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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Karin Kallmaker

Tanz auf dem Eis

Roman

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch
von Gitta Büchner

K+S digital

Für Maria und meine Kinder und in der Hoffnung,
dass es für Veränderung noch nicht zu spät ist.

 

Mein erster Roman, den ich vor fast zwanzig Jahren schrieb, spielte im Jahr 1978 und war eine Hommage an mein großes Vorbild. Heute, dreißig Jahre später, ist Harvey Milk noch immer ein Quell der Inspiration. Es lebe unser gemeinsames Erbe!

1

Ein Nebel aus eiskalter Luft stieg aus der Eismaschine auf und legte sich um Anidyr Bycalls Knöchel, als sie den nächsten Eimer Eis unter der Bar hervorholte. Sie stieß die Tür mit der Hüfte zu, aber die Kälte ließ nicht nach. Ihre fingerlosen Handschuhe waren mit Eis bedeckt, und während sie arbeitete, gefror ihr Atem in der frostkalten Luft zu kleinen Wölkchen.

Eine Frau, die seit einer Stunde ein Bier nach dem anderen getrunken hatte, legte, als sie ging, einige Geldscheine auf die Bar, und Ani war nicht überrascht, dass sie in ihrer Hand knisterten. Die Gäste kamen in die On the Rocks Eisbar, um der schwülen Hitze Key Wests zu entfliehen, und das Geld, das sie in der Tasche trugen, war klamm. Wenn sie die Bar verließen, waren die Scheine gefroren. Sie stopfte das Geld in die Kasse. Die Registrierkasse war eine, wenn auch schwache, Wärmequelle. Das Geld würde wieder auftauen. Es verlor nichts an Wert, und nur darauf kam es an.

Lisa, die neue Cocktail-Kellnerin, lehnte sich über die Bar, um ihre Bestellungen aufzugeben. Ihr langes blondes Haar floss aus der pelzgefassten Kapuze ihres Schneeanzugs und spiegelte sich auf der blankpolierten Oberfläche der Bar wie Gischt auf kobaltblauer See. Über den Lärm der Musik hinweg bestellte sie: »Zwei Surfer’s Wakes, zwei Margaritas on the Rocks, drei Conch Indies und sechs Bier mit Tequila.«

Ani hielt den Blick auf den Mixer gerichtet, in den sie von dem schockgefrorenen Eis gab, das sie gerade nachgefüllt hatte. Um ihre Stimme zu schonen, nickte sie nur kurz. Lisa sollte jetzt eigentlich loseilen, um neue Bestellungen aufzunehmen oder aber das Bier zapfen. Kunstvoll verzierte, aus Eisblöcken geschnitzte Krüge standen bereit, um gefüllt zu werden. Stattdessen lehnte sie immer noch an der Bar und sah Ani ungeniert bei der Arbeit zu. Bierzapfen war nicht Anis Job, und Lisa sollte das allmählich wissen.

Sie überlegte, Lisa zu sagen, dass es keinen Grund gab, ihr auf die Finger zu sehen. Wie alle ihre Vorgängerinnen würde Lisa schon merken, dass man Ani nichts zweimal sagen musste. Und sie würde auch merken, dass Ani keine große Rednerin war. Das unablässige Wumm-Wumm der Disco machte es schwer, sich zu unterhalten, und das war Ani nur recht. Sie hatte keine Lust, ihr bisschen soziale Energie darauf zu verschwenden, mit einem dieser Surfer-Girls aus Key West anzubändeln, die nach ein paar Monaten weiterzogen. Sobald es nicht mehr so neu und aufregend war, bei unter Null zu arbeiten, gingen sie alle – auf der Suche nach besserem Trinkgeld oder nach Arbeitszeiten, die ihnen mehr Zeit fürs Surfen oder für ihre Freundin ließen. In den knapp drei Jahren, die sie nun als Barkeeperin im On the Rocks arbeitete, hatte Ani dieses Muster oft genug erlebt. Sie hielt sich strikt an die Devise, sich nie einen Nachnamen zu merken, und so sollte es bleiben. Auch ihren Nachnamen kannte niemand, und höchstens zwei Frauen hatten sich jemals dafür interessiert.

»Gibt keinen Grund, hier festzuwachsen«, sagte sie schließlich, während sie den Cocktailshaker schüttelte.

»Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass es hier keinen Computer für die Bestellungen gibt.«

Ani wies mit dem Kopf in Richtung der aus Eis geformten Bistrotische, die die Tanzfläche säumten. »Je länger die Leute am Tisch auf dich warten müssen, umso eher bestellen sie an der Bar.«

»Na und? Hab ich weniger Arbeit.«

Wo fand das Management nur diese Frauen, fragte Ani sich. Es war doch eine ganz einfache Rechnung. »Wie du willst. Du musst deine Trinkgelder mit mir teilen. Ich kann meine für mich behalten.«

Lisa sah Ani an, als hätte diese gerade eine Kaugummiblase vor ihrer Nase platzen lassen. In den großen blauen Augen schwammen dicke blaue Tränen. Ani hätte wetten mögen, dass Lisa dank des glänzenden Schimmers dieser Augen mit allem davonkam, vom Strafzettel bis zu schlechten Noten. Ganz zu schweigen von der blonden Mähne. Mädchen mit schwarzen Augen und tintenschwarzen Zotteln kamen nie mit irgendetwas davon – das war jedenfalls ihre Erfahrung.

»Hat dir das niemand gesagt? Wir teilen beide mit derjenigen, die die Tische abräumt. An Tischen, auf denen die Eiskrüge langsam vor sich hin schmelzen, wird nicht bestellt. Je schneller sie abgeräumt werden, desto mehr Drinks können wir servieren. Und ohne mich läuft gar nichts.« Sie wandte sich an einen Gast, der sich zwischen zwei Barhockern herüberbeugte. »Was darf’s sein?«

Für eine Cola mit Rum brauchte sie gerade mal zwanzig Sekunden, und Ani strich das Trinkgeld ein, während Lisa zusah. »Es liegt an dir. Wenn du vor mir bei ihnen bist, verdienst du mehr.«

»Na ja, danke. Schon kapiert.« Lisa stolzierte einigermaßen überzeugend davon, um weitere Bestellungen aufzunehmen. Mit der Figur, die in dem leuchtend blauen, auf Taille geschnittenen Schneeanzug bestens zur Geltung kam, sollte sie kein Problem haben, Trinkgeld zu bekommen.

Trotzdem gab Ani ihr höchstens zwei Monate. Man verdiente wirklich gut im On the Rocks, aber man musste auch was tun fürs Geld.

Ihre Hände flogen über die Flaschen, sie ließ Alkohol in den Mixer gluckern, gab Früchte dazu. Die Außenseite des Mixers beschlug, als er Eiswürfel, frische Ananas und gefrorene Erdbeeren schluckte, zerhackte und mit dem dunklen Rum schaumig rührte. Conch Indies waren ihr Markenzeichen. Die Kreation hatte ihr den Job verschafft, und die Touristinnen und Touristen standen darauf. Die Zutaten waren nichts Exotisches, aber die Gäste des On the Rocks liebten es schrill und knallig. Es war etwas Neues, Drinks aus einer kristallklaren Eisflöte zu schlürfen. Ein Conch Indie schmeckte gut und sah hübsch aus, Punkt. Sie goss die duftende pinkfarbene Masse in zwei hohe Gläser. Dann benutzte sie eine Spritze mit langer Nadel, um sie an der Innenseite mit Streifen aus blauem Curaçao und Chartreuse zu verzieren. Am nächsten Tag mochte ja der vierte Juli sein, aber in Key West wurde Rot-Weiß-Blau durch Pink, Limone und Kobalt ersetzt. Die unvermeidlichen regenbogenfarbenen Eisschirmchen waren mit der Flagge der nicht ganz ernstgemeinten Conch Republic geschmückt, die sich von Florida abgespalten hatte.

