatte. Bestürzt über die rasante Wendung. Und doch verspürte sie nicht das Bedürfnis, sich hier im dichten Verkehr vor eines der vielen Taxis zu werfen. Der Gedanke, morgens ohne Mira neben sich aufzuwachen, weckte keineswegs den Wunsch in ihr, sich eine Schlinge um den Hals zu legen. Sie war getroffen, das schon. Todunglücklich war sie jedoch nicht.

Sie ging weiter die Madison Avenue entlang und bedachte ihre Lage. Auf halber Strecke zur nächsten Kreuzung hatte sie bereits ihre »To-Do-Liste nach Trennung« erstellt. Vielleicht lag es daran, dass sie noch ihr Power-Outfit trug – Business-Kostüm, hohe Absätze, das Handy an der Taille befestigt –, jedenfalls gelang es ihr, diesen notwendigen Vorgang mit der gleichen Sachlichkeit zu behandeln wie ihre täglich anfallenden beruflichen Aufgaben.

Bei Erreichen der Kreuzung hatte sie bereits ihr Handy benutzt, um die PINs für diverse Konten zu ändern. Sie hatte keine Ahnung, ob Mira sie überhaupt kannte, ging jedoch lieber auf Nummer Sicher.

Während sie auf der geschäftigen Straße nach einem freien Taxi Ausschau hielt, kündigte sie die Kreditkarte, die Mira sich gelegentlich geliehen hatte, wenn ihre Ausgaben das Einkommen aus ihrem treuhänderisch verwalteten Vermögen überstiegen.

An der 58. Straße lief sie bei Rot los und demonstrierte einem weniger reaktionsschnellen Touristen die Kunst, sich ein Taxi zu schnappen. Während der kurzen Strecke nach Hause zur Upper West Side wies sie ihren Finanzmanager per E-Mail an, Mira zukünftig keine Vergünstigungen mehr zu gewähren. Auf die Nutzung des Wagens, auf Spa-Center und Tee-Times musste sie jetzt eben verzichten. Vorbei war vorbei.

Keine zwanzig Minuten nach Verlassen des Restaurants betrat sie ihre Eigentumswohnung. Miras Auszug hatte subtile, aber erkennbare Spuren hinterlassen. Auf dem Klavier fehlten einige Fotografien. Die augenfällige Abwesenheit einer Flasche sehr, sehr alten schottischen Whiskys entlockte ihr ein mitleidiges Lächeln. Fehlende Kleidung und Kosmetik hatten deutliche Lücken in Schränken und Bad hinterlassen.

Erst als sie Uhr und Ohrringe ablegte, bemerkte sie, dass einige Schmuckstücke verschwunden waren. Natürlich war sie davon ausgegangen, dass Mira alles, was sie ihr geschenkt hatte, mitnehmen würde, aber unter den fehlenden Teilen waren auch solche, die sie ihr ausdrücklich nur geliehen hatte. Aua.

Sie warf einen Blick auf ihr bleiches Gesicht im Garderobenspiegel und sagte laut: »Was hast du denn anderes erwartet?« Es war vorbei. Einfach so, schneller als ein Lidschlag – als wäre da nie etwas gewesen. Im Grunde war sie froh darüber. Wenn sie von dem gelegentlichen grandiosen Sex absah, hatte ihre Beziehung weder Sinn noch Ziel gehabt. Es war ein Weg gewesen, sich die Zeit zu vertreiben, aber davon hatte Toni ohnehin wenig genug.

So war alles zum Besten.

Letzter Punkt: Missy anrufen. Sie scheute sich, Missy anzurufen, denn Missy hatte Mira von Anfang an für eine Blutsaugerin gehalten, die Toni irgendwann fallenlassen würde, nachdem sie ihr ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermittelt hatte. Sie hatte keine Lust, Missy anzurufen. Manchmal war eine alte Freundin die letzte, mit der du reden wolltest.

