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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

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Shamim Sarif

Mitten ins Herz

Roman

 

 

Aus dem Englischen
von Andrea Krug

K+S digital

Für Hanan, Liebe meines Lebens, die mich gelehrt hat, dass die Wahrheit wundersamer als Dichtung sein kann – und sehr viel schöner.

 

Und für Ethan und Luca, meine Lieben, mein Leben.

KAPITEL 1

Amman, Jordanien

Eigentlich ging es jetzt darum, sich anzukleiden – die Zeit wurde gefährlich knapp. Reema konnte die letzte Stunde vor Beginn der Verlobungsfeier ihrer Tochter kaum damit zubringen, sich mit Halawani wegen der Torte zu streiten. Der wulstige Streifen aus goldenem Zuckerguss, der langsam die Stofftapete in der großen Eingangshalle herabglitt, bewies eindeutig, dass es ihr eigenes dusseliges Personal war, das die Torte ruiniert hatte – vermutlich Rani, die den filigranen Turm aus weichem Biskuit und spitz zulaufendem Tortenguss eilfertig übernommen hatte und dann unter dem unvermuteten Gewicht gegen die Wand getaumelt war. Woraus backte Halawani seine Torten bloß, dass sie dermaßen schwer wurden? Als ginge es in erster Linie darum, dass das Ding möglichst mächtig und massig war. Vielleicht hätte sie die Torte besser in London bestellt, oder besser noch in Paris. Aber wenn Reema sich selbst gegenüber ehrlich gewesen wäre (was sie ihr Leben lang erfolgreich vermieden hatte, denn eine ehrliche Betrachtung der eigenen Beweggründe schaffte mehr Ärger als zu bewältigen sie die Energie oder Neigung hatte), hätte sie sich eingestanden, dass ihre Tochter das ihrer Meinung nach nicht verdient hatte. Nicht anlässlich ihrer vierten Verlobung. Drei französische Biskuittorten waren bereits geliefert, bewundert und verspeist worden, und dann hatte sie das bittere Aufstoßen zu schmecken bekommen, als die Verlobungen gelöst worden waren. Diesmal jedoch war sie sicher, dass das Verlöbnis halten würde. Diesmal hoffte sie, dass Tala im Alter von achtundzwanzig Jahren und trotz zweier teurer amerikanischer Universitätsabschlüsse endlich die wichtigste Lektion ihres Lebens gelernt hatte: dass die Vorstellung von der großen Liebe nichts als ein romantischer Traum war. Dem Frauen sich allerdings gern hingaben. Reema selbst las gern Liebesromane und sah sich Liebesfilme im Fernsehen an. Aber nicht ohne Grund gehörten Liebe und Leidenschaft in den Bereich der Wunschträume, und diese Lektion zu lernen war eine Aufgabe des Reifens, fand Reema, ein Herauswachsen aus der Hitzköpfigkeit der Jugend. In der vergangenen Woche hatte sie erfreut festgestellt, dass das Gesicht ihrer Tochter eine zufriedene Ruhe zeigte, die unvertraut, aber höchst willkommen war. Und dennoch keimte ein nagendes Gefühl von nervöser Anspannung in Reemas Brust auf. Das Problem mit Tala war, dass sie immer das tat, womit man am wenigsten rechnete. Und wenn sie diese Verlobung wieder ruinierte, wenn auch dieses Verlöbnis nicht hielt, dann wäre es Reemas einziger schwacher Trost, dass sie kein Geld für eine importierte Torte vergeudet hätte.

Tala zuckte kaum zusammen, als sie beobachtete, wie ihre Verlobungstorte gegen die Wand klatschte. Sie stand oben auf dem Treppenabsatz, beugte sich still über das Geländer, ohne dass jemand sie bemerkte, und beobachtete das hektische Treiben unten in der Halle. Mitten in den Partyvorbereitungen stritten ihre Mutter und der Konditor sich über die ruinierte Torte. Tala betrachtete die beiden, ihre Bewegungen und heftigen Gesten, sie vernahm ihre Stimmen, wütend, beschwörend. Dann wandte sie sich um und kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie schloss die Tür, lehnte sich dagegen und stand einen Moment einfach da, als brauche sie etwas, das ihr Halt bot. Ihre Augen glitten zu ihrem Schreibtisch, ihrem Laptop, ihrer Arbeit. Sie setzte sich, um einen Vertrag durchzusehen, der ihr am Morgen geschickt worden war. Das weiche Gleiten des Bleistifts über das steife Papier beruhigte sie ein wenig, bis sie vom Klingeln ihres Handys unterbrochen wurde. Sie nahm das Gespräch entgegen, ohne mit dem Schreiben innezuhalten.

»Wir könnten einfach durchbrennen, weißt du.«

Sie lächelte beim Klang von Hanis Stimme.

»Aber dann würde es dir entgehen, mich aufgebrezelt wie ein Bond-Girl zu sehen«, antwortete sie trocken. Er lachte.

»Bei euch geht’s bestimmt zu wie im Irrenhaus – mit all den Vorbereitungen und so.«

Tala hatte gerade drei Fehler in einem Absatz entdeckt und antwortete nicht schnell genug.

