cover

FRAUEN IM SINN

 

logo

Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

Sarah Waters

Die Muschelöffnerin

Roman

 

 

Aus dem Englischen
von Susanne Amrain

K+S digital

TEIL I

KAPITEL 1

Haben Sie jemals eine Whitstable-Auster gekostet? Wenn ja, erinnern Sie sich bestimmt daran. Irgendeine Eigenheit der Küste von Kent macht die »Echten Whitstables« – so heißen sie richtig – zu den größten und saftigsten, den aromareichsten und doch mildesten Austern von ganz England. Whitstable-Austern sind zu Recht berühmt. Die Franzosen, die ja für ihren feinen Gaumen bekannt sind, überqueren regelmäßig den Kanal, um sie zu essen; die Muscheln werden, in Fässer mit Eis verpackt, an die herrschaftlichen Tafeln von Hamburg und Berlin geliefert. Ja sogar der König, habe ich gehört, reist mit Mrs. Keppel, seiner Geliebten, hie und da eigens nach Whitstable, um in einem Privathotel Austern zu essen, und was die alte Queen Victoria angeht, die aß jeden Abend eine »Echte«, sogar noch an ihrem Todestag, heißt es.

Sind Sie jemals in Whitstable gewesen und haben die Austernrestaurants gesehen? Mein Vater hatte eines; ich bin da geboren. Erinnern Sie sich an ein schmales Haus mit Wetterschindeln, blau gestrichen, die Farbe blätterte ein bisschen ab, und es lag zwischen der High Street und dem Hafen? Sehen Sie das gewölbte Schild noch vor sich, das über der Tür hing und besagte, dass man hier Astley’s Austern, die besten in ganz Kent bekäme? Haben Sie vielleicht die Tür aufgestoßen und sind in den halbdunklen, köstlich riechenden Raum mit der niedrigen Decke getreten? Erinnern Sie sich an die Tische mit den rotkarierten Decken, die mit Kreide geschriebene Speisekarte auf der schwarzen Tafel, die Spirituslampen, die schwitzenden Butterklumpen?

Wurden Sie von einem Mädchen mit rosigen Wangen und einer kessen Art und Locken bedient? Das war meine Schwester Alice. Oder war es ein Mann, ziemlich groß und gebeugt, in einer schneeweißen Schürze, die vom Knoten seines Halstuchs bis fast auf die Stiefelspitzen reichte? Das war mein Vater. Und haben Sie, wenn die Küchentür auf und zu schwang, eine Frau gesehen, die konzentriert in die Dampfwolken blickte, welche aus einem Topf mit kochender Austernsuppe aufstiegen oder von einem zischenden Grill? Das war meine Mutter.

Und stand neben ihr vielleicht ein schmales, nicht weiter bemerkenswertes Mädchen mit sehr blassem Gesicht, das die Ärmel ihres Kleides bis zu den Ellbogen aufgerollt hatte, und immerzu fiel ihr eine Strähne ihres glatten, farblosen Haares in die Augen, und ihre Lippen bewegten sich unablässig zu den Worten eines Straßensänger- oder Music-Hall-Liedes?

Das war ich.

Wie Molly Malone in der alten Ballade war auch ich eine Fischhändlerstochter. Meinen Eltern gehörte das Restaurant und die Wohnung darüber. Ich wurde als Austernmädchen und Muschelöffnerin aufgezogen und mit allen Wassern dieses Handwerks gewaschen. Meine ersten Schritte machte ich um Wannen mit schlafenden »Echten« und eisgefüllte Fässer herum; noch ehe ich Griffel und Schiefertafel bekam, drückte man mir ein Austernmesser in die Hand und brachte mir bei, damit umzugehen. Als ich noch stockend mein Alphabet übte, konnte ich schon alle Gegenstände in einer Austernküche hersagen, Fische mit verbundenen Augen erkennen und ihre Unterschiede aufzählen. Whitstable war meine ganze Welt, Astley’s Restaurant mein Heimatland und Austernsaft mein Lebenselement. Obwohl ich nicht lange an die Geschichte glaubte, die meine Mutter erzählte – dass sie mich als winziges Baby in einer Muschelschale gefunden hätten, als ein hungriger Gast mich gerade zum Mittagessen verschlingen wollte –, zweifelte ich doch achtzehn Jahre lang niemals an meiner Verbundenheit mit den Austern, suchte niemals jenseits der Küche meines Vaters nach Beschäftigung oder nach Liebe.

Mein Leben war schon sonderbar, sogar nach den Maßstäben von Whitstable, jedoch war es nicht unangenehm und nicht einmal besonders schwer. Unser Arbeitstag begann um sieben Uhr morgens und endete zwölf Stunden später, und während all dieser Stunden waren meine Pflichten dieselben. Während Mutter kochte und Alice und mein Vater servierten, saß ich auf einem hohen Schemel neben einer Wanne mit Echten und schrubbte sie und spülte sie ab und hantierte mit dem Austernmesser.

Manche Leute mögen ihre Austern roh, und da hat man es am einfachsten, denn man braucht bloß ein Dutzend Echte aus der Wanne zu nehmen, das Meerwasser abtropfen zu lassen, sie aufzumachen und mit ein bisschen Petersilie oder Kresse auf einen Teller zu legen. Aber für die, die ihre Austern gedünstet oder in Fett ausgebacken oder gegrillt oder in der Schale überbacken oder als Pastete haben wollten, musste ich mir weit mehr Arbeit machen. Ich musste jede Muschel öffnen, den Bart entfernen, ohne das Fleisch zu beschädigen oder etwas von dem Saft zu verschütten und sie dann zu Mutters Herd bringen. Da auf einen Essteller ein Dutzend Austern passt und Austern damals billig waren und unser Restaurant stark besucht war und fünfzig Gästen Platz bot – na, da können Sie sich selber ausrechnen, was für riesige Mengen Austern ich jeden Tag unters Messer nahm, und Sie können sich auch leicht vorstellen, wie rot und wund und salzig und aufgeweicht meine Hände am Ende meines Arbeitstages waren. Noch jetzt, mehr als zwanzig Jahre nachdem ich mein Austernmesser weggelegt und die Küche meines Vaters für immer verlassen habe, verspüre ich ein geisterhaftes Zucken im Handgelenk und in den Fingern, wenn ich beim Fischhändler ein Austernfass sehe oder den Austernmann in den Straßen rufen höre; und manchmal glaube ich immer noch den Saft und das Meerwasser unter meinem Daumennagel und in den Fältchen meiner Handflächen zu riechen.

Ich habe gesagt, dass es in meiner Jugend nichts als Austern für mich gab, aber das stimmt nicht ganz. Ich hatte Freundinnen und Cousinen und Cousins, wie alle Mädchen, die in einer kleinen Stadt und in einer großen alten Familie aufwachsen. Ich hatte meine Schwester Alice, die meine liebste Freundin war, mit der ich ein Zimmer und ein Bett teilte und die alle meine Geheimnisse erfuhr und mir alle ihre Geheimnisse erzählte. Ich hatte sogar so etwas wie einen Verehrer: einen Jungen namens Freddy, der mit meinem Bruder Davy und meinem Onkel Joe auf einem Schleppnetzkahn fuhr und in der Bucht von Whitstable fischte.