Gäste in grünen und rosafarbenen Parkas, die die Bar zur Verfügung stellte, beugten sich über die Tische; sie mussten schreien, um sich über die Musik hinweg zu verständigen, während sie ihre Drinks tranken. Sie bildeten einen bizarren Kontrast zu den anderen Gästen in Shorts und ärmellosen T-Shirts, die sich mit Tanzen warmhielten. Die Ausstattung der Bar, vom Whiskyglas bis zum Cognacschwenker, war ausnahmslos in den Farben der Conch Republic gehalten, klar oder matt, je nach der Art und Weise, wie sie in ihren Formen gefroren wurden. Das Ergebnis waren schrille Farben, wie in jedem anderen Touristentreff in Key West – nur eben dreißig Grad kälter.

Sie rührte zwei Margaritas zusammen und wärmte ihre Fingerspitzen kurz an der Kasse. Ihre Hände waren immer kalt, alles andere warm, auch wenn sie zu Jeans nur ein kobaltblaues ärmelloses T-Shirt mit dem On the Rocks-Logo trug. Lisa kam mit den nächsten Bestellungen, aber Ani brauchte nur einen Moment, um sechs kleine Tequila-Limette zu mixen. Sie zuckte zusammen, als beim Auspressen ein Spritzer Limettensaft in eine Hühnerzunge an ihrem Finger geriet. Nun noch die zwei Surfer’s Wakes. Lisa hatte schon sechs gezapfte Bier auf dem Tablett – sie hatte also kapiert, dass das ihr Job war. Immerhin, mit ein bisschen Nachhilfe war sie also durchaus lernfähig. Zerstoßenes Eis bedeckte den Rand der aus Eis geformten Krüge, und es leuchtete wie Gold, als sich die Strahlen des Stroboskops und das Bier darin brachen. Ani schloss kurz die Augen, um die Erinnerung an ein ähnlich goldenes Licht auszublenden, ein Licht, das auf dem Kamm einer Gletscherwand tanzte.

Mit einem kurzen Blick überprüfte sie, ob jemand an der Bar etwas bestellen wollte, während Lisa die Schnapsgläser geschickt auf ihrem Tablett arrangierte, um sich dann durch die Menge zu schlängeln und die nächste Runde zu servieren. Sie bewegte sich anmutig und hatte kein Problem mit schweren Tabletts – ein Punkt für sie. In weniger als einer Minute würde sie wieder an der Bar sein. Ani stellte zwei hohe, schmale Gläser auf die Theke und griff nach dem Kokosnuss-Rum.

Wieder spiegelte sich Lisas Haar auf dem Tresen. Nachdem sie eine neue Runde Bestellungen aufgegeben hatte, beugte sie sich vor, wobei sie Ani den besten Einblick in ihr ansehnliches Dekolleté bot, hübsch hervorgehoben durch den halbgeöffneten Reißverschluss ihres Schneeanzugs. »Das sieht klasse aus. Ist das Surfer’s Wake? Was ist da drin?«

Also schien alles vergeben und vergessen. »Kokosnuss-Rum, Tequila, Salz, Eis und Blaubeerlikör wegen der Farbe.«

»Und Mineralwasser?«

»Nein.«

»Aber es sprudelt doch. Ist das Eis aus Mineralwasser?«

»Nein. Die Eiswürfel sind schockgefroren, deshalb ist noch eine ganze Menge Luft drin. Darum sind sie matt, und sie schmelzen schneller.« Ani hob das Glas ins Licht, sie mochte die weißen Eiswürfel, die in der klaren blauen Flüssigkeit schwammen. »Wenn Wasser langsam gefriert, ist das Eis durchsichtig, weil die Luft entweichen kann. Wenn Gäste danach fragen, sag ihnen, dass es wie ein in Wasser aufgelöstes Alka Seltzer ist, ohne den bitteren Nachgeschmack des Natrons.«

Sie wendete schnell einen weiteren Eiswürfel in Salz und warf ihn ins Glas. Er fiel in die azurblaue Flüssigkeit und sank langsam auf den Boden des schmalen Glases. Durch das Salz schmolz der Eiswürfel noch schneller, Blasen stiegen in hübschen Linien an die Oberfläche, wo sie einen dünnen Schaum bildeten. Wenn sie das Glas in einer bestimmten Weise ans Licht hielt, wirkte es wie ein Gletscher im Mittagslicht – blendendes Weiß und tief unten das blaue Leuchten der Spalten.

»Du klingst eher wie eine Chemikerin als wie eine Barkeeperin.« Lisa zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Das ist fast dasselbe.« Zufrieden mit Blasen und Schaum stellte sie die Gläser aufs Tablett. Zwei Frauen, die sich auf gerade frei gewordene Barhocker schwangen, ersparten ihr weitere Kommentare. Die beiden kicherten und hielten sich in gleichem Maße an der Bar wie aneinander fest.

»Fühl mal«, drängte die Rothaarige. »Die Bar ist so kalt, dass man daran festfriert.«

Ani wischte die Bar vor ihren Plätzen ab. Der Anblick der Schlüsselkarte eines Hotels in der Nähe erleichterte sie. Die beiden mussten nicht weit zu ihrem Zimmer torkeln. »Was darf’s sein?«

Der Rotschopf schenkte ihr ein freundliches Lächeln, aber es war die mit dem blonden Kurzhaarschnitt, die zwei Conch Indies bestellte. »Meine Freundin findet dich heiß«, bemerkte sie säuerlich.

Die frechen Augen des Rotschopfs blitzten. »Was soll ich dazu sagen? Es ist eisig hier drin, und du siehst nicht aus, als ob dir auch nur ein bisschen kalt wäre. Außerdem stehe ich auf Frauen, die slawisch aussehen. Groß, dunkel und mürrisch.«

Leicht irritiert hob Ani eine Augenbraue. »Slawisch?«

»Mein Schwager ist aus Usbekistan. Du könntest eine Cousine von ihm sein.«

»Meine Eltern wurden, von dort aus gesehen, am anderen Ende Asiens geboren.« Sie hätte die Beringsee erwähnen können, aber sie war ziemlich sicher, dass Rotschopf kein Interesse an einer Geografielektion hatte. »Ich wurde in Anchorage geboren.«

Blondie legte mit säuerlicher Miene einen besitzergreifenden Arm um ihre Freundin. »Gehst du mit ihr ins Bett, wenn sie Russisch kann?«

Rotschopf schmollte demonstrativ. »Vielleicht.«

Verschont mich mit euren Beziehungsdramen, dachte Ani. »Dann halte ich mich wohl besser ans Englische.« Außerdem ging ihr Russisch nicht über njet hinaus – ihr Vater hatte immer behauptet, es sei das einzige Wort gewesen, das sie gesprochen hatte, bis sie vier war.

