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FRAUEN IM SINN

 

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Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

 

 

Ivan E. Coyote

 

Als das Cello vom Himmel fiel

 

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Krug

 

 

 

K&S digital

Dieses Buch ist den Männern meiner Familie gewidmet.

Insbesondere Dir, Dad.

1

 

Wenn ich geahnt hätte, was er damit vorhat, hätte ich ihm den Wagen gar nicht erst verkauft.

Ich hatte ihn ab und zu in der Stadt gesehen, ein, zwei Mal im Café, wo er Kaffee trank, ohne Milch, ohne Zucker, aber nie etwas aß, und dann und wann in Idas kleinem Lebensmittelladen, wo er Cracker kaufte und Austern in der Dose und Konservensuppen, Junggesellenzeug eben. Ich weiß, wovon ich rede.

Ein paar Mal hatte ich ihn mit ausgestrecktem Daumen am Highway stehen sehen, wenn ich in der Gegenrichtung unterwegs war. Nicht dass ich ihn sonst unbedingt mitgenommen hätte. Für gewöhnlich habe ich nämlich den großen Hund vorn auf dem Sitz neben mir, der ewig haart und eigentlich keinen Platz für einen weiteren Beifahrer lässt, worüber Allyson sich immer beschwert hat, bevor sie fortging. Ich schätze, ich habe die Abneigung gegen Anhalter von meinem Dad geerbt, und außerdem hatte ich auch nichts Gutes über den Typ gehört, wenn man glauben kann, was die Leute erzählen. Mein Kumpel Rick Davis hat ihm den Spitznamen Cowboy verpasst, eine Art sarkastischer Kommentar zu dem Strohhut, den er immer trägt, und dem dazu passenden Pferd, das ihm offensichtlich fehlt. Die Jungs, mit denen ich Hockey oder Poker spiele, mögen den Cowboy jedenfalls nicht besonders. Sie trauen ihm nicht. Rick sagt, es ist, weil der Typ allem Anschein nach keine reguläre Arbeit hat und allein in einem Schulbus lebt. Ich dachte insgeheim immer, dass er unbeliebt ist, weil er ziemlich gut aussieht, das sagen die Frauen zumindest, und ein Haufen dickwanstiger Pokerspieler mit beginnender Glatze findet es vermutlich nie gut, wenn ein ungebundener Mann in der Stadt auftaucht. Nick, der neue Zahnarzt, wurde jahrelang von niemandem zum Dinner eingeladen, bis er diese blonde Krankenschwester aus Edmonton importierte und sie, wie es sich gehört, heiratete und sie mitsamt ihrem Flügel bei ihm einzog. Jetzt ist er einer von den Jungs, als hätte er sein ganzes Leben hier in Drumheller verbracht, genau wie wir anderen.

Als der Cowboy letzten Monat in die Werkstatt kam und sich nach dem Volvo erkundigte, wurde mir klar, dass ich ihn nie zuvor hatte reden hören. Kein netter Zug von mir, wenn man’s recht bedenkt. Er lebt inzwischen schon fast drei Jahre draußen auf Archies Farm, mindestens, und ich schätze, ich habe dem Mann noch nicht ein einziges Mal ordentlich guten Tag gesagt.

»Carson mein Name. James oder Jim. Die Leute sagen beides. Hab den Wagen draußen gesehen, der zum Verkauf steht.«

Seine langfingrige Pfote erschien in dem seitlichen Lichtviereck zwischen dem Betonboden und dem Chassis von Betty Makerewitschs Taurus. Ich lag auf dem Rücken darunter, auf dem Rollbrett, weil Franco die Hebebühne mit Beschlag belegt hatte. Ich kam unter dem Wagen hervorgerollt, um James oder Jim Carson die Hand zu schütteln.

»Hab den Wagen vorne gesehen, der zum Verkauf steht«, wiederholte er. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand gleich zur Sache kommt. Bei dem Typ gab’s keine großen Vorreden, das lag klar auf der Hand. Manche Leute haben für müßiges Geschwätz nichts übrig. Es hat schon Tage gegeben, an denen ich mir gewünscht habe, Franco gehörte zu ihnen. Ich kam ebenfalls gleich zur Sache. Ich wischte meine ölverschmierte Flosse an meinem Overall ab und schüttelte dem Fremden zum ersten Mal die Hand. Sein Händedruck war fest, gehörte aber nicht zu der »Guck mal, wie kernig ich bin«-Sorte, die einem vorkommen wie der Auftakt zu einem Faustkampf. Einfach eine anständige Begrüßung.