Und schließlich hatte ich noch eine Neigung, man könnte auch sagen eine Art Leidenschaft für die Music Hall und die Lieder dort, und ich sang sie so gern. Wenn Sie jemals in Whitstable gewesen sind, wissen Sie, dass das eine ziemlich unpassende und unbefriedigte Leidenschaft war, denn die Stadt besitzt weder eine Music Hall noch ein Theater – bloß einen einsamen Laternenpfahl vor dem Hotel Duke of Cumberland, an dem sich manchmal Straßensänger einfinden und wo der Mann mit dem Kasperletheater im August seine Bude aufstellt. Aber Whitstable ist mit dem Zug nur fünfzehn Minuten von Canterbury entfernt, und dort gab es eine Music Hall – das Canterbury Palace of Varietes –, wo die Vorstellungen drei Stunden dauerten und die Eintrittskarten Sixpence kosteten und die Darbietungen, wie es hieß, die besten in ganz Kent waren.

Das Palace war ein kleines und, wie ich fürchte, ziemlich heruntergekommenes Theater, aber wenn ich es rückblickend vor mir sehe, betrachte ich es noch immer mit den Augen einer Muschelöffnerin – ich sehe das Spiegelglas an den Wänden, den roten Plüsch der Sitze, die golden angemalten Gipsputten, die über dem Vorhang schwebten. Wie unser Austernrestaurant hatte auch das Theater seinen besonderen Geruch – den Geruch, der, wie ich jetzt weiß, in allen Music Halls herrscht: nach Holz und Fettschminke und verschüttetem Bier und Gas und Tabak und Pomade. Es war ein Geruch, den ich als junges Mädchen ganz unkritisch liebte. Später hörte ich, wie Theaterdirektoren und Künstler ihn als den Geruch des Gelächters, den Duft des Beifalls beschrieben. Und noch später lernte ich ihn anders kennen, nicht als Essenz der Freude, sondern des Kummers.

Doch ich greife meiner Geschichte vor.

Ich kannte die Gerüche und Farben des Canterbury Palace besser als die meisten anderen Mädchen – wenigstens zu der Zeit, an die ich jetzt denke, jenen letzten Sommer im Hause meines Vaters, als ich achtzehn wurde –, denn Alice hatte einen Verehrer, der dort arbeitete, einen Jungen namens Tony Reeves, der uns stark verbilligte Eintrittskarten besorgte oder uns sogar umsonst einließ. Tony war der Neffe des Direktors vom Palace, des gefeierten Tricky Reeves, und schon deshalb so etwas wie ein guter Fang für unsere Alice. Meine Eltern aber misstrauten ihm zunächst und hielten ihn für abgebrüht, weil er in einem Theater arbeitete und Zigarren hinter den Ohren trug und zungenfertig von Engagements und London und Champagner parlierte. Aber bald konnten sie gar nicht anders, als ihn zu mögen, denn Tony hatte ein so großes Herz und war so nett und gutmütig im Umgang, und wie alle Jungen, die um meine Schwester warben, betete er sie an und tat ihretwegen uns allen zuliebe, was er nur konnte.

Daher kam es, dass Alice und ich am Samstagabend so oft im Canterbury Palace zu finden waren, wo wir unsere langen Röcke unter die Sitze stopften und in den besten und beliebtesten Vorstellungen die Refrains der fröhlichsten Lieder lauthals mitsangen. Wie das übrige Publikum auch, waren wir wählerisch. Wir hatten unsere Lieblingsdarbietungen – Künstler, nach denen wir Ausschau hielten und riefen, Lieder, die wir wieder und wieder gesungen haben wollten, bis die Kehle der Sängerin – denn meistens waren es die Damen, die Alice und ich besonders liebten – ausgetrocknet war und sie nicht mehr singen konnte, nur noch lächeln und knicksen und sich verbeugen.

Und wenn die Vorstellung zu Ende war und wir Tony in seinem stickigen kleinen Büro hinter dem Kartenschalter unsere Aufwartung gemacht hatten, nahmen wir die Melodien mit uns. Wir sangen sie im Zug nach Whitstable, und manchmal sangen andere mit, die nach der Vorstellung genauso fröhlich heimkehrten wie wir. Wir flüsterten sie in die Dunkelheit, wenn wir im Bett lagen, wir träumten zum Rhythmus ihrer Verse, und wenn wir morgens aufwachten, summten wir sie immer noch. Dann servierten wir zu unseren Fischmahlzeiten ein wenig vom Glanz der Music Hall. Alice pfiff, während sie die Teller auftrug, und die Gäste lächelten; ich kauerte auf meinem hohen Schemel neben der Wanne und sang den Austern etwas vor, während ich sie schrubbte und abspülte und den Bart entfernte. Mutter meinte, ich müsste selber zur Bühne gehen. Aber sie lachte, als sie das sagte, und ich auch. Die Mädchen, die ich im Rampenlicht sah, die Mädchen, deren Lieder ich so gern lernte und sang – sie waren nicht wie ich. Sie waren eher wie meine Schwester, mit Kirschlippen und Locken, die ihnen um die Schultern tanzten, und richtigen Brüsten und Grübchen an den Ellbogen und mit Fesseln, die, wenn sie sie denn mal herzeigten, so schlank und wohlgeformt waren wie Bierflaschen. Ich war groß und ziemlich mager. Meine Brust war flach, mein Haar glatt, meine Augen von einem langweiligen und ungewissen Blau. Meine Zähne waren allerdings sehr weiß, und mein Teint war vollkommen zart und klar, aber das bedeutete, wenigstens in unserer Familie, nicht viel, denn wir verbrachten unsere Tage in einem Dunst von brodelndem Salzwasser und waren alle so hellhäutig und makellos wie der Bauch einer Scholle. Nein, Mädchen wie Alice waren dazu geschaffen, auf einer geschmückten Bühne zu tanzen, in Satin gewandet und von Putten bejubelt, und Mädchen wie ich waren dazu geschaffen, auf der Galerie zu sitzen, im Dunkeln und anonym, und sie anzustaunen.

Jedenfalls glaubte ich das damals.