»Und wo befindet sich Lady Mira, die stinkreiche Schlampe, jetzt?« Gnädigerweise hatte Missy auf das »Ich hab’s dir ja gleich gesagt« verzichtet und sogleich empört für Toni Partei ergriffen.

Manchmal, musste Toni zugeben, war eine alte Freundin genau das Richtige. »Keine Ahnung. Ich fand es sinnlos, das Gespräch in die Länge zu ziehen.«

»Sie hat eine andere.«

»Nancy. Sie hat sie letztes Jahr beim Skifahren kennengelernt. Aber wir hatten uns auch nicht zur Monogamie verpflichtet.«

»Wenn ich mich recht erinnere, fand sie, dass solche lästigen Detailfragen bloß in die Quere kommen, wenn es darum geht … wie war das noch? Eure Liebe zur vollen Reife zu bringen?«

Toni hätte wetten können, dass Missy die Augen verdrehte. »Es wird Zeit, dass du dir was Besseres angelst, mein Herz.«

»Ich geb’s auf. Zu anstrengend.«

»Komm für eine Weile nach Kalifornien.«

»Ich hab hier zu viel zu tun, aber es kann sein, dass ich mal kurz nach Kalifornien muss. Eine Betriebsbesichtigung für das Gericht – wieder mal so ein Dummkopf, der kein Unternehmen führen dürfte. Irgendwo im Süden, glaube ich, in der Nähe von Santa Soundso. Falls ich komme, ruf ich dich an.«

»Es gibt Hunderte von Santa Soundsos in Kalifornien, aber vielleicht ist es ja in meiner Gegend. Unter der Woche bin ich immer noch in San Francisco, aber ich kann es kaum erwarten, endlich in mein neues Haus zu ziehen. Du wirst begeistert sein. Ich bin hin und weg. Die Leute sind wirklich nett, und du glaubst gar nicht, was es da für tolle Events für Lesben gibt. Ich bin sogar zu einer Tanzveranstaltung der dortigen Ladies eingeladen.«

»Klingt toll«, entgegnete Toni mechanisch.

»Klingt in deinen Ohren tödlich langweilig, ich merk’s schon. Klar, mit Samstagnacht in Greenwich Village ist es nicht zu vergleichen, aber ich muss ehrlich sagen, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie so viele attraktive, charismatische Frauen auf einem Fleck gesehen habe. Zumindest nicht im örtlichen Gemüseladen.«

Toni konnte sich nur schwer vorstellen, dass Podunk, Kalifornien, oder wie auch immer der Ort hieß, an dem sich Missys neues Zuhause befand, viel Interessantes zu bieten hatte. Sie wechselte das Thema. »Warum sind wir beide eigentlich nicht ineinander verliebt? Das Leben wäre so einfach.«

»Keine Ahnung«, antwortete Missy. »Vielleicht, weil Caroline meinen Skalp holen würde, wenn ich es wagte, dir schöne Augen zu machen.«

»Du weißt genau, dass deine Schwester und ich es nie bis ins Schlafzimmer geschafft haben. Es war nie etwas Ernstes.«

»Ich weiß. Aber ich weiß auch, dass Mira eine miese Schlampe ist, die es bloß auf deinen Kontostand abgesehen hatte.«

»Hey, danke.«

»Du weißt schon, was ich meine. Mira kann meinetwegen Lady ›Wie heißt sie noch gleich‹ sein, aber es dauert noch – wie war das, vier Jahre? –, bis sie über ihr Vermögen verfügen darf. Bis dahin brauchte sie jemanden wie dich.« Missy schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Entschuldige, ich bin gemein. Sie scheint ja seit deiner unerfüllten College-Liebe damals die erste gewesen zu sein, mit der es dir halbwegs ernst war. Dabei verdienst du eine, die dich entschieden besser behandelt.«

»Ach, ich weiß nicht. Sie ist flatterhaft, ein Party-Girl. Ich bin nie davon ausgegangen, dass Mira mich ernst nimmt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie es auch nicht getan hat.« Ihr Handy piepte, und Toni warf einen Blick auf das Display. »Ich muss einen Anruf erledigen.«

»Ruf mich später noch mal an«, verlangte Missy, und Toni willigte ein.