»Der Volvo«, sagte ich. »Den hab ich als Bezahlung für eine Reparatur bekommen. Hat Donny Nolans ältester Tochter gehört. Er hat ihn vor elf Jahren für sie gekauft – nagelneu. Also nur ein Vorbesitzer, von einer Frau gefahren. Hat allerdings hundertzwanzigtausend auf dem Buckel, weil sie immer zur Filmhochschule nach Winnipeg gefahren ist, wurde aber ordentlich gepflegt, das steht fest, und ist immer noch gut in Schuss. Solide Sache. Ich dachte an drei acht. Ich habe den Vergaser überholt und die Zylinderkopfdichtung ausgetauscht. Neue Batterie. Prima kleine Kiste. Hat auch noch viel Gummi auf den Reifen.«

Wir traten durch das offene Rolltor auf den asphaltierten Hof vor der Werkstatt und gingen zu dem blauen Volvo hinüber. Carson blieb nicht stehen, um gegen die Reifen zu treten oder unter die Motorhaube zu gucken, sondern öffnete die Fahrertür und faltete seine lange Gestalt in das ledergepolsterte Wageninnere. Er strich mit den Händen über das Lenkrad und probierte die Gangschaltung aus. Er war ungefähr einen halben Kopf größer als ich und schob den Sitz zurück, um sich mehr Beinfreiheit zu verschaffen. Dann musterte er entweder sich selbst oder den leeren Fond im Rückspiegel, das war von da aus, wo ich stand, schwer zu sagen.

»Wollen Sie eine Proberunde drehen?«

Er schien meine Frage nicht gehört zu haben. »Drei acht wollen Sie dafür haben? Lassen Sie sich auf einen Tauschhandel ein?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich habe ihn schon durch einen Tauschhandel bekommen. Irgendwie muss ich zusehen, dass ich flüssig bleibe.«

Ich hatte mich in all den Jahren schon oft auf einen Tauschhandel eingelassen. In einer Stadt, in der hauptsächlich Farmer, Rancher und Jäger lebten, wurden mir statt Geld oft andere Dinge dafür angeboten, dass ich dieses oder jenes reparierte. Leider konnte ich mit tiefgefrorenem Rotwild oder ein paar Klaftern Feuerholz keine Ersatzteile kaufen und auch die Stromrechnung nicht bezahlen. Franco arbeitete auch nur gegen Geld.

»Das Geld habe ich nicht«, sagte der Cowboy. Seine Hände lagen immer noch auf dem Lenkrad, auf zehn Uhr und zwei Uhr, wie mein Dad es mir vor vielen Jahren beigebracht hatte.

»Sie könnten doch mit der Bank sprechen und um einen kleinen Kredit bitten?« Ich hob die Stimme am Ende des Satzes, um ihn halbwegs nach einer Frage klingen zu lassen. Ich wusste, dass der Typ keinen festen Job hatte. Er hatte eine mehr als anständige Veranda und einen Zaun für Mrs. Baker gebaut, als die das Geld von der Versicherung bekam, und er hat auf Archies Farm ausgeholfen, wo sein ausrangierter Schulbus stand, aber ich glaubte nicht, dass die Bank geneigt wäre, ihm einen Kredit zu geben.

»Die Zeit habe ich nicht. Ich brauche den Wagen sofort. Ich brauche ihn morgen.«

»Und was hätten Sie im Tausch anzubieten?« Ich hoffte, es würde etwas sein, das ich bereits besaß oder nicht brauchte, damit ich guten Gewissens nein sagen konnte. Geschäft ist Geschäft.

»Ein handgefertigtes Cello.«

»Wie bitte?«

»Ein Cello. Ein Musikinstrument. Man spielt es mit einem Bogen, wie eine Geige, aber es ist viel größer. Es ist wunderschön gearbeitet und eine Menge mehr wert als dreitausendachthundert Dollar. Eher fünf- bis sechstausend.«

»Ich spiele kein Instrument. Hab kein Händchen dafür. In der Highschool hab ich’s mit Trompetespielen versucht. Hat mir aber keinen Spaß gemacht.«

»Streichinstrumente sind was anderes als Blechblasinstrumente.« Er zog ein plattgedrücktes Päckchen Player’s aus seiner Jeansjacke und drückte mit seinem breiten Daumen auf den Zigarettenanzünder. »Sie haben viel mehr Seele. Sie sollten darüber nachdenken. Ein neues Hobby. Um sich die Zeit zu vertreiben, wo Ihre Frau doch weg ist. Der Wagen braucht einen neuen Zigarettenanzünder.«

Ich trat einen Schritt zurück. Ich erwog kurz, sauer zu sein, weil dieser Typ, den ich kaum kannte, mein Privatleben ins Spiel brachte, während wir über einen Gebrauchtwagen verhandelten, aber dann fiel mir ein, was meine Mom am Abend zuvor gesagt hatte. Als ich von meinem Spaziergang mit Buck Buck heimkam, saß sie hinterm Haus auf den Stufen meiner Veranda. Neben ihrem Hinterteil stand ein mit Frischhaltefolie abgedeckter Hackbraten.