Der Wochenablauf, den ich beschrieben habe – Austern schrubben, Bart entfernen und Kochen und Servieren und Samstagabends in die Music Hall gehen –, ist mir aus meiner Mädchenzeit am deutlichsten im Gedächtnis, aber er galt natürlich nur für den Winter. Von Mai bis August muss man die Austern in Ruhe lassen, damit sie sich vermehren können; dann reffen die Schleppnetzkähne die Segel oder suchen sich andere Fanggründe, und die Austernrestaurants in ganz England müssen folglich entweder andere Menüs anbieten oder zumachen. Die Einkünfte meines Vaters von Herbst bis Frühling waren zwar ausgezeichnet, aber doch nicht so gut, dass er es sich hätte erlauben können, das Lokal im Sommer zu schließen und Urlaub zu machen, aber wie viele andere Familien in Whitstable, deren Geschicke vom Meer und seinen Gaben abhingen, spürten wir in den wärmeren Monaten doch eine deutliche Erleichterung unserer Plackerei, und irgendwie glitten wir in einen eher gemächlichen, lockeren und heiteren Rhythmus hinein. Das Restaurant war nicht mehr so voll. Wir servierten Krabben und Scholle und Steinbutt und Hering statt Austern, und das Filettieren der Fische war längst keine so harte Arbeit wie das endlose Schrubben und Schalenaufbrechen im Winter. Wir ließen die Fenster und die Küchentür offen und wurden jetzt weder im Dampf der Kessel lebendig gekocht, noch erfroren wir neben den Fässern voll Austerneis. Der Wind kühlte uns sanft, und das Geräusch flatternder Segel und klingelnder Zugringe, das von der Bucht her in unsere Küche wehte, beruhigte uns.

Der Sommer, in dem ich achtzehn wurde, war sehr warm und wurde immer heißer, als die Wochen voranschritten. Vater überließ Mutter das Restaurant tagelang allein und betrieb in der Zeit einen Miesmuschel- und Schneckenstand am Strand. Alice und ich durften jeden Abend ins Canterbury Palace gehen, wenn wir wollten, aber so wie in diesem Juli niemand in unserem stickigen Restaurant gebratenen Fisch oder Hummersuppe essen wollte, brachte uns schon der Gedanke an ein oder zwei Stunden in Handschuhen und Hut unter den zischenden Gaslampen von Tricky Reeves’ Music Hall zum Japsen und Ermatten vor Hitze.

Zwischen dem Geschäft eines Fischkochs und dem eines Varietédirektors gibt es mehr Ähnlichkeiten, als man denkt. Als Vater sein Warenangebot änderte, um die abgestumpften und überhitzten Gaumen seiner Kundschaft neu zu reizen, machte Tricky Reeves genau dasselbe: Er zahlte die Hälfte seiner Darsteller aus und holte an ihrer Stelle eine Menge neuer Künstler aus den Theatern von Chatham, Margate und Dover, und sein klügster Schachzug war ein einwöchiger Vertrag mit einer echten Berühmtheit aus London: Gully Sutherland, einem der besten komischen Sänger überhaupt, mit dem das Theater auch im heißesten aller heißen Sommer von Kent garantiert ausverkauft war.

Alice und ich gingen gleich am ersten Abend von Gully Sutherlands Auftreten in die Vorstellung. Inzwischen hatten wir ein wortloses Übereinkommen mit der Dame im Kassenhäuschen: Wir nickten ihr nur zu und lächelten, schlenderten an ihrem Fenster vorbei und suchten uns drinnen einen Platz aus, der uns gefiel, gewöhnlich oben auf der Galerie. Ich habe nie verstanden, was die Leute an den Sperrsitzen im Parkett so anziehend fanden; mir kam es unnatürlich vor, sich unterhalb der Bühne hinzusetzen, wo man auf gleicher Höhe mit den Waden der Künstler war und dann durch die wabernden und schimmernden Hitzewellen über den mit Petroleum betriebenen Rampenlichtern zu ihnen hinaufblicken musste. Weiter hinten im Parkett war es besser, aber auf der Galerie hatte man nach meinem Eindruck den allerbesten Überblick, und die beiden Plätze genau in der Mitte der vordersten Reihe liebten Alice und ich besonders. Hier befand man sich nicht einfach in einer Vorstellung, sondern in einem Theater: Man hatte die ganze Form der Bühne vor sich und den Schwung der Sitzreihen im Parkett, man sah die Gesichter seiner Nachbarn und wusste, dass sie dem eigenen glichen – alle seltsam beleuchtet vom Rampenlicht, alle mit leichtem Schweiß auf der Oberlippe und mit einem Grinsen wie dem eines Dämons in einer höllischen Revue.

Und ganz sicher war das Canterbury Palace so heiß wie die Hölle, als Gully Sutherland seine erste Vorstellung gab – so heiß, dass uns schwindelig wurde und wir husten mussten, als wir uns über die Brüstung beugten und uns ein Schwall von tabak- und schweißgeschwängerter Luft entgegenschlug. Das Theater war, wie Tonys Onkel kalkuliert hatte, fast voll, und doch war es sonderbar still im Publikum. Die Leute murmelten nur, oder sie sprachen gar nicht. Von oben sahen wir im ganzen Parkett nur Hüte und Programmhefte, mit denen man sich Luft zufächelte, und das ging auch weiter, als das Orchester mit seiner kurzen Ouvertüre einsetzte und die Lichter im Saal allmählich erloschen, aber das Fächeln wurde langsamer, und die Zuschauerinnen und Zuschauer saßen jetzt aufrechter. Die Stille der Ermattung verwandelte sich in ein Schweigen der Erwartung.

Das Palace war ein altmodisches Varieté und hatte, wie viele solche Etablissements um 1880, immer noch einen Vorsitzenden. Das war im Palace natürlich Tricky Reeves selbst: Er saß an einem Tisch zwischen den Sperrsitzen und dem Orchestergraben, kündigte die einzelnen Programmnummern an, rief das Publikum zur Ordnung, wenn es außer Rand und Band geriet, und führte die Hochrufe auf die Königin an. Er trug einen Zylinder und hatte einen Holzhammer in der Hand – ich habe nie einen Vorsitzenden ohne Holzhammer gesehen – und vor ihm stand ein Krug Porterbier. Auf dem Tisch brannte eine Kerze, solange Künstler auf der Bühne waren; in der Pause und am Schluss der Vorstellung wurde sie jedoch gelöscht.

Tricky hatte ein Allerweltsgesicht, aber eine sehr angenehme Stimme – eine Stimme wie der Klang einer Klarinette, zugleich fließend und durchdringend und schön anzuhören. Am Abend von Gully Sutherlands Auftreten hieß er uns zu seiner Vorstellung willkommen und versprach uns Darbietungen, die wir nie vergessen würden. Hatten wir Lungen? Dann sollten wir uns darauf einstellen, sie zu gebrauchen! Hatten wir Füße und Hände? Dann würden wir viel zu trampeln und zu klatschen haben! Hatten wir einen Bauch? Der würde uns platzen vor Lachen! Tränen? Wir würden sie eimerweise vergießen! Hatten wir Augen?

»Reißt sie jetzt auf vor Staunen! Orchester, bitte sehr!« Er schlug mit dem Holzhammer auf den Tisch, dass die Kerzenflamme flackerte – Peng! – »Hier bringe ich euch die herrlichen, die musikalischen, die sehr, sehr lustigen, lustigen« – wieder schlug er auf den Tisch – »Randalls!!«

Der Vorhang zitterte und hob sich. Die Kulisse zeigte eine Szene am Strand, auf den Bühnenbrettern lag echter Sand, und darüber hin wandelten vier fröhliche Menschen in Ferienkleidung, zwei Damen, eine dunkel, eine blond, mit Sonnenschirmen, und zwei Herren, von denen einer eine Ukulele hatte. Sie sangen sehr hübsch »All the Girls are Lovely by the Seaside«, dann spielte der mit der Ukulele ein Solo, und die Damen lupften ihre Röcke und tanzten ein bisschen im Sand. Für eine Auftaktnummer waren sie ziemlich gut. Wir jubelten ihnen zu, und Tricky dankte uns sehr charmant für unsere Wertschätzung.