»Tala? Du arbeitest doch nicht etwa? Eine halbe Stunde vor Beginn unserer Verlobungsfeier!«

Tala legte die Papiere auf den Schreibtisch und beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Es ist mein erster Auftrag, Hani. Ich muss zusehen, dass alles klappt. Mein Vater drängt mich jetzt schon, wieder ins Familienunternehmen zurückzukehren.«

»Du wirst das schon hinkriegen«, erwiderte er, und seine Stimme klang ernst und zugewandt. »Ganz sicher. Ich liebe dich, Tala.«

Tala lächelte. »Ich dich auch, Hani. Ich dich auch.«

Nach dem Ende des Telefonats wandte sie sich nicht gleich wieder ihrer Arbeit zu, sondern saß einen Augenblick still da – eine dieser kleinen Pausen, die sie sich in ihrem Tagesablauf nur selten erlaubte. Von draußen aus dem Garten drang Musik zu ihr herauf – die Band testete Mikrofone und Lautsprecher. Tala schloss die Augen und runzelte die Stirn. Sie versuchte das Lied zu erkennen, das gesungen wurde. Liebeskummer und Trauer schienen in der weichen, geschmeidigen Frauenstimme zu liegen, deren reiches Volumen die Töne wie warmer Sirup umschmeichelte. Die Verzierungen, die Modulation, das kurze Innehalten wie das Aussetzen eines Herzschlags, wenn die Stimme sich hob oder senkte, waren östlich geprägt, unverkennbar arabisch. Doch die Stimme wurde vom Flamenco-Rhythmus einer Gitarre getragen und in die Höhe begleitet vom eindringlichen schmerzlichen Klang zweier Geigen. Tala lauschte noch einen Moment, bis die Band ihre Probe unvermittelt abbrach; dann konzentrierte sie sich wieder voll und ganz auf das Vertragswerk.

Reema warf einen Blick auf die Küchenuhr. Seit einer Viertelstunde versuchte sie nun schon, Halawani dazu zu bewegen, die Torte wieder mitzunehmen und auszubessern, was er standhaft verweigerte, weil sie das als ein Schuldeingeständnis seinerseits hätte deuten können (was sie natürlich auch getan hätte). Sie machte auf ihrem samtbezogenen Absatz kehrt, ließ die gegenseitigen Schuldzuweisungen, die zwischen Konditor und Personal hin- und herflogen, hinter sich – ganz zu schweigen von dem nervtötenden Kreischen der Mikrofone, die draußen getestet wurden, und dem irritierenden Anblick ihres hochnervösen Mannes, der zusah, wie zweihundert Gedecke aus Silber und steifem Leinen überprüft wurden – und schritt über die schweren Platten aus reinem Marmor, mit denen das Erdgeschoss des Hauses ausgelegt war und dessen Struktur an die von zarten Adern durchzogene makellose Haut einer Frau erinnerte. Bedachtsam betrat sie die breitgeschwungene Treppe und schritt hinauf, als verlasse sie einen Raum mit hundert Bewunderern. Es war eine ihrer kleinen Vergnügungen, dieses Hinaufschreiten der Treppe, die solch ein Prachtstück war, solch eine Theaterbühne, die sich hoch über den weiträumigen Wohnbereich emporschwang. Oben angekommen, wandte sie sich nach links (im rechten Flügel befanden sich die Räume ihrer Töchter) und durchquerte den breiten Flur bis zu ihrem Schlafzimmer. Das Bett war von gigantischem Ausmaß, dekoriert mit einer erlesenen Auswahl an Kissen aus Samt und Seide. Ihr gefiel die romantische Anmutung, die in der handbemalten Tapete, den blumig-duftigen Vorhängen und dem satten Rosa der Sofas, die den Sitzbereich bildeten, ihren Ausdruck fand. In Anbetracht der Zeit ging Reema schnurstracks in ihr Ankleidezimmer hinüber, wo sie das langersehnte Vergnügen einer starken Zigarette erwartete.

Rani, ihre indische Haushälterin, stand mitten im Zimmer und hielt zwei glitzernde Abendkleider in die Höhe – mit ausgestreckten Armen, damit die Säume nicht den Teppich berührten. Ihr Bemühen war nicht wirklich von Erfolg gekrönt, weil sie einen guten Kopf kleiner war als Reema.

Reema hielt inne und ließ den Blick konzentriert erst über das eine, dann über das andere Kleid gleiten. Sie wies mit dem Finger: »Das!«

»Jawohl, Madam.« Erleichtert legte Rani die Kleider hin. Ihr taten schon die Arme weh.

»Wo ist mein Kaffee?«

»Kommt sofort, Madam.«

Reema ließ sich auf den weichgepolsterten samtbezogenen Stuhl vor dem hohen dreiteiligen Spiegel sinken. Sie steckte die Zigarette in eine schlanke schwarze Spitze, zündete sie mit einem Alabaster-Feuerzeug an und lehnte sich zurück. Ihr Gesicht war nicht schlecht, fand sie. Nicht für eine dreifache Mutter von vierundfünfzig Jahren. Sie stieß eine Wolke Zigarettenrauch aus. Sie war sich bewusst, dass das fortwährende Rauchen die Falten um Augen und Mund vertiefte, aber es war nicht so schlimm wie bei den anderen Frauen in ihrer Bridge-Gruppe (außer bei Dina, aber alle wussten, dass dieser brasilianische Schönheitschirurg praktisch auf ihrer Gehaltsliste stand).