»Da bist du ja«, sagte sie und hievte sich hoch. »Hier – für dich. Deine Schwester und ich haben neulich über dich gesprochen. Wir machen uns Sorgen. Wir sind der Ansicht, dass du ein Hobby brauchst. Das Leben geht weiter. Du musst Allys Arbeitszimmer ausräumen und den Rest ihrer Sachen nach Calgary schicken. Sie kommt nicht zurück, Joseph. Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Du musst nach vorn schauen. Besorg dir ein Tagebuch oder bastel irgendwas in deiner Werkstatt – was auch immer. Ich muss los zum Bingo. Du musst zum Friseur.«

Ich beschloss auf der Stelle, mich auf den Tauschhandel einzulassen und das Cello zu nehmen. Der Wagen stand jetzt schon seit sechs Wochen mit dem Schild »Zu verkaufen« hinter der Windschutzscheibe da, und niemand hatte mehr als ein flüchtiges Interesse daran gezeigt. Ich beschloss, mir ein neues Hobby zuzulegen und mir meine Mom und Sarah auf diese Weise eine Weile vom Leib zu halten. Alles, was es mich kosten würde, waren die Ersatzteile, die ich in Nolans Traktor eingebaut und die Arbeit, die ich in den Volvo gesteckt hatte. Es gefiel mir immer noch nicht, dass der Typ das Verschwinden meiner Frau so beiläufig zur Sprache gebracht hatte, aber ich musste ihn ja auch nicht mögen, um ein Geschäft mit ihm zu machen. Der Volvo konnte noch Monate da stehen; ich war Automechaniker, kein Autoverkäufer. Musikinstrumente waren teuer, das wusste ich, weil Rick Davis ewig darüber klagte, immer noch die Raten für das Baritonsaxofon seines ältesten Sohnes abstottern zu müssen, und dabei war der Junge schon seit letztem Juni mit der Schule fertig. Fünftausend Mäuse bedeuteten eine ganze Menge Cello.

Ich schüttelte dem Cowboy zum zweiten und letzten Mal die Hand. »Bringen Sie das Ding morgen vorbei. Ich habe die Papiere für den Wagen in meinem Schreibtisch. Ich bin ab halb acht hier. Wollen Sie denn nun eine Proberunde drehen?«

Er schüttelte den Kopf und zündete sich mit einem silbernen Aufblitzen seines Zippos eine zerdrückte Zigarette an. »Wenn Sie sagen, dass er in Ordnung ist – ich verlasse mich auf Ihr Wort.«

Normalerweise hätte ich gesagt, dass Rauchen im Auto nicht erlaubt ist, aber dann dachte ich, was zum Teufel. Der Wagen gehörte jetzt schließlich ihm – er konnte darin so viel rauchen, wie er wollte. Ich rauche nie in meinem Pick-up, aber auch nur wegen dem Hund.

James oder Jim Carson lehnte meine Einladung auf eine Tasse Kaffee ab. Er sagte, er hätte noch was zu erledigen und käme gleich am nächsten Morgen wieder. Ich kramte einen Kaufvertrag hervor, zog den Stecker des »Geöffnet«-Leuchtschilds heraus und schloss ab.

 

Die Sonne arbeitete sich noch am Horizont hoch, als ich am nächsten Morgen die drei Straßen von meinem Haus zur Werkstatt hinüberging. Im Büro brannte schon Licht, und das »Geöffnet«-Schild leuchtete bereits. Der Volvo war weg.

Franco saß auf seinem Stuhl auf der anderen Seite meines Schreibtischs und trank Kaffee. Das Cello lehnte in der Ecke und nahm viel zu viel Raum ein. Neben der staubigen Kaffeemaschine und den Wandkalendern, alten wie dem aktuellen, wirkte der schwarze, blankpolierte Koffer fehl am Platz. Die Kopien des Kaufvertrags, die für den Verkäufer gedacht waren, lagen säuberlich mitten auf meinem Schreibtisch. Buck Buck drehte sich unschlüssig um sich selbst; er wusste nicht recht, wo er sich niederlassen sollte, weil der Platz neben der Heizung besetzt war.

Ich nahm das Cello und stellte es zu dem Besen und dem Vorrat an Druckerpapier in die Kammer.