Danach kam ein Komiker, dann eine Seherin, eine Dame im Abendkleid und langen Handschuhen, die mit verbundenen Augen auf der Bühne stand, während ihr Mann mit einer Schiefertafel durchs Publikum ging und die Leute bat, mit einem Stück Kreide Zahlen und Namen darauf zu schreiben, die seine Frau dann erraten musste.

»Stellen Sie sich vor, wie diese Zahl umgeben von feuerroten Flammen durch die Luft schwebt und sich durch die Stirn meiner Frau den Weg zu ihrem Gehirn brennt«, sagte er bedeutungsschwer. Wir starrten angestrengt auf die Bühne, und die Dame taumelte ein wenig und hob die Hände an die Schläfen.

»Die Kraft ist heute Abend sehr stark«, sagte sie. »Aah, ich spüre, wie sie glüht!«

Danach kam eine Akrobatentruppe, drei Männer in paillettenbesetzten Anzügen, die durch Reifen sprangen und einander auf den Schultern standen. Als Höhepunkt ihrer Darbietung bildeten sie ein Rad aus Menschenleibern und rollten im Rhythmus einer Orchestermelodie über die Bühne. Wir klatschten, aber eigentlich war es zu heiß für Akrobatik, und während der ganzen Vorführung waren die Zuschauerinnen und Zuschauer unruhig und flüsterten. Jungen liefen mit Bestellungen zur Bar und kamen mit Flaschen und Gläsern und Krügen zurück, die unter Lärmen durch die Reihen weitergereicht werden mussten, über Köpfe, Schöße und grapschende Hände hinweg. Ich sah zu Alice hin: Sie hatte ihren Hut abgenommen und fächelte sich damit, und ihre Wangen waren sehr rot. Ich schob mein kleines Hütchen ins Genick, lehnte mich auf das Geländer vor mir, legte das Kinn auf die Fingerknöchel und schloss die Augen. Ich hörte Trickys Stimme und wie er mit dem Holzhammer Ruhe gebot.

»Damen und Herren«, rief er, »hier jetzt etwas Besonderes für Sie! Ein bisschen Eleganz und vornehme Lebensart. Wenn Sie Champagner haben« – hier brandete ironischer Beifall auf –, »erheben Sie Ihr Glas! Wenn Sie Bier haben – na, das prickelt ja auch, oder? Also erheben Sie das Bier! Aber vor allem: Erheben Sie die Stimme, denn jetzt bringe ich Ihnen, direkt aus dem Phoenix Theater in Dover, unseren reizenden Dandy aus Kent, unseren niedlichen Schwerenöter aus Faversham … Miss Kitty« – Peng! – »Butler!!«

Man klatschte und johlte. Das Orchester stimmte eine fröhliche Melodie an, und ich hörte das Knistern und Rauschen des sich hebenden Vorhangs. Gegen meinen Willen öffnete ich die Augen – dann riss ich sie auf und hob den Kopf. Die Hitze und meine Müdigkeit waren augenblicklich vergessen. Ein einzelner rosiger Lichtstrahl durchdrang das Dunkel der leeren Bühne, und mitten darin stand ein Mädchen: das wundervollste Mädchen – ich wusste es sofort –, das ich je gesehen hatte!

Wir hatten im Palace natürlich schon öfter Herrenimitationen erlebt, aber in den Provinztheatern von 1888 waren diese Nummern noch nicht das, was sie heute sind. Als Nelly Power sechs Monate zuvor »The Last of the Dandies« für uns gesungen hatte, trug sie ein Trikot mit Goldflitter, wie ein Ballettmädchen, und dazu nur einen Stock und eine Melone, um sich etwas Männliches zu geben. Kitty Butler trug weder Trikot noch Flitter. Sie war, wie Tricky gesagt hatte, ein vollendeter Londoner West-End-Dandy. Sie trug einen Anzug – einen eleganten Herrenanzug, der perfekt saß und an den Aufschlägen und dem Revers mit glänzender Seide besetzt war. Im Knopfloch steckte eine Rose und in den Taschen lavendelfarbene Handschuhe. Aus der Weste leuchtete ein steifgestärktes weißes Hemd mit einem hohen Kragen hervor. Darum gebunden war eine weiße Fliege, und auf dem Kopf trug sie einen Zylinder. Als sie den abnahm, um das Publikum mit einem fröhlichen »Hallo!« zu begrüßen, sah man, dass ihr Haar wunderbar kurzgeschnitten war.

Ich glaube, es waren diese Haare, die mich am meisten anzogen. Wenn ich vordem Frauen mit so kurzen Haaren gesehen hatte, kam das daher, dass sie im Spital oder im Gefängnis gewesen waren – oder im Irrenhaus. Die waren überhaupt nicht mit Kitty Butler zu vergleichen. Deren Haar umschmiegte ihren Kopf wie eine kleine Kappe, die eine geschickte Näherin speziell für sie angefertigt hatte. Ich würde sagen, es war braun, jedoch ist braun ein zu langweiliges Wort dafür. Es war eher die Art Braun, über die man in Liedern singt – ein Nussbraun oder Rostbraun. Fast hatte es die Farbe von Schokolade, aber Schokolade hat ja keinen Glanz, und dieses Haar schimmerte im grellen Licht der Bühne wie Seidentaft. An den Schläfen und über ihren Ohren lockte es sich ein wenig, und als sie leicht den Kopf wandte, um ihren Zylinder wiederaufzusetzen, sah ich in ihrem Nacken, da wo der Kragen endete und der Haaransatz begann, einen Streifen helle Haut, und trotz der unsäglichen Hitze im Saal überlief mich ein Schauer.

Sie sah aus wie ein sehr hübscher Junge, denn ihr Gesicht war vollkommen geformt, ihre Augen groß und dunkel, mit schwarzen Wimpern, und ihre Lippen waren voll und rosig. Auch ihre Figur war knabenhaft schlank, und doch ganz leicht, aber unübersehbar gerundet – an den Brüsten, am Bauch und den Hüften, wie es bei einem echten Jungen nie sein konnte, und ihre Schuhe hatten, wie ich bald bemerkte, fünf Zentimeter hohe Absätze. Doch sie ging wie ein Junge und stand auch so da, ganz vorne an der Rampe, breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf arrogant zur Seite geneigt, und als sie sang, war ihre Stimme die eines Jungen – süß und erschreckend echt.