»Zu deiner E-Mail«, Kyle, ihr Finanzmanager, kam ohne Einleitung zur Sache. »Geht es da um Bookworthy Enterprises?«

»Nein. Mira und ich haben Schluss gemacht – das ist alles.«

»Wann?«

Tonis Überraschung über seine Frage war unüberhörbar – in der Regel mischte sich Kyle nicht in ihre persönlichen Angelegenheiten ein: »Vor ungefähr einer Stunde. Warum fragst du?«

»Sie rief mich heute morgen an, um zu fragen, ob ich an ihrer Stelle in Bookworthy investieren würde. Ich wusste nicht, dass sie so überstürzt entscheiden wollte –«

»So war’s auch nicht. Was hast du ihr geantwortet?«

»Ich hab ihr gesagt, dass es sich nicht lohnt und dass du nicht dabei bist. Sie sagte okay, und das war’s.«

Zerstreut dankte Toni Kyle für die Information. Sie zögerte noch, Miras Gespräch mit ihrem Finanzmanager mit ihrer Trennungsansage im Restaurant in Verbindung zu bringen.

Sie stand am Fenster und ließ ihren Blick über den Central Park schweifen. Unten in den Straßen wechselten die Ampeln von Rot auf Grün, und der Verkehr floss unermüdlich. In ihrem Kopf war eine lange Liste von Dingen, die sie eigentlich tun oder empfinden sollte. Sie sollte die wiedergewonnene Freiheit feiern. Mit einer kleinen Reise, um sich selbst zu beweisen, dass sie gern allein war. Sie sollte eigentlich wütend sein oder verletzt oder todunglücklich.

Das Klingeln des Festnetztelefons ersparte ihr weitere Grübeleien über ihren emotionalen Zustand. Wahrscheinlich ein Telefonverkäufer, denn die meisten ihrer Geschäftskontakte wurden über das Handy abgewickelt.

»Wie geht’s dir, Mädchen?«

»Vater! Wie komme ich zu dieser Ehre, Euer Ehren?«

»Das erzähle ich dir gleich. Jetzt will ich erst mal wissen, was du machst. Wie ist die Sache in Georgia gelaufen?«

»Nicht gut. Sie waren allesamt zu starrsinnig. Das Wasser stand ihnen bis zum Hals, und sie haben erst begriffen, dass es an der Zeit gewesen wäre, gewisse Opfer zu bringen, als es ihnen schon bis über den Kopf reichte.«

»Tut mir leid, das zu hören. Ich weiß, du hattest große Hoffnungen.«

Tausendfünfhundert Arbeitsplätze weniger, von einem Tag auf den anderen, dachte Toni. Sie hatte gehofft, mit Hilfe ihrer Lösungsstrategie wenigstens ein Drittel davon zu retten, aber manchmal kam einfach alles anders. »Ja, hatte ich. Wie mein gesamtes Team. Wie geht’s Carlyle?«

»Wird langsam alt, genau wie ich. Einem Hund fällt das aber leichter. Er kann wenigstens die meiste Zeit über schlafen. Ich hab die Erfahrung gemacht, dass es den Leuten auffällt, wenn ich bei Gericht plötzlich einnicke.«

»Du musst üben, mit offenen Augen zu schlafen.«

Er seufzte. »Ich hab’s versucht, Mädchen, ich hab’s versucht.«

»Also … worum geht’s?« Toni streckte sich auf dem Sofa aus.