»Der Typ, der bei Archie in dem alten Schulbus wohnt, war vor einer halben Stunde hier«, sagte Franco und blätterte seine Zeitung um. »Ich habe bei dir angerufen, aber du warst wohl mit dem Hund draußen.« Er warf mir von seinem mit Klebeband geflickten Drehstuhl aus einen schrägen Blick zu. »Ich wusste zwar beim besten Willen nicht, wozu du ein Cello brauchen solltest, aber der Typ behauptete steif und fest, dass ihr euch einig geworden wärt. Es klang zu verrückt, um nicht wahr zu sein, wenn du verstehst, was ich meine. Er hat den Kaufvertrag ausgefüllt, und ich habe deine Unterschrift gefälscht, damit er den Wagen mitnehmen konnte. Er meinte, er hätte es eilig.«

»Danke, Franco.« Ich schenkte mir einen Kaffee ein, gab ein Stück Zucker dazu und rührte ihn mit dem Stift aus meiner Brusttasche um.

»Seit wann brauchst du ein Cello statt einen astreinen Wagen?«

Ich holte langsam Luft. Wie gesagt, manchmal redet Franco zu viel.

»Ich dachte, ich lege mir ein neues Hobby zu.«

»Du kannst nicht mal pfeifen.«

»Kann man nicht ab und zu mal was Neues ausprobieren?«

»Du hörst reine Nachrichtensender. Ich hab noch nie erlebt, dass du die Stereoanlage angehabt hast. Ich hab dich eben nie für musikalisch gehalten, das ist alles.«

»Ich weiß nicht, ob ich musikalisch bin, aber meine Mom sitzt mir im Nacken, ich soll mir ein Hobby zulegen, und der Mann brauchte einen Wagen, also habe ich das verdammte Cello genommen. Nun können alle glücklich und zufrieden sein. Vielleicht bin ich gut. Vielleicht bin ich Albertas nächster Ashley MacIsaac.«

»Der stammt aus Nova Scotia. Und er spielt Geige. Und außerdem ist er ’ne Schwuchtel.« Franco schlug die Augen nieder, und ich sah zu, wie ihm die Röte in seine stoppeligen Wangen kroch. »Tut mir leid, Joey.«

»Brauchst dich bei mir nicht zu entschuldigen, Franco.« Ich wusste, was er dachte. Er dachte an Allyson, die in Calgary mit einer anderen Frau zusammenlebte. Er dachte, dass er indirekt meine Frau, die Lesbe, beleidigt hätte, indem er Ashley MacIsaac eine Schwuchtel genannt hatte. Ich hatte es allmählich satt, dass alle Leute mein Privatleben zur Sprache brachten, als ginge es um die Hockey-Ergebnisse oder das Aktuelle vom Tage. Selbst ein Typ, der ohne Telefon in einem ausrangierten Schulbus auf einer Farm zwanzig Minuten außerhalb der Stadt lebte, hatte mitbekommen, dass meine Frau abgehauen war und mit wem. Das mochte zum Teil daran liegen, mit wessen Frau sie die Stadt verlassen hatte. Kathleen Sawyer. Mitch Sawyer ist der Besitzer der Esso-Tankstelle an der Fourth Avenue, und seine Frau war eine ziemlich unauffällige Kindergärtnerin gewesen, über die es nicht viel zu tratschen gegeben hatte, bis sie und Allyson Mitch und mir am selben Abend erzählt hatten, was Sache war.

Das war jetzt gut ein Jahr her, und seitdem verbringt Mitch mindestens drei Abende in der Woche in der Lounge vom Capitol Hotel und erzählt allen, die sich auf ein Bier zu ihm gesellen, alles über seine Frau und meine Frau und ihr Künstlerloft in Calgary, das nur ein Schlafzimmer hat.

Mitch Sawyer scheint zu denken, dass die Tatsache, dass Kathleen ihn wegen einer anderen Frau verlassen hat, mehr Saufen und Mitleid erfordert, als wenn sie sich mit seinem Bruder oder dem Briefträger davongemacht hätte, aber ich sehe es nicht so. Meine Frau, mit der ich fünf Jahre verheiratet war, hat mich verlassen, und es ist mir ziemlich egal, mit wem sie fort ist – ich weiß nur, dass sie fort ist, und das ist jetzt zwölfeinhalb Monate her, und es sieht nicht so aus, als würde sie zurückkommen. Trinken scheint auch nicht viel zu helfen, und so versuche ich meistens bloß Mitch Sawyer aus dem Weg zu gehen. Ich finde den Sprit bei Mohawk ohnehin besser, höhere Oktanzahl, und außerdem haben sie eine Videoausleihe direkt in der Tankstelle. Ich habe in letzter Zeit ziemlich viele Filme gesehen.