Blondie knallte einen Zwanziger auf die Theke. »Gute Idee.« Sie schnappte sich die Gläser und knurrte förmlich, als sie sich an ihre Freundin wandte: »Halt dich bloß zurück, Süße!«

Ani schüttelte die unverdiente Feindseligkeit ab; sie war froh, als Blondie darauf bestand, dass sie an einen der Tische gingen. Es lag an der Umgebung. Irgendwie hatten die Leute kein  Problem damit, ihre Zwistigkeiten an der Bar auszutragen, als ob Barkeeper ein Schweigegelübde abgelegt hätten. Es war auch nicht das erste Mal, dass sie Eifersucht auslöste. Sie hätte wetten mögen, dass die beiden später heißen Sex haben würden und Blondie ihrem süßen Rotschopf jede Menge Gründe liefern würde, die Barkeeperin zu vergessen, die sie ohnehin nie wiedersähen. Das war bestimmt nicht die Art Beziehung, die sie sich vorstellte. Nicht dass sie Expertin darin war, und sie hatte auch keine Absicht, es zu werden. Die Chemie des Eises war viel faszinierender – und beständiger noch dazu – als der menschliche Charakter.

Lisas Hand strich mehr als einmal über Anidyrs, wann immer sie an diesem Abend Bier, Drinks und Cocktails holte. Die Stimmung in der Bar erreichte gegen halb zwei, kurz bevor sie schloss, ihren Höhepunkt. Der Lärm war ohrenbetäubend, weshalb Ani nur die Hand ans Ohr hielt und den Kopf schüttelte, wenn jemand fragte, wo noch etwas offen hatte.

Um zwei Uhr ging die Musik aus, und ruhiges, fahlgelbes Licht ersetzte die hektischen Stroboskopeffekte. Die grellen Neonlampen über der Bar wurden ausgeschaltet, und die Leute, die mit ihrer überschüssigen Energie außer Abfeiern nichts anzufangen wussten, verwandelten sich in müde Reisende – alle, Personal eingeschlossen, wollten nur noch ins Bett. Ani erhaschte einen Blick auf Blondie und Rotschopf, wie sie knutschend die Bar verließen.

Lisa zählte ihr Trinkgeld und teilte es mit Ani und der Frau, die die Tische abräumte. Ani rechnete die Kasse ab und teilte ihre Trinkgelder mit dem Tischdienst. In der Woche war der Club nicht ganz so voll wie am Wochenende, und weil Ani das Tempo durchhielt, arbeitete sie außer freitags und samstags allein an der Bar. Die stellvertretende Geschäftsführerin kontrollierte die Bestände, und wie immer fehlte nicht eine Flasche – Ani schuldete ihr nichts. Sie steckte das Kleingeld ein, den Scheck für ihre Arbeitsstunden und für die Trinkgelder, die die Gäste mit Kreditkarte bezahlt hatten, und verließ die Bar durch den hinteren Lagerraum. In nur wenigen Stunden würde das Restaurationsteam kommen, die Gussformen auffüllen, die Eisgläser ersetzen, die in der Nacht verbraucht worden waren, und die Wände samt Eisskulpturen für den nächsten Tag erneuern. Sie schenkte den Eisskulpturen kaum Beachtung – mochten sie das Eis noch so langsam gefrieren lassen, es erreichte doch nie die Klarheit des Eises in Fairbanks, wo jedes Jahr ein Eisskulpturen-Festival stattfand. Sie verdrängte den Gedanken. Das führte zu nichts.

»Hallo, Ani.« Lisa tauchte neben ihr auf. »Erinnerst du dich noch an Kirsten?«

»Tut mir leid. Wenn ich sie sehe, vielleicht.«

»Na, sie erinnert sich aber an dich. Ich soll dich grüßen.«

Ani sah Lisa von der Seite an. »Ist sie eine Freundin von dir?«

»Nicht ganz, aber sie hat mir den Tipp mit dem Job gegeben.«

Sie bogen um die Ecke in den langen Korridor ein, der fast die gesamte Länge des Hotelgebäudes durchzog. »Sie hält dich für eines der Highlights hier.«

»Sie wollte wohl witzig sein.«

Lisa legte die Hand auf Anis nackten Unterarm. »Du gehst echt schnell. Müssen deine langen Beine sein.«

»Es ist spät, und ich will nach Hause.«

Lisa rückte näher: Ihre Wärme war verführerisch nach all den Stunden in der Kälte. »Das Bett ruft.«

Ani tat, als hätte sie die Einladung nicht verstanden; dann versuchte sie es mit einem Stirnrunzeln, aber Lisa sah sie nur weiter mit ihren großen blauen Augen an, und ihre Brüste wölbten sich ganz undezent. Unter dem offenen Schneeanzug trug sie ein geripptes Unterhemd, das nichts der Phantasie überließ. »Hör mal, ich weiß nicht, was Kirsten dir erzählt hat –«

»Dass du unglaublich geschickte Hände hast.«

»Die kommen nur an der Bar zum Einsatz. Ich nehme niemanden mit nach Haus.«

»Da hat Kirsten mir aber was anderes erzählt.« Lisa schob sich noch näher heran, und Ani hätte eigentlich die Hitze spüren müssen, die von ihrer Haut ausstrahlte, aber das tat sie nicht. Sie verspürte einzig den Wunsch, die Unterhaltung zu beenden.

»Tut mir leid. Sie hat dich wohl auf den Arm genommen.«

Lisa schmollte. »Sie hat gesagt, man käme nur schwer an dich ran, aber sie hätte es geschafft.«

»Ich habe keine Ahnung, warum sie so was erzählt.« Ani schob Lisas Arm sanft beiseite. »Ich habe zu Hause noch eine Verabredung«, log sie. »Tut mir leid.«

Lisa folgte ihr nicht, als sie den Weg zum Angestelltenparkplatz einschlug. Ani setzte die Unterhaltung auf ihre Liste der Dinge, die sie am nächsten Morgen vergessen haben würde. Warum sollte Kirsten, eine Frau, an die Ani sich nicht einmal erinnerte, solche Lügenmärchen erfinden? Manchmal verstand sie einfach nicht, was die Leute umtrieb.

Die Temperatur stieg spürbar mit jedem Meter, den sie zurücklegte, und ihre Schritte verlangsamten sich, als sie den Ausgang erreichte. Sie war froh, dass sie allein war. Niemand würde verstehen, warum es ihr so schwerfiel, die Tür zu öffnen und in die feuchtwarme, exotische Nachtluft Key Wests hinauszutreten.

Es war idiotisch. Das dachte sie jede Nacht. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Es ging auf drei Uhr morgens zu, und sie hatte noch immer keine Lust, die Eiseskälte des Clubs hinter sich zu lassen. Sie wünschte sich so sehr, aus der Tür in eine fünf Grad kühle Nacht zu treten und in einen Himmel zu blicken, der am östlichen Horizont schon rot erglühte. Es war die Zeit des Jahres, wenn die Sonne zu Hause nicht mehr unterging, und die Sterne wie dünne Milchtupfer im Indigo des Himmelszelts zerflossen. Die Zeit des Jahres, wenn zwei Frauen ihre Nasen aneinanderreiben konnten, ohne Frostbeulen zu befürchten. Die Zeit des Jahres, wenn ein Tanz auf dem Gletscher um drei Uhr früh nicht an Selbstmord grenzte und das Licht des Nordens den feierlichen Hintergrund geflüsterter Koseworte bildete.