Rani kehrte mit einer Kanne arabischen Kaffees und einer kleinen silbernen Tasse zurück. Sie stellte beides auf dem Tisch hinter Reema ab, schenkte eine Tasse der dampfenden dunklen Flüssigkeit ein und, mit einem Seitenblick auf die ahnungslose Reema, spuckte leise hinein.

»Ihr Kaffee, Madam.« Rani durchquerte das Zimmer und bot Reema höflich die Tasse an. Sie beobachtete eifrig, wie Reema die Tasse an die Lippen hob, aber nur um zu pusten.

»Wo ist mein Mann?«

»Im Garten, Madam.«

»Hat Tala in das Kleid hineingepasst?«, fragte Reema. »Beim Lunch wollte sie gar nicht aufhören zu essen.«

»Es saß wie angegossen, Madam.« Rani sah zu, wie die Kaffeetasse sachte geschwenkt wurde, damit der Kaffee ein wenig abkühlte. Lass sie trinken, betete sie. Lass sie ihn trinken.

»Lamia – hast du ihr Kleid enger gemacht?«

Rani nickte. »Um zwei Zentimeter, Madam.«

Zufrieden hob Reema die Tasse, um zu trinken, aber dann fiel ihr ihre jüngste Tochter ein. Rani trat von einem Fuß auf den anderen.

»Hat Zina das goldene Kleid gefallen, das ich für sie ausgesucht habe?« Die Tasse berührte Reemas Lippen, neigte sich für den ersten Schluck.

»Sie fand es großartig, Madam.« Ranis ausgesucht sanfter Tonfall sollte den Sarkasmus in ihrer Stimme kaschieren, aber er veranlasste Reema, die Tasse sinken zu lassen und ihrer Haushälterin einen misstrauischen Blick zuzuwerfen. Rani lächelte strahlend, ermutigend, aber es war zu spät. Reema gab ihr den unangerührten Kaffee zurück und begann ihr Make-up aufzulegen.

In dem Augenblick, als Zina die Verlobungstorte ihrer Schwester erblickte, verspürte sie den wilden Drang, Jordanien zu verlassen und nach New York zurückzukehren. Die quälende Rastlosigkeit ihrer Glieder, das impulsive Verlangen, sich umzudrehen und kühl und ruhig durch das stille Haus zu schreiten und hinaus durch die riesige Flügeltür, war fast überwältigend. Sie sah sich draußen, sah sich gehen, immer weiter, ihre Schritte fanden einen gleichmäßigen Rhythmus, als sie ihren Weg über die gewundene Privatstraße nahm, die den Privathügel hinabführte und in die dunkle Umgebung der jordanischen Landschaft. Zu ihrer Rechten würde sie die Lichter von Amman sehen, die aus der Ferne verführerisch winkten; sie würde den Blick heben und die verblüffend weiße Reinheit der Sterne sehen, die in den ebenholzschwarzen Himmel gestanzt waren, bewacht von einem sichelscharfen Wüstenmond.

Zina setzte sich in ihrem Bett auf. Sie war genervt von sich selbst, weil sie am liebsten vor Talas Party geflüchtet wäre, und vor allem war sie genervt von der Torte. Bis zu dem Moment, als sie die Gardinen aufgezogen und gesehen hatte, wie das kitschige Monstrum durch den Garten hereingebracht wurde, hatte sie sich erfolgreich eingeredet, dass sie froh war, zu Hause zu sein. Ihre scheinbare Zufriedenheit ging auf ihre eigenen Kosten und basierte auf grundlegender psychologischer Trickserei. Sie wusste, dass sie geschickt darin war, eine romantische Nostalgie für Dinge wie Jasminbäume, den Duft geräucherter Auberginen, ja selbst die alternden Gesichter ihrer Eltern zu entwickeln. Aber das war eine Ausgeburt ihrer Phantasie, eine ausgeklügelte Struktur, die ihr half, einen Abend an diesem Ort zu überstehen, eine Woche, einen Monat, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Goldener Zuckerguss! Wer in Gottes Namen war auf goldenen Zuckerguss gekommen? Die Torte sah aus, als wäre sie aus Metall – als hätte man sie mit Autolack eingesprüht, und sie verkörperte alles, was Zina am Nahen Osten hasste. Ihr protziges, künstliches Aussehen, ihr vermutlich giftiger Geschmack.

Und dann die Sache mit dem Kleid. Über das Fußende des Bettes war ein scheußliches goldenes Ding drapiert. An die Schulter des Kleides war eines der steifen goldgeränderten Notizkärtchen ihrer Mutter geheftet. In Reemas blumiger Handschrift standen darauf die Worte: »Kein Schwarz! Es ist ein Verlöbnis, kein Begräbnis. Mama.« Sie konnte sich gut vorstellen, wie ihre Mutter sich noch stundenlang selbst beglückwünschte, nachdem sie diese lustige Botschaft ersonnen hatte. Erbost riss Zina die Nachricht ab und warf sie in den Papierkorb. Während sie das Kleid gramerfüllt betrachtete, wurde ihr klar (und nicht zum ersten Mal), dass ihre Mutter sie offenkundig hasste. Eine Träne des Selbstmitleids erschien in Zinas Augenwinkel, als sie noch etwas viel Gravierenderes feststellte: nämlich dass ihr Kleid offenbar passend zur Verlobungstorte ausgesucht worden war. Der Schnappschuss einer früheren Verlobungstorte, eine smaragdgrüne spiralförmige Kreation – war es Talas erste gewesen? –, schoss ihr durch den Sinn und daneben ihre Mutter, ein wenig jünger, in einem leuchtend grünen Kleid von Yves Saint Laurent und mit passendem Lidschatten, was damals, in dem generell überladenen Stil jener Zeit, gar nicht so unelegant gewirkt hatte.