Ich wechselte das Thema, indem ich mir das Klemmbrett mit den Arbeitsaufträgen schnappte, das an dem Nagel neben der Tür hing. »Willst du den Kühler bei dem F-150 austauschen oder dich um das Getriebe von dem Subaru kümmern?«

»Bist du sauer auf mich, Joey? Ich finde es klasse, dass du ein Cello hast und spielen lernen willst. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.«

»Meine Gedanken sind meine Sache, Franco.«

»Ich sage das ja nur, weil du für mich zur Familie gehörst. Ich habe deinem Vater versprochen, auf dich achtzugeben.«

»Du hast ihm nichts dergleichen versprochen. Mein Vater war immer der Ansicht, jeder sollte sich um seinen eigenen Kram kümmern.«

»Dein Vater hat mehr als eine Ansicht vertreten. Du vergisst, dass ich ihn schon kannte, bevor du überhaupt auf der Welt warst. Er war wie ein Bruder für mich. Er war nicht so wie du. Mit deinem Vater konnte man sich unterhalten. Er hat immer gesagt, dass dein Kopf so fest vernäht ist wie ein Baseball. Er hat nie gewusst, was in dir vorgeht.«

»Getriebe oder Kühler, Franco?«

»Du solltest ein bisschen lockerer werden, Joey. Am Ende kriegst du noch Prostatakrebs, so wie Archies kleiner Bruder. Vor lauter Stress.«

»Dann also das Getriebe.« Es war acht Uhr. Ich stellte die Nachrichten lauter und verschwand unter der Kühlerhaube von dem Ford. Mit Franco wechselte ich kein Wort mehr, bis wir vier Stunden später Mittagspause machten. Wir zogen unsere Overalls aus und gingen ins Café hinüber, um einen Happen zu essen. Keiner von uns war dazu gekommen, sich etwas für die Mittagspause mitzunehmen.

Während ich meinen Rindereintopf aß, redete Franco vom Angeln. Kein Wort über Frauen, weder seine noch meine. Francos Frau Claudia hatte ihn vor dreißig Jahren verlassen. Wegen seiner Trinkerei. Ich erinnerte mich noch genau daran. Es war in dem Sommer, als ich zehn wurde. 1974. Richard Nixon trat als Präsident der Vereinigten Staaten zurück; im Gymnasium zeigten sie uns am vorletzten Schultag einen traumatischen Film zum Thema Atomkrieg, und Francos Frau nahm die Kinder und zog in das Souterrain im Haus ihrer Schwester. Franco übernachtete drei Monate lang auf der Klappcouch in unserem Nähzimmer. Das war kurz bevor er anfing, bei meinem Vater zu arbeiten. Aber über Claudia hat Franco nie mit mir gesprochen, nicht einmal als Allyson gerade weg war, und ich bin nicht der Typ, der Dinge anspricht. Franco redet viel über Frauen, aber nie über Claudia.

Franco hat auch nicht über Allyson oder mein neues Hobby oder meinen Stresspegel geredet. Die ganze Mittagspause über hat er nur vom Angeln erzählt. Die ewigen Geschichten über die, die ihm entwischt sind.

An dem Abend schleppte ich das Cello mit nach Hause und legte es auf das kleine Sofa neben dem Wohnzimmerfenster, wo Ally an regnerischen Tagen immer gelegen und gelesen hat. Ich öffnete den Cellokoffer. Da drinnen roch es wie auf dem Dachboden oder in einem alten Reisekoffer. Das Holz schimmerte in sattem Rotbraun. James oder Jim hatte das Cello für mich auf Hochglanz poliert. In dem Kasten befanden sich außerdem noch ein weicher Lappen, ein Bogen mit einem vom vielen Gebrauch gezeichneten Griff und eine kleine Dose Wachs. Ich nahm das Cello nicht heraus. Ich saß eine Weile einfach nur da und betrachtete es. Ich würde mir eine Anleitung aus der Bücherei besorgen müssen. Ich streckte die Hand aus und zupfte an der dicksten Saite. Der Korpus des Cellos gab einen tiefen, satten vibrierenden Ton von sich, bis ich meine Hand darauf legte. Es fühlte sich warm an, als wäre es lebendig. Als könnte es selbsttätig atmen, wenn ich nur herausbekäme, wie man es in Gang setzte.