Sie verdrängte die Vergangenheit aus ihrem Kopf. Es gab keine erfrischende Abkühlung auf der anderen Seite dieser Tür, kein Polarlicht. Sie öffnete die Tür, und die feuchte Luft Key Wests machte ihr auf brutale Weise klar, dass sie nicht einfach schlecht geträumt hatte – sie hatte die Fehler gemacht, die sie gemacht hatte, und sie musste nun damit leben. Es war, wie es war. Key West war der Ort, den sie sich zum Exil gewählt hatte. Sie lebte gern hier. Während ihres Bachelor-Studiums an der Universität von Fairbanks hatte sie einige Jahre als Barkeeperin gearbeitet, um sich das Studium zu verdienen, und es hatte sich als ihre einzige echte berufliche Fähigkeit herausgestellt. Wen interessierte es, dass sie Lawinen sprengen oder mit einem Blick beurteilen konnte, ob Gletschereis stabil oder instabil war. Nutzlos. Was zählte ihre Herkunft, was zählten die Generationen von widerstandsfähigen Russinnen und Russen, die unter widrigen Umständen am besten gediehen? Warum nicht mal im Paradies leben?

Sie fühlte sich schwerfällig, langsam, als sie ihren Roller vom Parkplatz holte. Sei weise, sagte sie sich. Es geht nicht darum, das zu bekommen, was du dir wünschst – es geht darum, das zu mögen, was du hast. Key West, o ja, sie liebte die ewige Feuchtigkeit, die Insekten, groß wie Spatzen. Sie liebte ständig schweißfeuchte Handflächen und herrenlose Katzen mit sechs Krallen. Immer war Sommer, immer blühten die Blumen, und nie änderte sich etwas. Was wollte sie mehr?

Sie fuhr in die schwere, schwüle Nacht hinaus, über sich den sternenübersäten Himmel. Sie hätte ihn gern schön gefunden. Das Feuerwerk am nächsten Tag würde spektakulär ausfallen, wenn das Wetter so klar blieb. Freu dich auf das Feuerwerk und hör auf, dir zu wünschen, du würdest nicht nach Scotch riechen.

Ihr Bungalow lag am anderen Ende des Touristenbezirks, hinter dem Hemingway-Haus, in einer der Seitenstraßen beim Flughafen, wo die Mieten niedriger waren. Viele ihrer Nachbarinnen und Nachbarn arbeiteten wie sie in der Tourismusbranche, und sie war nicht die Einzige, die zu so später Stunde nach Hause kam. Sie brauchte dringend eine Dusche, und sie hatte vor, lange zu schlafen, bis weit in den Unabhängigkeitstag hinein.

»Ani, hallo«, rief eine sanfte Stimme in der Nähe. Sie wandte den Kopf und erkannte Shiwan, die ihr zuwinkte. »Paket für dich.«

»Entschuldige«, sagte Ani, als sie das kleine Stück Rasen, das zwischen ihren Türen lag, überquerte. »Die kriegen das wohl nie hin.«

»Paketbote faul. Meine Tür viel näher.« Shiwan lächelte müde. »Ich jetzt in Bett. Gut du kommen.«

»Vielen Dank.« Sie hob das schwere Paket hoch; sie sollte nicht hoffen, dass es von Tan kam. »Das war lieb von dir.«

Shiwans Tür fiel ins Schloss, noch bevor Ani wieder vor ihrem Eingang stand. Im schmalen Flur angekommen, warf sie einen Blick auf den Absender – A. Salek, Fairbanks, Alaska. Es war von Tan. Also hatte sie Lisa doch nicht angelogen. Dieses Paket war in gewisser Weise eine Verabredung.

Die nur zu bekannte Mischung aus Aufregung und Furcht traf sie wie ein Adrenalinstoß, und sie zog sich schnell das Club-T-Shirt aus und schlüpfte aus ihren abgetragenen schwarzen Levi’s. Es dauerte keine Minute, und sie war unter der Dusche und schrubbte sich den Alkoholdunst aus den Poren. Sie frottierte sich das Haar, bis es nur noch feucht war und genoss das Gefühl von Kühle in ihrem Nacken. Die frostige Luft im Club war zwar eine Wohltat, aber sie war doch immer auch abgestanden. Es war Ani nur recht, dass der Bungalow keine Klimaanlage hatte. Die feuchte Luft aus dem Verdunstungskühler erfrischte ihre Schleimhäute und tat genauso gut wie die Feuchtigkeitscreme, die sie in ihre rauen Hände einmassierte.

Während sie mechanisch tat, was vor dem Zubettgehen zu tun war, fragte sie sich die ganze Zeit, was sie wohl diesmal in dem Paket finden würde. Universitätsklatsch? Die letzten Ausgaben der geoLogics? Würde sie in einer der Zeitungen etwas über Leute lesen, die sie einmal zu ihren Freundinnen gezählt hatte? Sie hatte nun drei Jahre Erfahrung mit einem völlig anderen Klima, und sie vermisste Alaska immer noch. Dass sie sich ihr Exil in Key West verdammt noch mal selbst zuzuschreiben hatte, machte es nicht leichter. Tans Paket war ein Akt des Mitleids – die Verwaltungsdirektorin schickte es einer ehemaligen Studentin, die Mist gebaut hatte. Mochte Tan – wie der Rest der Welt – sie der falschen Dinge für schuldig halten, so hatte Ani doch einige schwere Fehler gemacht, für die sie nun bezahlen musste. Ihr Karma eben.

Sie wusste, wenn sie das Paket öffnete, würde sie nicht schlafen können, und sie brauchte dringend Schlaf, auch um den Inhalt wirklich zu würdigen, also ließ sie es auf dem Boden vor dem Bett stehen. Erschöpft wie sie war, spürte sie seine Gegenwart, während sie auf den Schlaf wartete. Neuigkeiten von daheim …

Das Knallen von Feuerwerkskörpern weckte sie. Ihr Herz raste, weil sie so plötzlich hochgeschreckt war, auch wenn ihre Ohren ihr sagten, dass der hohe, scharfe Knall nur das Geräusch explodierender Papierzylinder war. Sie blinzelte sich den Schlaf aus den Augen, um die Uhr zu erkennen. Schon nach zehn. Ein paar Minuten lang schien die schwierigste Entscheidung an diesem freien Tag die zu sein, ob sie nur noch eine halbe Stunde dösen oder lang und tief weiterschlafen sollte.

Die nächste Serie explodierender Böller nahm ihr die Entscheidung ab, und sie richtete sich stöhnend auf. Der Tag war jetzt schon feucht und heiß. Selbst ein T-Shirt und Shorts wären noch zu viel Bekleidung. Der vierte Juli war einer der wenigen Tage, an dem jemand auch in Fairbanks T-Shirt und kurze Hose tragen konnte. Zu Hause mochte es um die 25 Grad haben.