Ihre Wirkung auf diesen überhitzten Theatersaal war wundersam. Wie ich saßen auch alle meine Nachbarn sehr aufrecht und blickten sie mit leuchtenden Augen an. Ihre Lieder waren allesamt gut gewählt, Sachen wie »Drink Up, Boys« und »Sweethearts and Wives«, die wir schon von anderen berühmten Sängern kannten und in die wir daher einstimmen konnten, aber es war besonders aufregend, dass es kein Mann war, der sie für uns sang, sondern ein Mädchen in Hosen. Zwischen den einzelnen Liedern wandte sie sich in prahlerischem, selbstbewusstem Ton an das Publikum und machte kleine Scherze mit Tricky Reeves an seinem Tisch. Ihre Sprechstimme war wie ihre Singstimme kräftig und gesund und wunderbar warm anzuhören. Ihr Akzent war manchmal Music-Hall-Cockney, manchmal theatralisch vornehm und manchmal breiter kentischer Dialekt. Ihr Auftritt dauerte nur die üblichen fünfzehn Minuten, aber wir jubelten und riefen sie danach noch zweimal auf die Bühne zurück. Ihr letztes Lied war eine zarte Ballade über eine Rose und eine verlorene Liebste. Während sie das sang, nahm sie den Zylinder ab und hielt ihn vor die Brust. Dann zog sie die Blume aus dem Knopfloch, legte sie an ihre Wange und schien ein wenig zu weinen. Das Publikum stieß einen kollektiven Seufzer des Mitgefühls aus und biss sich auf die Lippen, als ihr jungenhafter Ton auf einmal so sanft wurde.

Plötzlich jedoch schlug sie die Augen auf, blickte uns über ihre Fingerknöchel hinweg an, und wir sahen, dass sie keineswegs weinte, sondern lächelte, und dann zwinkerte sie uns heftig und schelmisch zu. Rasch ging sie wieder an die Rampe und hielt in den vorderen Reihen Ausschau nach dem hübschesten Mädchen. Als sie es gefunden hatte, hob sie die Hand, und die Rose flog über die Rampenlichter und den Orchestergraben hinweg und landete in deren Schoß.

Und damit machte sie uns nun vollends verrückt. Wir brüllten und trampelten, und sie, ganz ritterlich, grüsste uns, indem sie den Zylinder abnahm, winkte uns zu und verließ die Bühne. Wir riefen nach ihr, aber wir bekamen keine Zugabe mehr. Der Vorhang fiel, das Orchester spielte, Tricky schlug mit dem Hammer auf den Tisch und blies die Kerze aus; es war Pause.

Ich spähte blinzelnd nach unten und versuchte das Mädchen zu sehen, das die Blume zugeworfen bekommen hatte. In diesem Moment konnte ich mir nichts Herrlicheres vorstellen, als aus Kitty Butlers Hand eine Rose zu empfangen.

Wie alle anderen an jenem Abend war auch ich ins Palace gegangen, um Gully Sutherland zu sehen, aber als er endlich auftrat, sich mit einem riesigen getupften Taschentuch die Stirn wischte, sich über die Hitze in Canterbury beklagte und das Publikum mit seinen komischen Liedern und seinen Grimassen zu stürmischen und verschwitzten Lachanfällen trieb, merkte ich, dass ich mir gar nichts aus ihm machte. Ich wünschte mir nur, dass Miss Butler wieder auf die Bühne käme, uns mit ihrem noblen, arroganten Blick fixierte und uns von Champagner sänge. Der Gedanke daran machte mich ganz ruhelos. Schließlich flüsterte mir Alice, die über Gullys Grimassen ebenso laut lachte wie alle anderen, ins Ohr: »Was ist los mit dir?«

»Mir ist so heiß«, sagte ich. »Ich gehe nach unten.« Und während sie sich den Rest der Vorstellung ansah, ging ich langsam in das leere Foyer, legte meine Wange an das kühle Glas der Eingangstür und sang mir Miss Butlers Lied »Sweethearts and Wives« vor.

Bald danach hörte ich Beifallrufen und Trampeln; Gullys Auftritt war zu Ende. Und gleich darauf erschien Alice, die sich noch immer mit ihrem Hut Luft zufächelte und sich die feuchten Locken wegpustete, die an ihren rosigen Wangen klebten. Sie zwinkerte mir zu. »Komm, wir gehen zu Tony.«

Ich folgte ihr in sein kleines Zimmer, setzte mich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch und rutschte unbehaglich darauf herum, während Tony den Arm um Alices Taille legte. Wir plauderten ein wenig über Gully Sutherland und sein getupftes Taschentuch, dann sagte Tony plötzlich: »Und was haltet ihr von Kitty Butler? Ist die nicht eine Wucht? Wenn sie die Leute weiter so aufheizt wie heute Abend, verlängert der Onkel ihren Vertrag bis Weihnachten, da wette ich!«

Daraufhin saß ich ganz still. »Sie ist das Beste, was ich je gesehen habe«, sagte ich. »Tricky wäre verrückt, wenn er sie gehen ließe. Sag ihm das, mit einem schönen Gruß von mir!« Tony lachte und sagte, das würde er bestimmt tun, aber ich merkte, wie er Alice zuzwinkerte und seinen Blick liebkosend über ihr schönes Gesicht gleiten ließ.

Ich sah weg und sagte ganz arglos: »Ach, ich wünsche mir so sehr, Miss Butler wiederzusehen!«

»Und das sollst du auch«, sagte Alice, »am Samstag.« Wir hatten geplant, alle zusammen – Vater, Mutter, Davy, Fred – am Samstagabend ins Palace zu gehen. Ich zupfte an meinem Handschuh herum.

»Ich weiß«, sagte ich. »Aber es ist noch so schrecklich lange hin bis Samstag …«

Tony lachte wieder. »Aber Nancy, wer sagt denn, dass du so lange warten musst? Du kannst morgen Abend wiederkommen – und auch sonst jeden Abend, wenn es nach mir geht. Und wenn’s auf der Galerie keinen Platz für dich gibt, na, dann setzen wir dich in die Loge direkt neben der Bühne, und da kannst du dir Miss Butler aus der Nähe betrachten, soviel du willst!«

Natürlich sagte er das alles nur, um bei meiner Schwester Eindruck zu schinden, aber mein Herz zog sich bei seinen Worten ganz seltsam zusammen. »O Tony, meinst du das im Ernst?«

»Natürlich.«

»Und wirklich in der Loge?«

»Na, warum denn nicht? Unter uns gesagt sitzen in der Loge höchstens mal die reichen Woods oder die stinkvornehmen Plushes. Setz du dich rein und sorge dafür, dass das Publikum dich gut sehen kann – dann verfallen sie auf Gedanken, die ihrem Stand nicht zukommen.«

»Eher verfällt Nancy auf Gedanken, die ihrem Stand nicht zukommen«, sagte Alice. »Und das können wir nicht zulassen.« Dann lachte sie, als Tony seinen Griff um ihre Taille festigte und sich herabneigte, um sie zu küssen.