Ich schloss den Koffer und ging in Allysons Arbeitszimmer. Ihr Schreibtisch stand immer noch da, ein massives Eichentrumm aus dritter Hand, das ich ihr zu unserem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Auf der ausgeblichenen Schreibtischplatte stand immer noch eine Tasse; der Kaffeerest war wie Farbe auf dem Boden und an den Seiten getrocknet. Die Tasse war orange, Allysons Lieblingsfarbe. Sie war mit limonengrünen und zitronengelben Blümchen verziert, wie in den Siebzigern. Ich glaube, sie hatte einmal meinen Eltern gehört. Ich glaube, wir hatten früher das komplette Service. Ally hatte sie vermutlich bei dem Garagenverkauf aus dem von Mom und Sarah aussortierten Geschirr ergattert, nachdem sich meine Mom bei Ikea in Calgary das neue Service gekauft hatte. Ally liebte alte Dinge. Unseren ersten richtigen Streit hatten wir wegen der Küchenausstattung, als wir dieses Haus kauften. Ally mochte den Kühlschrank und den Herd im Harvest-Gold-Design. Meine Mom war der Ansicht, sie wären hässlich und müssten ersetzt werden. Mir war es egal. Herd wie Kühlschrank funktionierten noch tadellos, aber ich ließ mir von meiner Mom einreden, wir bräuchten einen Herd und einen Kühlschrank aus Edelstahl und dass Ally begeistert sein würde. Ich dachte, Ally würde freudig überrascht sein, aber sie ließ mich die neuen Errungenschaften nicht mal abladen. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie Harvest Gold Edelstahl vorziehen würde.

Schließlich musste ich mir einen ernsthaften Vortrag darüber anhören, wie ungesund es für einen erwachsenen Mann sei, wenn seine Mutter die Entscheidungen für ihn traf, und dass ich nun verheiratet sei und dass das bedeutete, dass es Aufgabe meiner Frau war, mir zu sagen, welche Farbe der Herd haben sollte, ganz zu schweigen davon, dass der Kauf neuer Sachen, wenn die alten noch funktionierten, genau das war, was diesen Planeten schließlich in eine große Giftmüllkippe verwandeln würde und so weiter. Schließlich fanden wir einen Kompromiss. Ich würde den neuen Kühlschrank und den neuen Herd am nächsten Tag zurückbringen, aber wir beauftragten Rick Davis, im Wohnzimmer an Stelle des alten orange-braunen Flauschteppichs, an dem Allys Herz hing, einen neuen Parkettboden zu legen. Der Verkäufer bei Sears lachte mich aus, als ich am nächsten Morgen bei ihm auftauchte, um Herd und Kühlschrank zurückzubringen und ihm erklärte, dass meine Frau an den alten Sachen hinge. Er fragte mich, ob meine Frau aus der Stadt käme, denn in Toronto wäre der Retro-Look dieser Tage total angesagt und mittlerweile auch schon in Calgary. Dann versuchte er mir einen brandneuen Kühlschrank und einen brandneuen Herd zu verkaufen, die auf alt getrimmt waren, und zeigte sie mir im Katalog. Ally lachte, als ich ihr das später erzählte. Sie meinte, das sei doch böse Ironie – ob ich das nicht auch fände? Was Ally nicht weiß, ist, dass der alte Harvest-Gold-Herd nicht einmal eine Woche, nachdem sie abgehauen war, den Geist aufgab, und jetzt habe ich einen funkelnagelneuen Herd aus Edelstahl neben dem Harvest-Gold-Kühlschrank stehen. Ich schulde Rick Davis noch ein weiteres Jahr lang kostenlosen Ölwechsel – im Gegenzug für einen Teil der Rechnung über das Verlegen des neuen Bodens fünf Jahre zuvor, und er klagt noch immer darüber, dass er gutes Geld für jenes Baritonsaxofon zahlen muss, das in seinem Souterrain Staub ansetzt, weil sein verdammter Sohn stattdessen beschlossen hat, im College Politikwissenschaft zu studieren. Inzwischen bin ich der einzige geschiedene Mann in der Gegend, der keinen eingebauten Eiswürfelbereiter hat. Das nenne ich wirklich böse Ironie.

Ich nahm die Tasse mit dem angetrockneten Kaffeerest und stellte sie zum Einweichen in die Spüle; dann machte ich mir ein kühles Bier auf und ging in die Garage. Ich zerrte zwei Plastikkisten hervor, räumte die darin verstaute Campingausrüstung in ein Regal und trug die Kisten in Allys Arbeitszimmer. Ich fing mit den Büchern an, die sie zurückgelassen hatte: überwiegend Schulzeug, Paläontologie, ein bisschen Jung, ein paar Romane. Bücher zum Thema Gärtnern, Töpfern und Bienenzucht. Sie hatte später einmal Bienen züchten wollen, wenn wir dieses Haus verkauft hätten und in ein größeres gezogen wären, raus aus der Stadt, irgendwohin an einen See. Wir schwammen beide gern in Seen. Die Kochbücher aus dem Regal in der Küche hatte Ally allesamt bereits mitgenommen. Sie hatte mir einmal erzählt – als wir schon zusammen, aber noch nicht hier eingezogen waren –, dass sie ohne ihre Kochbücher nirgendwo hinginge. Was das anbetraf, hatte sie Wort gehalten.