Sie holte tief Luft und versuchte die leichte Übelkeit, die sie plötzlich überkam, zu verscheuchen. Sie unternahm eine bewusste Anstrengung, sich nicht an die anderen Torten zu erinnern, an die anderen Partys, die gelösten Verlöbnisse, die verzweifelten Verlobten, die zerstrittenen Familien. In einer knappen Woche würde sie wieder an ihrer Universität in New York sein und einen guten Monat Zeit haben, sich zu erholen, bevor sie zur Hochzeit würde zurückkehren müssen. Inzwischen begann sie in Gedanken all die Dinge aufzuzählen, die ihr helfen würden, den Abend zu überstehen, ohne sarkastisch zu werden oder in mürrisches Schweigen zu versinken. Ganz oben auf der Liste stand das Wissen, dass sie nicht einen Bissen dieser Verlobungstorte würde essen müssen. Wenn das Unglück brachte, sei’s drum. Sie hatte drei Mal zuvor von der Verlobungstorte gegessen, und nicht eines der Verlöbnisse hatte gehalten. Doch einen Augenblick später kam ihr der Gedanke, dass das vielleicht Glück gewesen war. Sie lächelte leicht und ging ins Bad.

»Sind das sieben Millimeter?«

Lamia wartete hinter den breiten Schultern ihres Gatten darauf, selbst einen Blick in den Spiegel werfen zu können. Nun trat sie vor und sah auf das Lineal, das er benutzte, um zu messen, wie weit sein Einstecktuch aus der Brusttasche seines Smokings herausschaute. Sie nickte. Kareem ließ das Lineal sinken und wandte sich zufrieden ab.

»Ich hoffe bloß, dass dies die letzte Verlobungsfeier ist, die dein Vater für deine Schwester ausrichten muss.«

Lamia versuchte angestrengt, sich auf ihr Abbild in dem blankpolierten Spiegel zu konzentrieren. Sie zupfte ihre Halskette zurecht und registrierte zufrieden, wie diese das elegante Saphirblau ihres Abendkleides unterstrich. Doch Kareem machte sich an seinen tadellos aufgeräumten Schrankfächern zu schaffen; er überprüfte, ob die Spitzen der Krawatten auch wirklich eine Linie bildeten, malträtierte die perfekt ausgerichteten Reihen seiner Socken, malträtierte sie.

»Der arme Mann«, sagte er und schnalzte mit der Zunge.

»Ihm macht das nichts aus«, entgegnete Lamia.

»Natürlich macht es ihm was aus. Er ist nur großherzig genug, es nicht zu zeigen. Aber dass ein Mann seines Standes eine derartige Beschämung …«

Lamia schloss einen Moment die Lider, um die Stimme ihres Mannes auszublenden. Dann öffnete sie die Augen wieder und warf ihrem Spiegelbild ein knappes Lächeln zu, bevor sie sich an Kareem wandte.

»Wie sehe ich aus?«, fragte sie.

Kareems langbewimperte Augen glitten über ihre Gestalt, und einen genussvollen Moment lang war Lamia sich ihrer Schönheit bewusst.

»Du könntest deine Schultern ein wenig mehr bedecken.«

Sie sah an sich herab. »Mir ist nicht kalt.«

»Es schickt sich nicht.«

Die Musik, in die sich das Geplauder der ersten Gäste mischte, verfolgte Tala, als sie in den Garten hinunterging, der an diesem Abend mit Hunderten von Lampions und Laternen geschmückt war. Sie warfen einen weiten Lichtkreis auf die mit gestärktem Leinen gedeckten Tische und die offenen Festzelte. Jenseits des Lichtzirkels erstreckten sich saftige Rasenflächen (Reema hatte auf der Installation eines komplizierten, horrend kostspieligen hochmodernen Bewässerungssystems bestanden, um die erbarmungslos hereindrängende Wüste ein für allemal zu besiegen) mit hie und da gezielt platzierten Springbrunnen, Pfaden und der einen oder anderen antiken Skulptur, die dem Anlass entsprechend illuminiert war. Tala hielt sich im Schatten und sah sich um. Sanft schimmerndes Kerzenlicht, Musik, die das Crescendo und Descendo plaudernder Stimmen wellenförmig umspülte, exquisite Abendkleider aus eleganten Stoffen an langen schmalen Körpern und Geschmeide, die auf sonnengebräunter olivfarbener Haut funkelten. Butler und Kellnerinnen in gestärktem Weiß und raschelndem Schwarz, die sich geschäftig unter den farbenprächtigen Frauen und festlich gekleideten Männern bewegten. Tala wusste, dass ihre Eltern sich selbst übertroffen hatten. Sie war überrascht gewesen, dass sie – in Anbetracht ihrer fragwürdigen Vorgeschichte – auch diesmal eine Party vorgeschlagen hatten, aber dann hatte sie ziemlich schnell begriffen, dass ihre Mutter vorhatte, diese vierte und letzte Verlobung zu benutzen, um die verbliebene Schande, die Blamage der anderen drei vergessen zu machen. Reema hatte ein Fest organisiert, das die Unterstützung, die ihre älteste Tochter von ihrer Familie erhielt, geradezu hinausposaunte, damit auch ja niemand übersah, dass dieser letzte Bräutigam die drei vorherigen wohlhabenden Erben, denen Tala zuvor versprochen worden war, noch weit übertraf, denn Hani war attraktiv und gewandt und zudem Palästinenser, Christ und reich. Tala hielt sich weiterhin am Rande der Party und wartete noch ab, bevor sie sich zu den Gästen gesellte, um zu plaudern und zu tanzen. Sie schaute sich um und kniff die Augen leicht zusammen, so dass das tiefe flüssige Blau des Himmels, an dem der scharfsichelige Mond und die kalt blinkenden Sterne hingen, am unteren Rand vom Flackern der Kerzen gesäumt wurde.