Für ein Stadtmädchen wäre es wahrscheinlich nicht angegangen, ohne Begleitung eine Music Hall zu besuchen, aber in Whitstable war man in solchen Dingen nicht so streng. Mutter runzelte bloß die Stirn und machte leise »Ts-ts«, als ich am nächsten Tag davon sprach. Alice lachte und erklärte mich für verrückt; sie würde nicht mit mir gehen, sagte sie, um den ganzen Abend in der Hitze und dem Rauch zu sitzen, nur um einen Blick auf ein Mädchen in Hosen zu werfen – ein Mädchen, dessen Auftritt wir doch schon gesehen und dessen Lieder wir vor noch nicht vierundzwanzig Stunden gehört hatten.

Ich war schockiert von ihrer Gleichgültigkeit, aber insgeheim froh bei dem Gedanken, dass ich mir Miss Butler nun ganz allein betrachten konnte. Auch Tonys Versprechen, mich in der Loge sitzen zu lassen, entzückte mich mehr, als ich zugeben wollte. Am Abend zuvor hatte ich ein ganz gewöhnliches Kleid getragen; jetzt jedoch – im Restaurant war den Tag über nicht viel los gewesen, und Vater erlaubte uns, schon um sechs Uhr zu schließen – zog ich mein Sonntagskleid an, das ich normalerweise trug, wenn ich mit Freddy spazieren ging. Davy pfiff durch die Zähne, als ich so elegant die Treppe herunterkam, und im Zug nach Canterbury versuchten einige Jungen ständig, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber ich war – mindestens an diesem Abend – meilenweit von ihnen entfernt. Als ich im Palace ankam, nickte ich dem Mädchen an der Kasse wie üblich zu, und dann machte ich mich auf den Weg zur Loge direkt neben der Bühne. Dort setzte ich mich auf den vergoldeten, mit rotem Plüsch bezogenen Lehnstuhl und war den neugierigen oder neidischen Blicken des ganzen Saales ausgesetzt, was mich ziemlich nervös machte. Ich saß also da, während die Merry Randalls zu denselben Liedern tanzten wie am Vorabend, der Komiker seine Scherze machte, die Seherin taumelte und die Akrobaten sprangen.

Dann bat uns Tricky wieder, unseren Dandy aus Kent mit Beifall zu begrüßen … und ich hielt den Atem an.

Als sie jetzt »Hallo!« rief, antwortete ihr die Menge laut und begeistert. Ihr Erfolg hatte sich demnach bereits herumgesprochen. Ich sah sie jetzt natürlich von der Seite, aus einem etwas sonderbaren Winkel, aber als sie wie am Vortag zur Rampe schritt, schien mir ihr Gang leichter – als ob die Bewunderung des Publikums ihr Flügel verliehe. Ich umklammerte meinen ungewohnten Plüschsitz und beugte mich vor. Die Logen im Palace waren ganz dicht an der Bühne, und während sie sang, war sie keine sechs Meter von mir entfernt. Ich erkannte jetzt all die reizenden Details ihres Kostüms, die mir von meinem vorigen Platz auf der Galerie aus entgangen waren – die Uhrkette, die über die Knöpfe ihrer Weste lief, die silbernen Manschettenknöpfe.

Ich sah nun auch ihre Gesichtszüge viel deutlicher, sah ihre Ohren, die ziemlich klein und nicht durchstochen waren. Ich sah ihre Lippen, die, wie ich jetzt erkannte, nicht von Natur aus so rot waren, sondern die sie wegen des grellen Rampenlichts geschminkt hatte. Ich sah, dass ihre Zähne weiß waren und ihre Augen braun wie Schokolade, genau wie ihr Haar.

Weil ich schon wusste, was sie vortragen würde, und weil ich sie so genau betrachtete und ihr nicht so sehr zuhörte, schien ihr Auftritt schon nach wenigen Augenblicken vorüber zu sein. Wieder wurde sie zweimal herausgerufen, um Zugaben zu singen, und wieder endete sie mit der sentimentalen Ballade und warf die Rose. Diesmal sah ich, wer sie auffing: ein Mädchen in der dritten Reihe, ein Mädchen mit einem Strohhut mit Federn darauf und in einem Kleid aus gelber Seide; die Ärmel waren kurz und ließen ihre Arme frei. Es war ein reizendes Mädchen, das ich nie zuvor gesehen hatte, und doch war ich in diesem Augenblick willens, sie zutiefst zu verabscheuen.

Ich sah wieder zu Kitty Butler. Sie hatte den Zylinder erhoben und machte ihre letzte große Verbeugung. Sieh mich an, dachte ich. Sieh mich an! Ich buchstabierte die Worte im Kopf in scharlachroten Lettern, wie es der Mann der Seherin empfohlen hatte und sandte sie glühend in ihre Stirn wie ein Brandeisen. Sieh mich an!

Sie drehte sich um. Ihre Augen blickten kurz in meine Richtung, als ob sie lediglich bemerkte, dass in der Loge, die am Vorabend leer gewesen war, jetzt jemand saß. Dann duckte sie sich unter den herabsinkenden Samt des Vorhangs und war verschwunden.

Tricky blies seine Kerze aus, und ich ging.

»Na«, sagte Alice wenig später, als ich in unser Wohnzimmer trat, »und wie war Kitty Butler heute Abend?«

»Genauso wie gestern, möchte ich meinen«, sagte Vater.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte ich und zog die Handschuhe aus. »Sie war noch viel besser.«

»Noch viel besser, meine Güte! Stell dir bloß mal vor, wie gut sie am Samstag sein wird, wenn sie so weitermacht!«

Alice sah mich an, und ihre Lippen zuckten. »Kannst du denn überhaupt bis dahin warten, Nancy?«, fragte sie.

»Kann ich«, sagte ich scheinbar gleichgültig, »aber ich bin mir nicht sicher, dass ich’s tue.« Ich wandte mich an Mutter, die neben dem leeren Kamin saß und nähte. »Du hast doch nichts dagegen, oder?«, sagte ich leichthin. »Ich meine, wenn ich morgen Abend wieder hingehe?«

»Schon wieder?«, riefen alle belustigt. Ich sah nur Mutter an. Sie hatte den Kopf gehoben und betrachtete mich mit einem kleinen verwirrten Stirnrunzeln.

»Ja, warum nicht?«, sagte sie langsam. »Aber im Ernst, Nancy, den ganzen weiten Weg wegen dem einen Auftritt … und dann auch noch ganz allein. Kannst du nicht Freddy bitten, dass er dich begleitet?«

Fred war nun wirklich der Letzte, den ich neben mir haben wollte, wenn ich Kitty Butler wiedersah. Ich sagte: »Ach, der hat bestimmt keine Lust, so eine Nummer zu sehen! Nein, ich gehe allein.« Ich sagte das mit recht fester Stimme, als wäre der allabendliche Besuch des Palace eine Pflichtaufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte und nun ohne viel Getue und Klagen erledigen würde. Ein paar Sekunden lang herrschte eine fast unbehagliche Stille. Dann sagte Vater: »Du bist ein sonderbares kleines Ding, Nancy. Den ganzen Weg nach Canterbury in dieser brütenden Hitze – und dann willst du noch nicht mal Gully Sutherland sehen!« Und darüber lachten alle. Die unbehagliche Stille war gebrochen, und die Unterhaltung wandte sich anderen Themen zu.