Die Bücher füllten die eine Kiste bis obenhin und die andere zu drei Vierteln. Ich holte tief Luft und zog die obere Schublade von Allys Schreibtisch auf. Ich hatte mich nicht ein einziges Mal an den Schreibtisch gesetzt, seit ich ihn Ally geschenkt hatte, genauso wie sie nie irgendetwas auf der Werkbank in der Garage angefasst oder einen Brief, der nur an mich adressiert war, geöffnet hätte. Das war eines der Dinge zwischen Ally und mir, die ich immer zu schätzen gewusst hatte – wir ließen einander Raum, wir hatten jeder unser eigenes Leben. Darüber gab es keine Debatten, dafür brauchten wir keine Regelungen, es ergab sich einfach so. Wir sind beide von Natur aus diskret. Nicht wie manch andere Paare. Bis sie damit rausrückte, was zwischen ihr und Kathleen Sawyer lief. Das war das erste Mal, dass ihre Diskretion sich in ein Geheimnis verwandelt hatte, direkt vor meinen Ohren.

Aber meine Mom hatte recht. Ally würde nicht nach Hause kommen, und außerdem brauchte sie vielleicht irgendetwas von diesen Sachen in Calgary. Sie hatte an der Uni ziemlich viel um die Ohren und sagte immer wieder, sie käme, um den Rest ihrer Sachen zu holen, schien sich aber nie aus der Stadt loseisen zu können. Ich hatte die Vorstellung, dass dieses Zimmer einmal leer sein könnte, nicht ertragen, und das Haus fühlte sich für einen allein entschieden zu groß an. Außerdem hatte ich immer gedacht, wenn ich ihr ihre Sachen schickte, könnte sie vielleicht denken, ich wollte nicht, dass sie zurückkäme, sollte es mit ihr und Kathleen nicht klappen und sie heimkommen wollen.

Mitch Sawyer hatte Kathleens Kanu verkauft und ihr Mountain Bike verschenkt – aus reiner Gehässigkeit ausgerechnet an eine Kollegin von ihr, die Kathleen nicht ausstehen konnte. Das hatte er mir erzählt, kaum dass die beiden zwei Wochen fort waren, als müsste ich deswegen stolz auf ihn sein. Wie gesagt, ich versuche meistens, ihm aus dem Weg zu gehen, außer beim Hockey, wo es sich nicht vermeiden lässt. Man kann ja schlecht anfangen, die Kerle aus der Mannschaft zu kicken, weil sie ihren Ex-Frauen gegenüber gehässig sind – dann hätte man bald nicht mehr genug Männer für ein anständiges Spiel.

Die obere rechte Schublade enthielt nur Kugelschreiber und Bleistifte und ein Ding, das aussah wie das Ladegerät für ihren Laptop. Die untere Schublade war voller Hefter, Schulzeug wie alte Essays und Tests, ohne erkennbare Ordnung aufeinandergestapelt, so wie Allys Unterlagen auch sonst immer. Ganz unten in der Schublade lag eine gerahmte Urkunde. Ich habe wirklich nicht herumgeschnüffelt, aber als ich sie in die Kiste legen wollte, konnte ich nicht umhin zu sehen, dass es sich um einen Master-Abschluss aus dem Jahr 2002 handelte, mehr als ein Jahr, bevor Ally fortging. Drei Jahre nach unserer Hochzeit. Ausgestellt auf ihren Mädchennamen, nicht auf den Bindestrich-Namen, mit dem Franco mich immer aufgezogen hatte. Die Urkunde stammte von der University of Alberta in Edmonton.

Ich hockte mich hin und dachte an das halbvolle Päckchen alter Player’s Lights, die ich in der Krimskramsschublade in der Küche aufbewahrte. Ich hatte versucht, mit dem Rauchen aufzuhören – mit begrenztem Erfolg. Aber aus irgendeinem Grund hatte meine Frau offensichtlich zumindest während einiger Jahre unserer Ehe wieder die Schulbank gedrückt und ihren Abschluss in Dinosaurierknochen gemacht, ohne mir gegenüber auch nur ein Wort zu verlieren, und plötzlich brauchte ich ganz dringend eine Zigarette.