Onkel Ramzi entdeckte Tala als Erster und zog seine Nichte in einen kleinen Kreis von Gästen. Die Frauen küssten sie und kommentierten die schlichten klaren Linien ihres Kleides auf eine so exaltierte Weise, dass Tala begriff, dass es ihnen nicht gefiel. Die Männer beglückwünschten sie grinsend. Die jungen hatten sorgfältig zurückgegeltes Haar und hielten, wie ihre Väter, Whiskeygläser in der Hand. Ihr Onkel rauchte bereits eine Montechristo-Zigarre, die aussah wie ein kleiner Torpedo. Tala umarmte ihn.

»Ammo Ramzi! Du hast es geschafft, in ein Flugzeug zu steigen!«

Onkel Ramzi wich entsetzt zurück. »In ein Flugzeug? Du weißt doch, dass ich keinen Fuß in ein Flugzeug setze. Nicht nach dem Traum, den ich hatte.« Seine große Hand zeichnete einen Flugzeugabsturz nach. Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Dieser Absturz! Diese Verheerung!«

»Ammo, den Traum hattest du 1967!«

»Gleich nach dem Sechs-Tage-Krieg«, bestätigte Ramzi. »Israel hat sich für eine Menge zu verantworten.« Bestätigendes Gemurmel ringsum, während Ramzi Tala versicherte, dass er ihre Verlobungsparty um nichts in der Welt hätte versäumen mögen.

»Ich möchte den Mann kennenlernen, der es so weit gebracht hat – wieder einmal.«

Gelächter erscholl. Tala sah in die Runde und registrierte die nervöse Erwartung, die in den verklingenden Stimmen lag. Als sie ihre Verlobung das letzte Mal hatte platzen lassen, war das noch während der Feier selbst geschehen – die beleidigende, chauvinistische Großmäuligkeit, die ihr Verlobter in Gegenwart ihrer Familie, ihrer Freundinnen und Freunde an den Tag legte, hatte sie auf die Palme getrieben, bis sie die Beherrschung verlor. Trotz des Impulses, die aufdringliche Neugier mit einem Scherz von sich zu wischen, fühlte Tala sich plötzlich verloren. Instinktiv sah sie zu ihrem Vater hinüber, suchte seine stille Unterstützung, aber er war gegangen – er konnte ja nie lange stillstehen – und wies mehrere befrackte Kellner an, die Heizpilze, die um die perfekt gedeckten Tische standen, umzustellen. Der Abend war kühl, nach einem gnadenlos heißen Tag, und die unablässige Brise würde immer kälter werden, je weiter die Nacht voranschritt. Am fernen Rand des sie umringenden Kreises erblickte sie ihre jüngste Schwester. Zinas Augen waren auf sie geheftet, und hinter ihrem ernsten Ausdruck blitzte Amüsement auf. Tala gewann ihr Gleichgewicht zurück und wandte sich wieder ihrem Onkel zu.

»Ich liebe ihn, Ammo.«

»Natürlich liebst du ihn. Er ist Christ und er ist reich.«

»Er ist nett und ehrlich und modern eingestellt. Und attraktiv«, fügte sie hinzu, um die Respektlosigkeit, die in ihrem Ton gelegen hatte, abzumildern. Ihr Onkel lächelte und beugte sich vor, um vom Tablett eines Kellners ein Glas Champagner zu nehmen. Tala registrierte, dass Ramzis Augen währenddessen anerkennend auf der Gestalt des Mannes ruhten.

»Attraktiv ist gut, meine Liebe. Aber frag deine Tante, warum sie mich geheiratet hat. Aussehen und Charakter kommen und gehen. Nur Riesensummen Geld überdauern alles.«

Von den Männern erntete er schallendes Gelächter, gespielte Missbilligung hingegen von den Frauen, von denen die meisten, wie Tala wusste, mehr des Geldes als der Liebe wegen geheiratet hatten.