Sie stieß sich den Zeh an dem Paket an, als sie sich aus dem Bett schwang. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu fluchen und gespannter Erwartung, humpelte sie in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Wenn sie Internet hätte, könnte sie jetzt nachsehen, wie das Wetter zu Hause war. Sie verschüttete Wasser auf der Arbeitsplatte, als sie die kleine Kaffeemaschine füllte, stieß sich den Ellbogen am Küchenschrank, als sie nach einer Tasse griff. Neuigkeiten von zu Hause brachten sie immer aus dem Gleichgewicht – deshalb wollte sie auch keinen Computer, keinen Internetzugang, keinen Kontakt. Wenn ein Paket mit ein paar Zeitschriften schon dazu führte, dass sie ihr T-Shirt mit Marmelade bekleckerte, dann konnte sie ihren Seelenfrieden erst recht vergessen, wenn sie die Möglichkeit hätte, sich durch die Studienpläne und die Personallisten der Fakultäten zu klicken. Sie tupfte an dem Marmeladenfleck herum und machte sich klar, dass sie bestimmt nicht nachlesen wollte, wer die neueste Kandidatin für die Geologenstelle in GlacierPort war. Fakt war, sie war es nicht, und sie würde es auch niemals sein. Der Traum von Dr. Anadyr Bycall war ausgeträumt. Monica Tyndell, Professorin und Doktor der Geologie des Quartärs, unumstrittene Expertin in arktischer Gletschergeschichte, Anis Mentorin und Idol, hatte nicht verhindern können, dass Ani keine Chance mehr auf eine akademische Karriere hatte.

Sich täglich mit neuen Nachrichten zu quälen würde sie in den Wahnsinn treiben. Es war besser, wenn sie auf die Sendungen wartete, die alle zwei Monate eintrafen; es war besser, ihre Zeit mit der Arbeit an der Bar zu verbringen und ihr Konto zu füllen. Eines Tages würde sie etwas anderes studieren. Eines fernen Tages.

Als sie ihren Toast gegessen und eine halbe Tasse Kaffee getrunken hatte, zitterten ihre Hände so sehr, dass sie sich mit dem Messer, mit dem sie das Klebeband durchtrennte, in den Daumen schnitt. Super, das würde wie Feuer brennen, wenn sie wieder Margaritas machen musste.

Sie hätte schwören können, dass es nach Räucherlachs roch, als sie den Karton öffnete. Tan hatte die Alaska Today obenauf gelegt, und Ani stockte der Atem beim Anblick des unglaublichen Fotos der Eisfelder östlich von Juneau. Ihre Nasenflügel weiteten sich, und ihre Wahrnehmung schärfte sich, als hätte ein Schwall eiskalter Luft sie mit voller Wucht getroffen. Es war nur ein kurzer Moment, aber in diesem Moment war zu Hause ganz nah.

Der Esstisch ächzte, als sie den Karton näher zu sich heran zog. Die Fachzeitschriften kamen nach links, die Fairbanks Gazette, die Zeitschriften der Universität von Fairbanks und die Zeitungsausschnitte in die Mitte, und der GlacierPort Newsletter nach rechts. Bei Letzteren handelte es sich in der Mehrzahl um Ausdrucke der Online-Ausgaben. Sie überflog die Überschriften, während sie sie sortierte – geoLogics veröffentlichte neue Erkenntnisse zum Alter der Gletscher, ein Artikel, der sie bis zum Abend zu fesseln versprach. Sie machte sich regelmäßig etwas vor, wenn sie so tat, als vermisse sie es nicht, wissenschaftliche Ergebnisse zu studieren – sobald ihr welche in die Hände fielen, merkte sie, dass sie förmlich danach lechzte. Sie würde die neuen Berichte später mit zum Strand nehmen, um sie zu genießen, während sie auf das Feuerwerk wartete.

Als sie endlich alles ausgepackt hatte, stellte sie den Karton beiseite, um ihn mit Limetten aus Key West, frischgerösteter Kokosnuss und den karamellisierten Haselnüssen zu füllen, die Tan so liebte. Es war das Mindeste, was sie tun konnte, um Tans Freundlichkeit zu erwidern, vor allem weil Tan bis jetzt alle Angebote, Ani zu besuchen, abgelehnt hatte – zu heiß, zu weit weg und so weiter. Tan war die Einzige gewesen, die der Meinung war, Ani sei unrecht geschehen, egal was sie nun getan oder nicht getan hatte. Sie hatte ihr wenigstens zugehört. Eve hatte nicht zugehört.

»Schluss damit.« Sie verdrängte die Erinnerung an Eve, wie sie die Augen zusammenkniff und sich die Ohren zuhielt. Ich will es nicht mehr hören! Ani hatte getan, was Eve wollte, und das war’s dann. Sie schlug die geoLogics auf und fing an, das Editorial zu lesen.

Ihr Magen knurrte so schmerzhaft, dass sie einen Moment die Augen schloss. Benommen und völlig verspannt sah sie auf die Uhr am Herd – war es wirklich schon drei? Sie machte eine abrupte Kopfbewegung, und ein scharfer Schmerz schoss ihr in den Nacken. Als sie auf die Datentabelle vor sich blickte, verschwammen die Zahlen vor dem weißen Hintergrund.

»Ich mach ja schon, ich mach ja schon.« Sie murmelte leise vor sich hin, während sie mit dem Fuß aufstampfte, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Zeit, etwas zu essen und sich einen Platz am Strand zu suchen. Sie stopfte schnell eine ältere Ausgabe der Alaska Today, die geoLogics, die sie gerade gelesen hatte, einige Gazettes und eine Nummer der Terrafrost in eine Schultertasche, die letztere für den Fall, dass sie eine kleine Abwechslung von der Wissenschaft brauchte. Ab und zu gab es dort lesenswerte Kurzgeschichten von Studierenden. Sie griff sich noch ein dünnes Strandlaken und machte sich auf den Weg zu ihrem Roller. Sie legte eine Flasche Wasser, einen Apfel und einen Beutel Eis in die kleine Kühltasche, die hinten mit einem Spanner festgezurrt war, befestigte die Schultertasche mit einem zweiten Spanngummi und tuckerte los, hinaus auf die jetzt schon überfüllten Straßen.

Sie hielt kurz am Bankautomaten, um ihren Gehaltsscheck gutschreiben zu lassen und schlängelte sich durch den zähflüssigen Verkehr auf der Hauptstraße, bis sie in die Seitenstraßen ausweichen konnte, um zum Strand zu fahren. Key West hatte ein Herz für Rollerfahrer – man durfte den Seitenstreifen benutzen, wenn man vorsichtig fuhr, aber man tat gut daran, auf herabgefallene Palmwedel zu achten, denn Palmen säumten hier jede Straße. Sie hatte sich schon einmal einen Platten geholt, als sie über ein vertrocknetes Ende gebrettert war.

Für gewöhnlich mieden die meisten Einheimischen die Nachmittagshitze und blieben im Haus, aber weil heute Feiertag war, waren viele Leute zu Fuß zum langgestreckten Oststrand unterwegs. Das Feuerwerk würde von jedem beliebigen Punkt des sich über viele Meilen hinziehenden Strandes zu sehen sein, darum wollte sie sich in der Nähe des Hundeparks einen Platz suchen. Dort gab es Schatten und kühles Wasser. Die Roller standen in Dreierreihen entlang des Parkplatzzauns, aber sie fand noch eine Lücke, wo sie ihren hineinquetschen konnte. Sie machte sich, die Kühlbox schwingend, auf den Weg zur nächsten Umkleidekabine. Einige leicht feuchte Geldscheine aus der Trinkgeldkasse verhalfen ihr zu drei Tacos mit frischem Fisch und Mangosauce sowie dem eiskalten Fruchtsaftmix, den die Einheimischen Conch-Conch nannten. Er geriet immer wieder anders. Heute schmeckte er hauptsächlich nach Guave.