»Vorhin hat mich ein sehr alter Freund angerufen. Er ist ein wirklich netter Kerl, ein richtig altmodischer Gentleman, könnte man sagen. Ich hab ihn damals in Oregon auf dem College kennengelernt. Seine Familie besaß ein Weingut – ich denke, das gehört jetzt alles ihm.«

»Mm-hm?« Sie streifte die Pumps ab und massierte ihre schmerzenden Zehen.

»Es ist das Ardani-Weingut. Anscheinend wirst du ihm in der nächsten Zeit einen Besuch abstatten.«

»Werde ich das?« Sie verkniff sich ein Seufzen und griff nach ihrem Handy.

»Im Norden Kaliforniens. Besichtigung im Rahmen einer Konkursverwaltung.«

»Ach, das. Ich wusste nicht, dass es da um ein Weingut ging. Nach ein paar Jahren erscheinen dir alle Fälle gleich.« Im Grunde spielte es keine Rolle, um welche Art von Unternehmen es sich handelte, auch wenn die Eigentümer das natürlich anders sahen. Die grundlegenden Prinzipien galten für alle Betriebe in gleicher Weise. »Was wollte er?«

»Ich hab ihm zu Weihnachten immer geschrieben, und deswegen hat er wohl deinen Nachnamen wiedererkannt.«

Toni runzelte die Stirn. »Glaubt er, dass du Einfluss auf meine Arbeit hast?«

»Ich glaube, er ist der Ansicht, dass ich dich beauftragt habe, um die Sache zu seinen Gunsten zu beeinflussen.«

»Aha. Aber das Konkursverfahren läuft über das Gericht in Delaware.«

»Ich fürchte, dass Anthony Ardani mit solchen Feinheiten nichts anfangen kann.«

»Wie will er dann ein Unternehmen leiten?« Toni zuckte die Schultern. »Ich tue, was ich kann für die Mandanten, aber letztlich arbeite ich im Auftrag des Gerichts.«

»Das weiß ich. Ich habe ihm bloß versprochen, dich anzurufen, und das tue ich ja gerade. Es ist nur so, dass er ein wirklich netter Kerl ist. Durch ihn habe ich deine Mutter kennengelernt.«

»Oh.« Verdammt. Sentimentalitäten hatten bei der Art von Entscheidungen, die sie treffen musste, keinen Platz.

»Seine Tochter ist vor kurzem mit eingestiegen. Sie hat einige Jahre in Europa verbracht.«

Wie schön für sie. Das Leben genießen, während der Familienbetrieb den Bach runtergeht – irgendwie typisch. Und jetzt wieder zu Hause, weil ihr das Geld ausgegangen ist?

»Ich werde tun, was in meinen Kräften steht.«

»Eines haben wir zwei alten Herren auf jeden Fall gemeinsam. Wir sind beide der festen Ansicht, dass unsere Tochter die schönste Frau der Welt ist, und ihr seid beide lesbisch. Vielleicht seid ihr ja auf ein und derselben Wellenlänge.«

Als ob Toni vorhätte, sich in nächster Zeit mit irgendjemandem einzulassen. Am allerwenigsten mit einer Müßiggängerin, die gerade von ihrem Europa-Trip zurückgekehrt war. »Es gibt keine lesbische Geheimsprache, die das garantieren könnte, Vater.«

»Das ist mir klar. Ich habe sie einmal gesehen, da war sie zwei oder drei. Ich glaube, du warst zwölf – das war in dem Jahr, als du den Sommer im Ferienhaus deiner Mutter verbracht hast.«

»Ich erinnere mich.«

»Sie hatten jahrelang versucht, ein Kind zu bekommen. Und dann hatten sie schließlich ein zauberhaftes kleines Mädchen. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie mittlerweile zu einer wahrhaften Sophia Loren herangewachsen wäre. Ihre Augen waren mindestens so hinreißend.«

Na, großartig. Eine Müßiggängerin mit schönen Augen. »Vielleicht erinnert sie sich an dich.«