»Scheint so«, erwiderte Tala, und sie waren unsicher, was diese Antwort zu bedeuten hatte, und weil sie unsicher waren, verstanden sie sie – richtigerweise – als Beleidigung, obwohl es sich niemand anmerken ließ. Nach außen hin lachten sie, und insgeheim gratulierten sie sich, dass ihre eigenen Kinder nicht wie Reemas und Omars durch zu viel Bildung zu Klugscheißern geworden waren.

Nachdem sie ihre Pflicht ihrem Onkel gegenüber erfüllt hatte, entschuldigte Tala sich und gesellte sich zu Zina.

»Du siehst phantastisch aus, habibti«, sagte ihre jüngste Schwester.

»Danke. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von dir sagen«, erwiderte Tala und ließ die Augen über das goldene Kleid ihrer Schwester gleiten. Zina sah kläglich an sich hinunter.

»Weißt du, ich glaube, ich habe die Massenvernichtungswaffen gefunden, nach denen die Amerikaner gesucht haben. Wie clever, sie als Mama und Lamia zu tarnen. Ich wünschte, du wärst früher aus London hergekommen«, fügte Zina hinzu. »Wer bringt es fertig, erst am Vorabend der eigenen Verlobung einzutreffen?«

»Ich habe gearbeitet, Zina«, gestand Tala ein.

Zina drückte ihr verständnisvoll und aufmunternd die Hand. Sie fühlte sich besser, ruhiger, nach diesem vertrauten Austausch mit Tala. Es gab Zeiten, da bedauerte Zina, dass sie und Tala seit fünfzehn Jahren in verschiedenen Ländern lebten. Während Tala ein Internat in der Schweiz besucht hatte, war Zina noch daheim in Amman bei ihren Eltern. Als sie Tala und Lamia auf das Internat gefolgt war, gingen ihre beiden Schwestern bereits zur Universität. Vielleicht hatte sie sich in der vergangenen Woche der falschen Art Nostalgie überlassen.

»Bist du aufgeregt wegen der Hochzeit?«, fragte Zina.

Tala warf ihr einen sarkastischen Blick zu. »Blumenarrangements, Menüplanung und Serviettenringe? Ich kann’s kaum erwarten.«

Zina lächelte. »Warum heiratest du dann?« In ihren Augen und in ihrem Ton lag nur eine Spur Amüsement.

»Was bleibt Hani und mir übrig? Einfach so zusammenleben?«

»Die Zeiten haben sich geändert.«

»Nicht in Amman. Du bist schon zu lange in den Staaten. Die sechs Monate, die ich mit Hani zusammen bin, sind die längste Zeit, die ich ohne Ring je mit jemandem liiert war.«

Zina überlegte einen Moment. »Ich finde, du solltest neue Wege beschreiten.«

»Damit du und Lamia es leichter habt?«, lachte Tala.

»Lamia?« Zina schnaubte. »Sie wirft uns alle um hundert Jahre zurück.«

Unwillkürlich sahen beide zu ihrer Schwester hinüber. Lamia bemerkte es und gesellte sich zu ihnen. Sie wandte sich an Tala. »Mama sagt, du sollst dich um deine Gäste kümmern.«

Zina lachte. »Ja, Tala. Inzwischen sollte dir die Etikette einer Verlobungsfeier wirklich vertraut sein.«

»Das ist nicht witzig«, bemerkte Lamia.

Zina betrachtete Lamia mit all dem Ärger, der sich in ihr angestaut hatte, seit ihre Schwester sie gezwungen hatte, dieses grässliche Kleid anzuziehen. »Ist es wohl, wenn man einen Funken Humor besitzt.«

Tala seufzte. Vor ihnen schimmerte der Swimmingpool mit seiner Unterwasserbeleuchtung, der mit einem zarten verschlungenen Muster ausgelegt war. Jenseits des Pools leuchteten die weißgedeckten Tische auf der Rasenfläche, und weiter hinten standen die üppig-wilden Jasminbäume mit ihren weißen Blüten Wache und erfüllten die Luft mit süßem Duft.

»Hani ist da!«, rief Lamia.

Sie folgten Lamias Blick. Aus dieser Entfernung war Hani in der Gruppe von Verwandten, die ihn begleiteten, erst kaum auszumachen, denn sein Frack und seine Frisur unterschieden sich nicht von denen der anderen. Er schien ganz entspannt, als die Männer ihm bei seiner Ankunft auf den Rücken klopften, ihm die Schulter drückten und ihm laut gratulierten. Aber Tala sah, dass er immer wieder den Blick schweifen ließ, und sie wusste, dass er nach ihr Ausschau hielt. Als seine Augen schließlich ihren begegneten, gewann sie unter seinem ruhigen festen Blick ihre innere Sicherheit zurück.

»Gott, hast du ein Glück, Tala«, bemerkte Zina.

»Ich weiß.«

Sie ging Hani entgegen; glücklich atmete sie seinen vertrauten Geruch ein, schmiegte sich in seine Arme und vergaß die Zeit. Erst der vereinzelte Applaus unter den Gästen holte sie verlegen in die Wirklichkeit zurück.

»Hast du schon etwas zu trinken?«, fragte Hani sie, ohne ihre Hand loszulassen. Tala schüttelte den Kopf, und er nahm zwei Gläser vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners.