Satt und zufrieden, vergrub sie die Kühlbox halb im Sand und streckte sich im Schatten auf dem Strandlaken aus. Sie entspannte sich erst einmal bei einer der Kurzgeschichten aus der Literaturzeitschrift. Die Erzählung eines Hundeschlittenrennens im Stile Jack Londons war nicht besonders originell, aber sie hatte Schwung und erinnerte sie an eigene aufregende Schlittenfahrten. Sie presste ihren kühlen Conch-Conch-Becher an die Wange und schloss die Augen, um für einen Moment in lebhaften Erinnerungen zu schwelgen. Sie hatte nur einmal gewonnen, bei einem Mitternachtsrennen Ende Juni. Ihr Vater hatte behauptet, sie habe ein Glücksgen. Mit ihren schwarzen Augen könne sie im Zwielicht besser sehen, und sie hatte jede Fahne erkannt, während ihre Gegner vom Kurs abgekommen waren. Als sie im Ziel ankam, hatte er sie herumgewirbelt, bis ihr schwindlig wurde. Wie alt war sie gewesen? Dreizehn? Sie würde Tonk Senior und Bannon und Jeeves und Klinkatet nie vergessen. Wundervolle Hunde. Sie liebten Schlittenrennen.

Sie fragte sich, was aus Tonk Junior geworden war. Eve mochte noch so wütend auf sie gewesen sein, Ani war sicher, dass sie es nicht an Tonk ausgelassen hatte. Tonk hatte ein liebevolles Zuhause, er war wohl älter, auch behäbiger, aber glücklich. Ganz bestimmt.

Sie öffnete die Augen und blickte in blendend orangefarbenes Licht. Das Bellen der Hunde im Hundepark erfüllte sie mit schmerzlicher Sehnsucht, doch nicht so sehr, dass sie aufgestanden und umgezogen wäre. Sie verdiente die Ermahnung. Sie hatte Monica Tyndell enttäuscht, hatte Eve das Herz gebrochen, und Tonk hatte bestimmt nicht verstanden, warum Ani eines Tages nicht mehr wiedergekommen war. Hunde verstanden ein Hallo, aber Lebwohl verstanden sie nicht.

Verdammt. Na gut, Zeit, auf andere Gedanken zu kommen, am besten mit dem Studium von Daten. Sie arbeitete sich durch eine weitere geoLogics-Tabelle mit Temperaturangaben – diesmal ging es um die Reste des Ellesmere Island-Gletschers –, dann schien es ihr Zeit für Alaska Today. Als sie noch dort lebte, hatte sie die Zeitschrift nie gelesen, nun aber schien jeder Artikel etwas Interessantes zu enthalten. Egal, ob es um Lachsfischerei in der Gegend von Cook Inlet ging oder ob in Denali zwei Elchbullen die Geweihe aufeinanderkrachen ließen. Hier in Key West schien Tag für Tag eine grelle Sonne. Auf den Fotos von zu Hause waren die Blautöne vorherrschend, wunderschönes, dunkles, üppiges Blau. Das Blau des Eises, der See, der Flüsse, selbst die Fichten schimmerten blau. Ohne Berge schien es kein echtes Blau zu geben.

Sie sog alles gierig auf. Ein Rezept aus Ketchikan, Salat aus frischen Erbsen, erinnerte sie an die Osterfestessen ihrer Mutter. Ein Bed & Breakfast am Rande von Anchorage erinnerte sie an das, das ihre Eltern betrieben hatten, als sie noch klein war. Ihre Mutter hatte die meiste Arbeit gemacht, aber ihr Vater hatte ausgeholfen, wenn er nicht gerade auf einer Expedition war. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte er das B & B zu einem guten Preis verkauft, ein Batzen Geld, der Ani durch die ersten vier Jahre im College gebracht hatte; es blieb sogar noch etwas übrig, das ihr, zusammen mit einem Stipendium, erlaubte, ein Doktorandenstudium zu beginnen. Alles für die Katz!

»Hallo – schön, dich zu sehen.«

Ani blickte hoch, blondes Haar blitzte auf. Sie brauchte einen Moment, um das Gesicht ohne die Kapuze des Schneeanzugs zu erkennen. »Oh. Hallo.«

Lisa ließ sich neben Ani auf ein Strandlaken fallen. »Und wo ist deine Verabredung?«

Die Frage schien nicht böse gemeint, allerdings ließen Lisas hochgezogene Augenbrauen auf Zweifel schließen, dass es je eine Verabredung gegeben hatte.

Ani zeigte auf ihren Lesestoff. »Du siehst sie vor dir.«

Lisa runzelte die Stirn, als sie nach der geoLogics griff. »Ich muss schon sagen, dein Geschmack … eher ungewöhnlich.«

»Jede nach ihrer Fasson.« Ani streckte die Hand nach der Zeitschrift aus.

Lisa hatte sich festgelesen. »Also ist die Klimaerwärmung eine Tatsache.«

»So ist es. Mag sein, dass wir uns unabhängig davon in einer eher warmen Phase befinden, aber die Umweltverschmutzung beschleunigt den Prozess und zwar schneller, als wir reagieren können.«

Lisa deutete auf eine Tabelle mit Temperaturmessungen im polaren Kerneis. »Wie kommt es, dass das Eis trotz unterschiedlicher Temperaturen nicht schmilzt?«, fragte sie. »Oder ist das eine dumme Frage?«

»Das ist keine dumme Frage.« Ani beschattete ihre Augen. Zu ihrer Überraschung schien Lisa ernsthaft interessiert. Sie kannte eine ganze Menge Frauen, die beim Anblick einer langen Zahlenreihe schreiend davonlaufen würden. »Wasser gefriert bei null Grad. Wenn die Temperatur weiter sinkt, bildet sich eine festere kristalline Struktur. Das Eis im Innern erreicht einen Punkt, an dem es brüchig wird. Wenn dieser Punkt erreicht ist, neigen die Kristalle dazu zu brechen.«

»Deshalb ist die Lawinengefahr also bei ungewöhnlich niedrigen Temperaturen größer?«

Ani hoffte, nicht so überrascht auszusehen, wie sie war. »Genau. Auch die Gletscher kalben bei extremer Kälte eher.«

Lisa ließ die Zeitschrift auf ihr Handtuch fallen und sah Ani direkt an. »Nur weil ich aussehe, als ob ich nie ein College von innen gesehen hätte, muss das noch lange nicht so sein.«

»Ich –«

»Schon gut.« Sie warf ihr Haar zurück und grinste ohne jede Verlegenheit. »Meistens schlafe ich bei Discovery Channel ein. Zurzeit versuche ich, mein Gehirn nicht allzu sehr zu beanspruchen. Ich schone meine geistigen Kapazitäten. Aber früher oder später kriegt die Haut Flecken, und die Ausstattung –« sie zeichnete ihre Kurven in der Luft nach – »die Ausstattung sinkt südwärts. Lesbische Sponsorinnen sind schwer zu finden, also werde ich mir wohl irgendwann einen richtigen Job suchen müssen. Ich werde wieder zu Myra werden und meinen Kopf gebrauchen.«

Ani konnte sich nicht zurückhalten. »Das mit dem Trinkgeld war also nur ein Versuchsballon?«