Trotzdem grinste meine Familie noch mehr und schrie ungläubig auf, als ich von meinem dritten Besuch im Palace zurückkehrte und schüchtern verkündete, ich wollte noch ein viertes und ein fünftes Mal hingehen. Onkel Joe war gerade zu Besuch; er goss sich behutsam Bier aus der Flasche in ein schräg geneigtes Glas, aber als er das Gelächter hörte, blickte er auf.

»Was ist denn los?«, fragte er.

»Nancy ist ganz hingerissen von dieser Kitty Butler im Palace«, sagte Davy. »Stell dir vor, Onkel Joe, ganz hingerissen von einem Schwerenöter, der ein Mädchen ist!«

Ich sagte: »Halt den Mund.«

Mutter sagte scharf: »Halt du mal lieber den Mund, mein Fräulein!«

Onkel Joe trank einen Schluck Bier und leckte sich den Schaum vom Schnurrbart. »Kitty Butler?«, meinte er. »Das ist doch das Mädchen, wo sich anzieht wie ’n Kerl, nicht?« Er schnitt eine Grimasse. »Och, Nancy, sind dir die echten Kerle etwa nicht mehr gut genug?«

Vater beugte sich zu ihm. »Na ja, sie sagt, es geht ihr um Kitty Butler«, raunte er. »Wenn du mich fragst« – er zwinkerte und rieb sich die Nase –, »ich denke, da gibt’s einen jungen Burschen im Orchestergraben, auf den sie ein Auge geworfen hat …«

»Aha«, sagte Joe nachdrücklich. »Dann wollen wir mal bloß hoffen, dass der arme Frederick nicht Wind davon kriegt …«

Darauf sahen mich alle an. Ich errötete und schien dadurch, nehme ich an, die Worte meines Vaters zu bestätigen. Davy prustete, Mutter, die etwas umdüstert dagesessen hatte, lächelte jetzt. Ich ließ sie alle denken, was sie wollten und sagte nichts, und bald wandte sich das Gespräch wieder anderen Dingen zu.

Meinen Bruder und meine Eltern konnte ich mit meinem Schweigen täuschen, aber vor meiner Schwester Alice konnte ich nichts verbergen.

»Gibt’s da im Palace wirklich einen Jungen, auf den du ein Auge geworfen hast?«, fragte sie mich später im Bett, als das ganze Haus bereits schlief.

»Natürlich nicht«, antwortete ich leise.

»Du gehst also nur hin, um Miss Butler zu sehen?«

»Ja.«

Es herrschte Schweigen, unterbrochen nur vom fernen Räderrumpeln und Hufschlag auf der High Street und vom noch ferneren saugenden Wuschen der Wellen, die in der Bucht zischend auf den Kiesstrand liefen. Wir hatten unsere Kerze gelöscht und das Fenster weit geöffnet. Im Schimmer des Sternenlichts sah ich, dass Alices Augen offen waren. Sie blickte mich mit einem zweideutigen Ausdruck an, mit einer Mischung aus Belustigung und Widerwillen.

»Du machst dir ziemlich viel aus ihr, was?«

Ich sah zur Seite und antwortete nicht gleich. Als ich zu sprechen begann, redete ich gar nicht zu Alice, sondern in die Dunkelheit hinein.

»Wenn ich sie sehe«, sagte ich, »ist es wie – ich weiß nicht wie. Es ist so, als hätte ich vorher überhaupt noch nie etwas gesehen. Es ist, als ob ich mich fülle wie ein Glas, das man mit Wein füllt. Ich sehe mir die Nummern an, die vor ihr kommen, und die sind überhaupt nichts – die sind wie Staub. Dann kommt sie auf die Bühne und – sie ist so hübsch, und ihr Anzug ist so schön, und ihre Stimme ist so süß … Sie macht, dass ich zugleich lächeln und weinen möchte. Sie tut mir weh – hier.« Ich legte die Hand auf meine Rippen. »Ich habe noch nie ein Mädchen wie sie gesehen. Ich wusste gar nicht, dass es Mädchen wie sie gibt …« Hier erstarb meine Stimme zu einem zitternden Flüstern, und ich konnte nichts weiter sagen.

Alice schwieg. Ich öffnete die Augen und sah sie an – und wusste sofort, dass ich nichts hätte erzählen sollen, dass ich ihr gegenüber genauso stumm und listig hätte sein sollen wie bei den anderen. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der keineswegs mehr zweideutig war. Es war eine Mischung aus Schock, Nervosität und Verlegenheit oder Scham. Ich hatte zu viel gesagt. Mir war, als hätte meine Bewunderung für Kitty Butler eine Fackel in mir entzündet, und als ich so unbedacht den Mund aufmachte, war ein Lichtstrahl in den dunklen Raum gefallen und hatte alles in grelles Licht getaucht.

Ich hatte zu viel gesagt, aber ich konnte nicht anders. Entweder alles – oder gar nichts.

Alice blickte mir noch einen Moment direkt in die Augen; dann bebten ihre Lider und senkten sich. Sie sagte nichts; sie rollte sich nur von mir weg zur Wand.

Die Hitze blieb die ganze Woche über mörderisch. Die Sonne lockte Ausflügler nach Whitstable und in unser Restaurant, doch ihr Appetit war mäßig. Sie bestellten eher Tee und Limonade als Scholle oder Makrele, und manchmal verließ ich das Restaurant für mehrere Stunden, rannte zum Strand und servierte an Vaters Stand Muscheln und Krabbenfleisch und Schnecken und gebutterten Toast. Es war einmal etwas Neues, am Strand Essen zu servieren, aber es war auch anstrengend, in der Sonne zu stehen; und der Essig, mit dem wir die Muscheln immer beträufelten, rann mir vom Handgelenk zu den Ellenbogen, und die Augen brannten mir von dem sauren Dampf. Vater gab mir für jeden Nachmittag da draußen zwei Shilling und Sixpence extra. Ich kaufte mir einen Hut und zwei Meter lavendelfarbenes Band, mit dem ich ihn verzieren wollte, aber den Rest des Geldes legte ich beiseite. Damit würde ich mir eine Saisonkarte für den Zug nach Canterbury kaufen, wenn ich genug beisammen hatte.

Denn ich fuhr diese ganze Woche lang jeden Abend hin und saß, wie Tony sich ausdrückte, bei den Stinkvornehmen und betrachtete Kitty Butler, wenn sie sang, und ich wurde niemals müde, sie anzusehen. Es war immer und immer wieder wundervoll, in meine kleine rote Loge zu treten, die Gesichterreihen zu betrachten, den goldenen Bogen über der Bühne, die Samtdraperien und Troddeln und die Fläche staubiger Holzbretter mit ihren Rampenlichtern – wie geöffnete Muschelschalen sahen sie aus, fand ich immer –, vor denen ich bald Kitty schreiten und stolzieren und ihren Zylinder schwenken sehen würde … Oh! Und wenn sie endlich auf die Bühne kam, war da dieser Ansturm von Freude, so rasch und durchdringend, dass ich den Atem anhielt und mich einer Ohnmacht nahe fühlte.