»Hier«, sagte er lächelnd. »Auf dich und mich! Auf uns, Tala!«

Sie stieß mit ihm an. »Auf uns, Hani!« Tala griff wieder nach seiner Hand und wandte sich der jungen Sängerin zu, die jetzt ihren Auftritt hatte. Sie stand auf einem Podium jenseits des Pools, weit genug entfernt von den Partygästen, um wie ein einsamer Engel zu erscheinen, der seine Botschaft vergeblich verkündete. Tala lauschte und nahm nur noch die Musik wahr, das Pochen des Blutes in ihren Ohren und ihr Herz, das sie in dem Augenblick als etwas Großes, Lebendiges in ihrer Brust spürte und das von einem Gefühl überquoll, von dem sie nicht hätte sagen können, ob es Glück oder Kummer war.

KAPITEL 2

London

Es war halb fünf am Freitagnachmittag – jene hochgeschätzten heiligen Minuten in einem ruhigen englischen Büro am Rande der Stadt, in denen das Wochenende schließlich fast da und die Vorfreude angenehm und nicht länger schmerzlich ist. Leyla freute sich unbändig auf die beiden freien Tage – nicht weil sie konkrete Pläne hatte, sondern wegen der Aussicht, ihrem Büro mit seinen regenfleckigen Fenstern und dem grellen Licht der drei Neonröhren zu entfliehen. Der tiefhängende Himmel von Surrey passte zu dem gnadenlosen Beige der Wände, das auch die Fotos und Bilder, die sie vor langer Zeit schon aufgehängt hatte, nicht mildern konnten. Sie trank einen Schluck des allmählich kalten Tees und öffnete ihr Notebook. Ein Satz war ihr in den Sinn gekommen, als sie von den summenden Neonröhren zu dem stählernen Himmel geblickt hatte, und sie wollte ihn niederschreiben, ehe er ihr verlorenging. Was sie auch tat, und dann befasste sie sich einen Augenblick damit, die Tabelle zu schließen, an der sie gearbeitet hatte, bevor sie sich gestattete, den Satz noch einmal zu lesen. Sie nickte leicht und zufrieden. Ein Gutes hatte es, wenn man den ganzen Tag mit Zahlen zu tun hatte – abends konnte sie sich kaum retten vor all den Worten, die darauf drängten, aus ihr herauszuströmen. In den letzten sechs Monaten hatte sie ihren ersten Roman so gut wie abgeschlossen, und zu ihrer eigenen Überraschung war sie zufrieden mit dem, was dabei herausgekommen war. Anfangs war sie fast erschrocken über die Anmaßung, die es bedeutete, die Wortgebilde, die in ihrem Kopf herumspukten, zu Papier zu bringen, und sie verbot sich die verlockende Vorstellung, diese gestohlenen Stunden des Schreibens, diese kurzen Zeitspannen jenseits der geregelten gleichförmigen Welt um sie herum, könnten eines Tages ihr ganzes Leben ausfüllen.

»Machst du heute früher Feierabend?«, fragte ihr Vater und grinste. Es war mehr als eine Stunde später, und er hatte sie erwischt, als sie versucht hatte, still und leise den offenen Parkplatz zu überqueren, den er von seinem Fenster aus überblicken konnte. Ihm machte es nichts aus, dass seine Aussicht Tag für Tag aus zwei Mercedes-Limousinen, einem Volvo, einem Toyota und zwei Ford Fiestas bestand – er mochte den Anblick des Kommens und Gehens. Leyla seufzte, als sie – der Freiheit, die der Freitagabend mit sich brachte, so nah – das vertraute unmissverständliche Klopfen ans Fenster vernahm und sich gezwungen sah, kehrtzumachen und zu ihm zurückzugehen.

»Von früh kann wohl keine Rede sein«, antwortete sie mit einem raschen Lächeln. »Es ist sechs Uhr. Das heißt, dass ich eine Überstunde bei dir gut habe.«

Sam lachte. Sein Büro war groß, mit einem eindrucksvollen Konferenztisch – perfekt für Vorstandssitzungen, jedoch nie benutzt, denn es gab keinen Vorstand, dem Bericht zu erstatten gewesen wäre – und einem fleckigen Mahagonischreibtisch, der ausladend genug für Sams große mächtige Gestalt war. Er lehnte sich in seinem breiten Ledersessel zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sagte mit kalkulierter Lässigkeit: »Du weißt ja – eines Tages wird das alles dir und Yasmin gehören.«

Es war eine vertraute Eröffnung, und sie lächelte, obwohl sich schlagartig ein ungutes Gefühl in ihrem Bauch breitmachte.

»Aber ohne Umsatz wird es nicht gehen«, fuhr er fort.

»Du weißt, dass ich keine gute Verkäuferin bin, Dad«, hob sie an, aber sie war zu zaghaft, ihr Ton zu halbherzig. Sie hasste es, Dinge zu sagen, die ihn enttäuschten, und das führte dazu, dass sie ihm nicht einmal die Einsicht verkaufen konnte, dass sie keine gute Verkäuferin war.

»Lebensversicherungen muss man nicht verkaufen«, versuchte er sie zu beschwichtigen.

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte sie. »Sie verkaufen sich von allein.«

»Genau.« Er lächelte und wies mit dem Finger auf sie. Er war charmant, das musste sie zugeben.