»Bei Männern klappt das immer.« Lisa grinste. »Du dagegen hast mir nichts von deinen Trinkgeldern angeboten. Kluges Kind.«

Ani musste gegen ihren Willen lachen. Lisas offene, ehrliche Art war herzerfrischend. »Und das andere Angebot gestern Nacht – gehörte das auch zu deiner Versuchsreihe?«

»Klar. Kirsten hat gesagt, du wärst klasse im Bett. Sie hat laut gelacht, als ich sie heute Morgen anrief. Ich werde sie von der Liste meiner Freundinnen streichen.« Lisa stützte sich auf den Ellbogen. »Und was macht eine nette Geologin wie du an einem Ort wie diesem?«

»Geld verdienen.«

»Und sonst nichts, schätze ich. Jetzt mal ehrlich – was hat dich hierher verschlagen?«

»Ich mag den Strand.« Lisa schien immer noch skeptisch, und Ani ergänzte: »Was denn sonst?«

»Ziemlich weit weg von zu Haus.« Lisa zeigte auf die Alaska Today. »In einem hatte Kirsten recht. Jede andere mit einem Pulsschlag kriegt einen Herzinfarkt, wenn sie in einen Raum unter null kommt, aber du stehst da im ärmellosen T-Shirt und mit diesen sexy fingerlosen Handschuhen.«

»Das ist doch nur die Arbeitskleidung. Es ist nicht so, als ob ich –«

»Es drauf anlegst? Nein, das tust du nicht. Macht die Sache nur noch aufregender. Und dann stellt sich heraus, dass du im Grunde in deinem Element bist – so kalt wie die Einrichtung.« Lisa sah sie unverwandt an. Ani spürte, wie sie rot wurde. »Ich beginne zu verstehen. Keine Ahnung, um wen es sich handelt, aber jede zweite Lesbe in Key West hasst sie.«

»Wen?«

»Wen auch immer – die Frau, die dir das Herz gebrochen hat.«

»Oh.« Jetzt war es an Ani, etwas einzugestehen. »Ich habe ihr das Herz gebrochen.«

»Und dann bist du abgehauen?« Lisa neigte den Kopf, und Ani bemerkte, dass sie älter war, als sie gedacht hatte. »Nun, da wohl kaum etwas zwischen uns laufen wird, angesichts deiner Vorlieben …« Sie stieß mit dem Zeh gegen die Zeitschrift. »… kann ich dir ja sagen, was ich davon halte: Schisserin.«

»Hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt?«, schnappte Ani wütend.

»Ich bitte dich. Lesben-Knigge. Wenn wir nicht zusammen ins Bett gehen, können wir uns den bitteren Teil ersparen und sofort zum Status der Ex wechseln, die zu allem ihren Senf dazugeben darf. Du hast ihr das Herz gebrochen, und dann bist du abgehauen, damit du nicht mitansehen musstest, wie sie leidet.«

»Du hast nicht die geringste Ahnung«, sagte Ani mit zusammengebissenen Zähnen.

»Na und?«

»Meine Güte, du machst mich rasend.« Ich werde noch zur Menschenfeindin, dachte Ani.

»Oh, jetzt redest du wie eine Ex. Vielleicht sollten wir doch miteinander schlafen.«

Ani starrte sie nur an.

»Was ist?« Lisa sah sie unschuldig an. »Bist du abgeschreckt, weil ich in Wirklichkeit Myra heiße?«

»Nein. Ich ärgere mich, weil du alles besser weißt.«

»Für eine Frau, die angeblich kein gebrochenes Herz hat, bist du ziemlich humorlos. Und flirten kannst du auch nicht.«

Ani dachte einen Augenblick, sie hätte sich geirrt, eine Sinnestäuschung, das Glitzern des Sandes, aber ein kaum wahrnehmbares Kräuseln um Lisas Mundwinkel verriet, dass sie geneckt wurde. »Und was, wenn ich keinen Grund zum Lachen habe? Du weißt schon: die Erderwärmung und der Gaspreis?«

»Erwähne das Wort Melanom in Gegenwart von Surfern, und die Stimmung sinkt auf den Nullpunkt.«

»Ich kann hierbei wohl nicht gewinnen?«

»Nein. Versuch’s gar nicht erst.« Lisa öffnete die halb im Sand vergrabene Kühlbox. »Kann ich den Apfel haben?«

»Klar. Wenn du mir ein Eis kaufst.«

»Kauf dir selbst eines.«

»Kauf dir selbst einen Apfel.«

»Du bist langweilig.«

Lisa machte es sich bequem und widmete sich der TerraFrost. Ani wollte sie fragen, ob sie nichts Besseres vorhatte, aber sie biss sich auf die Zunge.

Nach einer Weile seufzte Lisa und sagte: »Keine schlechte Geschichte. Und ich bin versetzt worden.«

»Wer auch immer sie ist, sie muss ganz schön blöd sein.«

Lisa blickte von der Zeitschrift auf. »Das ist das Netteste, was du je zu mir gesagt hast.«

»Gewöhn dich bloß nicht dran.« Ani widmete sich fast ausschließlich einem Artikel über Fliegenfischen in der Bucht von Bristol. »Und wie heißt du mit Nachnamen?«

»Garretson. Und du heißt Bycall.«

Ani nickte, und Lisa hielt endlich den Mund.

Wenn jemand wie Lisa sich auf einem Strandlaken räkelt, zieht das eine Menge Menschen an. Frauen und Männer gleichermaßen flanierten vorbei. Lisa schien jede zweite zu kennen, brachte aber für die meisten kein großes Interesse auf. Nur einigen warf sie die Art freche, geistreiche Bemerkungen zu, die auch Ani schon abbekommen hatte. Ani blendete das Geplauder aus, indem sie sich einer weiteren Temperaturtabelle zuwandte, bis ein Neuankömmling ihre Konzentration mit dem Schnurren eines Schmusekätzchens unterbrach.

»Ihr habt es euch aber gemütlich gemacht.« Die Neue war groß und schlank und protzte mit einer goldblonden Mähne, für die sie den gesamten Echthaar-Vorrat eines Frisiersalons aufgebraucht haben musste.

»Hallo, Tina.« Lisa rührte sich nicht, aber sie atmete flacher. »Stimmt. Ich find’s gemütlich.«

»Schade, dass du dich kaum noch blicken lässt.«

»Ich brauche eine reine Umgebung. Bekommt mir besser.«

»Erinnerst du dich noch an Mindy?«

»Wie könnte ich die vergessen? Der Anblick ihrer mageren Beine um deine Hüften hat mich fast das Augenlicht gekostet.«

Ani konnte Lisas Augen nicht sehen, aber sie hätte geschworen, dass aus Tinas brennende Pfeile schossen. »Wir wohnen jetzt zusammen. Sie baut mir ein Surfbrett.«

»Schön für sie. Da hat sie ja was zu tun, wo der Surfer-Laden sie doch gefeuert hat.«

Tina schoss ihre Pfeile in Anis Richtung ab. »Und wen haben wir hier?«

Ani antwortete mit einem ausgesprochen falschen Grinsen im Gesicht: »Anidyr.«

Tina zwinkerte einmal und beachtete sie nicht weiter. Sie versuchte Löcher in Lisa zu brennen. »Ani-Dear? Ich hatte ja keine Ahnung, dass du doch noch jemanden gefunden hast. Nach so langer Zeit.«

Ani kannte diesen Typ Miststück Erster Klasse – es hatte sie auch daheim an der Fachschaft gegeben. Wenn die Sonne nicht vor elf Uhr auf und vier Stunden später schon wieder unterging, hatte man viel Zeit, sich in verbaler Grausamkeit zu üben. »Wir sind noch nicht lange zusammen. Ich hab ewig gebraucht, sie davon zu überzeugen, dass ich kein Miststück bin.«

Tina schnitt ihnen ein Gesicht. Sie stieß mit dem Fuß etwas Sand auf das Handtuch und die Zeitschriften. »Wollt ihr nach Alaska? Urlaub machen?«

Das würde sie zu gerne wissen, dachte Ani. Entweder sie trauert Lisa noch immer nach, oder sie ist ein mieser Kontrollfreak. Eher Letzteres.