So jedenfalls war es, wenn ich allein hinging, aber am Samstag kam natürlich meine gesamte Familie mit, wie wir es geplant hatten, und da war es ganz anders.

Wir waren fast zwölf Leute, und bis wir das Theater erreicht hatten und uns setzten, waren wir noch mehr, denn im Zug und vor dem Kassenhäuschen hatten wir Nachbarn und Freunde getroffen, und sie hängten sich wie Kletten an unsere fröhliche Gesellschaft. Wir waren so viele, dass wir nicht in einer langen Reihe nebeneinander sitzen konnten, sondern uns in Grüppchen von drei oder vier aufteilen mussten, und wenn nun einer fragte: Möchtet ihr eine Kirsche? oder: Hat Mutter auch ihr Kölnisch Wasser dabei? oder: Wieso hat Millicent Jim nicht mitgebracht? mussten diese Botschaften über die ganze Galerie hin gerufen oder geflüstert werden, von Cousine zu Cousin, von Tante zu Schwester zu Onkel zu Freundin, und damit störten wir sämtliche anderen Zuschauer.

Jedenfalls kam es mir so vor. Ich saß zwischen Fred und Alice, und Davy saß mit Rhoda, seinem Mädchen, links neben Alice und meine Eltern hinter uns. Der Saal war überfüllt und immer noch sehr heiß, wenn auch etwas kühler als an dem brütenden, schweißtreibenden Montag; aber ich, die ich eine Woche lang in der Loge gesessen und durch den Zugwind von der Bühne Kühlung erhalten hatte, litt mehr unter der Hitze als die anderen. Wenn Fred seine Hand auf meine legte oder mich auf die Wange küsste, war mir das unerträglich; es fühlte sich nicht wie eine Liebkosung an, sondern eher wie eine überhitzte Dampfwolke. Sogar Alices Ärmel an meinem Arm und die Wärme von Vaters Gesicht, als er sich vorbeugte und uns fragte, wie es uns gefiele, waren mir so unbehaglich, dass mir der Schweiß ausbrach und ich auf meinem Sitz herumrutschte.

Mir war, als hätte man mich gezwungen, diesen Abend unter Fremden zu verbringen. Ihr Vergnügen an den Einzelheiten der anderen Nummern – die ich so oft und so ungeduldig über mich hatte ergehen lassen – kam mir unverständlich und idiotisch vor. Während sie den Refrain der penetranten Merry Randalls mitsangen, über die Witze des Komikers vor Lachen kreischten, die Seherin mit weit aufgerissenen Augen anstaunten und das Rad aus Menschenleibern ein zweites Mal auf die Bühne riefen, kaute ich an den Nägeln. Als Kitty Butlers Auftritt näher rückte, wurde ich immer aufgeregter und unglücklicher. Einerseits wünschte ich nichts sehnlicher, als dass sie auf die Bühne trat, andererseits wünschte ich mir, allein zu sein, wenn sie kam – allein in meiner kleinen Loge, die Tür fest verschlossen – und nicht inmitten einer Horde von Leuten zu sitzen, denen sie nichts bedeutete und die meine Leidenschaft für sie nur komisch oder wunderlich fand.

Sie hatten mich tausendmal »Sweethearts and Wives« singen hören; sie hatten gehört, wie ich die Details ihres Kostüms, ihres Haars und ihrer Stimme beschrieb; die ganze Woche über hatte ich darauf gebrannt, dass sie sie endlich sahen und grenzenlos bewunderten. Doch jetzt, wo sie hier versammelt waren, fröhlich und laut und schwitzend, verachtete ich sie. Ich konnte es kaum ertragen, dass sie sie überhaupt anschauten. Und was noch schlimmer war: Ich konnte es nicht ertragen, dass sie mich anschauten, während ich sie betrachtete. Wieder hatte ich dieses Gefühl, als wüchse in mir eine Laterne oder eine Fackel. Wenn sie auf die Bühne trat, würde es sein, als hielte man ein Streichholz an den Docht, und ich würde aufflammen, golden und strahlend und doch irgendwie schmerzhaft und peinlich hell, und meine Familie und mein Verehrer würden entsetzt vor mir zurückschrecken.

Natürlich geschah nichts dergleichen, als sie endlich an die Rampe trat. Ich merkte, wie Davy zu mir hinsah und mir zuzwinkerte und hörte Vater flüstern: »Na, da ist es ja endlich, das tolle Mädchen.« Aber falls ich glühte und sprühte, dann doch offenbar mit einer dunklen und geheimen Flamme, die niemand bemerkte – außer Alice vielleicht.

Doch wie ich befürchtet hatte, fühlte ich mich Miss Butler an jenem Abend entsetzlich fern. Ihre Stimme war ebenso volltönend, ihr Gesicht ebenso schön wie sonst, aber ich hatte mich daran gewöhnt, ihre Atemzüge zwischen den Liedzeilen zu hören, den Schimmer der Lichter auf ihren Lippen zu sehen und den Schatten ihrer Wimpern auf den gepuderten Wangen. Jetzt hatte ich das Gefühl, sie durch eine Glaswand hindurch zu betrachten, und meine Ohren schienen mit Wachs verstopft zu sein. Als sie am Ende ihres Auftritts war, jubelte meine Familie ihr zu, und Freddy trampelte und pfiff. Davy rief: »Ich lass mich steinigen, wenn sie nicht genau so herrlich ist, wie Nancy sie uns beschrieben hat!« – dann beugte er sich über Alices Schoß zu mir herüber, zwinkerte mir zu und sagte: »Aber doch nicht so herrlich, dass ich einen Shilling in der Woche für die Eisenbahn ausgeben würde, um sie jeden Abend zu sehen!« Ich antwortete nicht. Kitty Butler stand wieder auf der Bühne und sang ihre Zugabe; sie hatte die Rose schon aus dem Knopfloch gezogen. Es tröstete mich nicht, dass meine Familie sie bewunderte – eigentlich machte mich das nur noch unglücklicher. Wieder blickte ich Kitty Butler an, wie sie da im Lichtstrahl stand und dachte bitter: Du wärst immer herrlich, ob ich nun hier wäre oder nicht. Du wärst herrlich, auch ohne meine Anbetung. Was dich angeht, könnte ich jetzt ebenso gut zu Hause sein und Krebsfleisch servieren.

Doch während ich noch diese Gedanken hatte, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Sie war am Ende ihres Liedes angelangt, dann kam die übliche Geschichte mit der Blume und dem hübschen Mädchen, und als das vorüber war, wandte sie sich um und wollte hinter die Bühne gehen. Aber während sie das tat, sah ich, wie sie den Kopf hob und auf den leeren Stuhl schaute, auf dem ich sonst immer gesessen hatte – ich schwöre es, sie schaute dort hin! Dann senkte sie den Kopf und ging ab. Wenn ich heute Abend in meiner Loge gewesen wäre, hätte sie mich angesehen! Wenn ich doch bloß in meiner Loge gewesen wäre und nicht hier!