»Lebensversicherungen sind eine sichere Sache«, fuhr er fort. »Wir alle wissen, dass wir eines Tages sterben müssen.«

Sie stellte ihr Notebook und ihre Aktentasche auf den Boden und legte ihren Mantel darüber. Sie hatte die Sachen wie eine Art Talisman an sich gedrückt in der Hoffnung, dies möge ihm suggerieren, dass sie es eilig hatte, nach Hause zu kommen. Aber es führte kein Weg daran vorbei – ein langer Tag hinter dem Schreibtisch, befasst mit dem Papierkram, den er verabscheute, und er lechzte nach menschlichem Austausch, nach Publikum. Voller Erleichterung rief sie sich in Erinnerung, dass sie einen unfehlbaren Ausweg kannte, aber ihr Vater war so froh und glücklich, dass sie es noch nicht über sich brachte, ihren Trumpf auszuspielen.

»Glaubst du, mir macht das Verkaufen Spaß? Dann lass dir eines gesagt sein: Es macht mir keinen Spaß!«

Das war die schamloseste Lüge, die sie je gehört hatte. Er liebte das Verkaufen. Er verkaufte für sein Leben gern, und er machte es großartig. Er verkaufte die ganze Zeit, sogar zu Hause. Er hatte einen Heidenspaß daran, sie und ihre Schwester zu fragen, ob sie ihr Chicken Curry mit Chapattis oder Reis wollten – und sorgte auf diese Weise dafür, dass sie das Curry an sich ohne zu murren akzeptierten. Das sei das Gesetz der begrenzten Wahlmöglichkeiten, erklärte er. Frag einen potentiellen Kunden niemals, ob du ihn besuchen darfst – frag ihn, um welche Zeit es ihm am besten passen würde. Die Psychologie dieser Vorgehensweise war interessant, aber die wenigen Male, die sie diese Strategie ausprobiert hatte, hatte sie nicht funktioniert – nicht einmal als sie versucht hatte, den unzuverlässigen Reparaturdienst für den Fotokopierer festzunageln. »Würde Ihnen heute Vormittag oder heute Nachmittag besser passen?«, hatte sie forsch gefragt und zu hören bekommen, dass der nächstmögliche Termin am folgenden Donnerstag sei. Sie war überzeugt, dass die richtige Kundenansprache erst die halbe Miete war; man musste außerdem über einen unermesslichen Vorrat an Entschlossenheit, Selbstvertrauen und Chuzpe verfügen. Mit einem Mal war sie von Bewunderung für ihren Vater erfüllt – sie bewunderte seine leidenschaftliche Energie fürs Geschäft, seinen unerschöpflichen Einfallsreichtum, wenn es um das Ersinnen neuer Verkaufstechniken ging, und wie er es schaffte, sich die Begeisterung zu bewahren und dabei außerordentlich erfolgreich zu sein.

»Ich verkaufe gar nichts«, wiederholte er. »Ich frage den Kunden nur, ob er sterben wird. Darauf gibt es nur eine Antwort. Dann frage ich ihn, ob er hundertfünfzigprozentig überzeugt ist, dass seine Frau und seine Kinder so versorgt sein werden, wie er sie versorgt sehen möchte, und zwar für den Rest ihres Lebens.« Er machte eine Pause, um die dramatische Spannung zu steigern. »Und weißt du was? Sie zögern immer. Und dann«, fuhr er fort und hieb seine große Faust in die geräumige Innenfläche der anderen Hand, »dann hast du sie.«

Sie räusperte sich. Es klang in der Tat nicht so schwierig. Nur zwei Fragen – es war klar, dass man die erste nicht verneinen konnte, und die zweite war genau so unfehlbar. Sie stellte sich vor, wie sie vor einem potentiellen Kunden saß, möglicherweise der Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes aus dem Umland, der wiederum ein Kunde ihres Vaters gewesen war. Sie würden im Wohnzimmer sitzen, vor ihnen zwei Tassen Tee. Sie würden ein bisschen Konversation machen (auch etwas, worin sie nicht gut war). Und dann kam ihr Einsatz. Sie versuchte es sich vorzustellen, aber alles, was sie vor ihrem geistigen Auge sah, war das schockierte Gesicht ihres Kunden, als sie ihm voller Überzeugung sagte, dass er unwiderruflich sterben würde. Sie malte ihn sich aus: erschrocken, verärgert, unglücklich. Sie versuchte zum nächsten Punkt zu kommen, zum Kern, dem Teil mit seiner Frau und seinen Kindern und ihrer Versorgung, aber es gelang ihr nicht. Ihr Kopf war leer, vollkommen leer, komplett leer, und das plüschige Wohnzimmer löste sich auf, und zurück blieb bloß eine Reihe von Worthülsen. Dankbar wurde ihr bewusst, dass sie soeben, ohne danach zu suchen, den ersten Satz für ihr nächstes Kapitel gefunden hatte. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Notebook zu ihren Füßen und sah dann wieder ihren Vater an.

»Vielleicht kann ich mich um die administrative Seite des Geschäfts kümmern«, schlug sie vor. »So wie jetzt.«

»Administration ist sinnlos«, erwiderte er, »wenn es keinen Umsatz gibt. Umsatz bringt Geld.«