Lisa schüttelte den Sand aus der Alaska Today. »Du hast’s erfasst. Ich bewundere deine deduktiven Fähigkeiten.«

»Lisa meinte, wir sollten uns, bevor wir fahren, mit der Abnahme der Sauerstoffisotope und dem Phänomen der schwindenden Gletscher beschäftigen«, sagte Ani.

»Ani ist Geologin.« Lisa lächelte liebenswürdig. »Mit ihrer Hilfe kann ich mich vielleicht vom Schmelzen der Eiskappen bis zum richtigen Wachsen von Surfbrettern hocharbeiten.«

Tina warf ihr Haar zurück, eine eindrucksvolle Vorstellung. »Wie auch immer. Ich seh dich dann in der Brandung – falls du es noch schaffst, deinen Hintern aufs Surfbrett zu hieven.« Sie stolzierte davon, ihr Haar löschte die untergehende Sonne aus.

»Das hättest du nicht für mich tun müssen«, sagte Lisa. »Du hast was gut bei mir.«

»Reiner Selbstschutz. Sie stand mir im Licht.«

Lisa entspannte sich. »Ich fand sie mal toll. Ich war geschmeichelt, dass sie überhaupt Notiz von mir nahm.«

»Und dann hast du gemerkt, dass sie ein Miststück ist?«

»Nein, dann hab ich mich in sie verliebt, und wir sind zusammengezogen.«

»Und dann hast du gemerkt, dass sie ein Miststück ist?«

»Nein, dann hab ich ihre Wäsche gewaschen, dreizehn Monate und elf Tage lang.«

»Und dann hast du gemerkt, dass sie ein Miststück ist?«

»Nein, dann hab ich sie mit diesem hirnlosen Klappergestell von Surfboard-Wachserin erwischt.«

»Und dann hast du gemerkt, dass sie ein Miststück ist?«

»Ja.«

»Das hab ich nach dreißig Sekunden gemerkt.«

Wenn Lisa eine Brille getragen hätte, dann hätte sie Ani jetzt streng über den Rand hinweg angesehen. »Dein Punkt.«

»Kampf der Gescheiten … Ausgleich.«

»Schön.« Lisa seufzte tief und schmerzlich. »Du kennst ja den Ausspruch, manch eine sei als Freundin besser geeignet denn als Liebhaberin? Sie war nicht mal eine gute Freundin.«

»Auch keine gute Liebhaberin?«

»Das habe ich nicht gesagt. Was glaubst du, warum ich es so lange bei ihr ausgehalten habe?« Sie machte eine Geste, als wolle sie böse Geister vertreiben. »Wollen wir uns das Feuerwerk zusammen ansehen?«

»Klar. Solange du es nicht für ein Date hältst.«

»Ausgeschlossen.« Lisa schlug das Magazin auf, das in ihrem Schoß lag. »Ich verabrede mich nicht mit Frauen, die ich mag.«

Ani lachte und griff nach der Schultertasche. »Die hast du schon gelesen. Schau dir mal eine der Lokalzeitungen an. Die Polizeireportagen sind hochinteressant. Zusammenstöße zwischen Autos und Elchen und so was.«

Lisa überflog die ersten Seiten. »Sehr fesselnd. Hey, Alaskas Professorinnen sind ja richtig sexy. Hast du unter der hier studiert?«

Ani warf einen Blick auf das Foto, auf das Lisa tippte. »Nein.«

Lisa hob die Augenbrauen und konzentrierte sich wieder auf die Seite. »Na gut. Wenn du es sagst.«

»Das tue ich.« Nicht, was du meinst, dachte Ani.

»Schon gut. Ich glaube dir.«

Ani kehrte zu ihren Zahlenkolonnen zurück, aber sie nahm nichts mehr auf.

Monica Tyndell war strahlend schön wie eh und je. Genau wie Eve. Und sie wirkten sehr glücklich, Arm in Arm.

»In Alaska gibt’s kein Feuerwerk am Unabhängigkeitstag?« Lisa streckte und räkelte sich auf dem Handtuch; die Zeitung lag noch immer auf ihrem Schoß, obwohl die Sonne vor einer halben Stunde untergegangen war.

Ani konnte sich gerade noch davon abhalten, die Zeitung an sich zu reißen. »Doch, aber sie gelingen nicht besonders gut. Die chemische Zusammensetzung verändert sich, wenn die Raketen in sehr kalte Luftschichten geschossen werden.«

»Verstehe. Ähnlich ergeht es auch Frauen, die mit dir zusammentreffen.«

»Stimmt. Ich bin ein Eisschrank. Tiefgekühlt.«

»Zur Hölle mit dir – da! Es geht los!« Lisa quietschte wie ein kleines Mädchen, als die erste Rakete in goldenen Funken zerbarst.

Zu Anis Erleichterung genügte das Feuerwerk, um Lisa von einer weiteren Analyse ihres Liebeslebens abzuhalten. Die schmale Sichel des zunehmenden Mondes versank, und im selben Augenblick erblühten die Farbkaskaden unter dem hellen Sternenfunkeln des nachtschwarzen Himmels.

Eine ganze Weile sagte keine von beiden mehr als »Wow!« und »Toll!«. Immer schneller folgten die Raketen aufeinander.

»Die grünen finde ich am schönsten!«, rief Lisa über den Lärm der Explosionen hinweg. »Als ob die See am Himmel aufleuchtet. Ich glaube, jetzt kommt das Finale.« Die Fontäne aus smaragdgrünen Strahlen wurde durch sternförmig explodierendes schrilles Pink ersetzt.

Anis Zustimmung ging im anhaltenden Krachen der Böller unter. Ein weithin hallender, den ganzen Strand erschütternder Knall ertönte, und blendendes Weiß, wie aus Abertausend Wunderkerzen, ergoss sich vom Himmel ins Meer.

Ani schloss die Augen; sie spürte, wie der Sand unter ihr bebte. Sie fühlte wieder die schwere Decke auf der Haut, die ihr Vater ihr umgelegt hatte, um Schockwelle und Lärm zu dämpfen. Sie konnte seine Stimme hören, klar und deutlich.

»Siehst du, Ani? Hast du den Unterschied bemerkt? Dynamit hört sich anders an als Tovex.«

»Ja, ich hab’s gehört, Dad.« Ihr Atem bildete kleine Wolken unter der Decke. »Es klang tiefer – dringt es auch in tiefere Schichten ein?«

»Schau selbst.« Ihr Vater hatte die Schutzdecke weggezogen, und Ani war einen Moment geblendet vom hellen Licht des Sommers. »Na, was meinst du?«