Ich packte den Rest ihrer Sachen ein, ohne noch irgendetwas näher in Augenschein zu nehmen, und rauchte Kette. Ich schleppte die Kisten hinaus in die Garage und wuchtete sie auf das Regal neben die Campingausrüstung. Dann stolperte ich über eine Schaufel, schrammte mir das Schienbein auf und fluchte auf dem ganzen Weg bis zum Kühlschrank, wo ich mir noch ein Bier holte. Ich pflanzte meinen Hintern in einen Sessel im Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.

Es war kurz nach neun. Ich zappte mich in eine Wiederholung von Law & Order, durch eine US-amerikanische Wahldebatte nach der anderen und landete schließlich bei einem Spielfilm. Es ging um eine Frau, die mit zwei Männern gleichzeitig liiert war – der eine war ein netter, rechtschaffener Arbeiter, den ihre Mutter sich als Schwiegersohn wünschte, weil er aus einer guten Familie in der Nachbarschaft stammte, und der andere war ein Rotwein trinkender Schriftsteller, ein Schuft, auf den außer besagter Dame niemand hereinfiel. Sie schickt den netten Typ in die Wüste und zieht bei dem betrunkenen Schreiberling ein, denn natürlich ist er derjenige, auf den sie scharf ist. Und der nette Typ bläst zu Hause Trübsal und hofft, dass sie irgendwann doch zurückkommt. Tut sie auch, aber erst nachdem der Schreiberling sich als totales Arschloch erwiesen und ihr das Herz gebrochen hat, und sie tut es auch nur ihrer Mutter zuliebe, damit die nicht ausflippt und jammert, was sie der Mutter des netten jungen Mannes bloß erzählen soll, die eine Freundin der Familie ist und in dieselbe Kirche geht und so weiter.

Ich wollte gerade nach der Fernbedienung greifen und umschalten, weil es mir unwahrscheinlich schien, dass die Handlung auf eine Verfolgungsjagd oder eine Schießerei oder eine Bombenexplosion hinauslief, wonach mir in dem Moment der Sinn stand, als der nette Typ die Frau fragte, ob sie mit ihm in seiner Küche tanzen würde, wo Blumen auf dem Tisch standen und das Radio auf volle Lautstärke hochgedreht wurde.

Mir fiel die Geschichte wieder ein, die Allyson immer erzählt hatte: Als sie mich das erste Mal in der Küche tanzen sah, wusste sie, dass sie mich liebte. Sie fand, bei einem Küchentänzer wäre sie gut aufgehoben.

Ich legte die Fernbedienung wieder weg.

Es war auf der Party meiner kleinen Schwester Sarah zu ihrem dreißigsten Geburtstag gewesen, in ihrer und Jean-Pauls Küche. Es war in dem Jahr, bevor Dad starb. Ally und ich waren seit ungefähr sechs Monaten zusammen, und dies war ihre erste große Familienfeier. Jean-Paul hatte Sarah diesen schicken neuen CD-Player mit den abnehmbaren Lautsprechern gekauft, so eine Art Tischmodell. Er hatte einen richtig guten Sound, und Sarah legte Cat Stevens’ Peace Train ein. Meine Nichte Chelsea war ungefähr acht, glaube ich, und sie nahm mich bei den Händen und stellte sich auf meine Füße, und ich sollte mit ihr durch die Küche tanzen. Dann habe ich eine Weile mit Sarah und Chelsea zusammen getanzt, bis sich Chelseas zwei kleine Spielgefährtinnen auch noch auf mich stürzten und ich aufhören musste, bevor ich mir den Rücken brach.

Da tanzten nun also der nette Typ und die Frau zusammen in der Küche, und sie amüsiert sich gegen jede Erwartung prächtig. Doch sie hat immerzu diesen Vanilleduft in der Nase, und schließlich fragt sie den Typ, ob das wirklich Vanille ist, was sie riecht, denn er ist die Art von Mann, mit dem sie über alles, was ihr in den Sinn kommt, sprechen kann, und der Typ wird ganz verlegen. Er erzählt ihr, dass der Geruch von ihm ausgeht, denn seine Familie besitzt eine Gurkenfabrik, und deshalb riechen seine Hände gewöhnlich nach Essig und Zwiebeln und Knoblauch und was nicht alles, nicht besonders romantisch, und sein Dad hat ihm geraten, wenn er sich mit einer wirklich netten Frau verabredet, solle er seine Hände nach der Arbeit in warmer Milch mit Vanille baden. Das sei das Einzige, was den Gurkengeruch vertreibe, und außerdem mache die Milch seine Hände schön weich, was nicht schlecht wäre, wenn er das Glück hätte, dass die Frau zuließ, dass er sie anfasst.

Das alles erklärt der Typ der Frau, und aus irgendeinem Grund fließen meine Augen plötzlich vor Tränen über, und sie rinnen mir über das Gesicht und den Hals und in den Kragen. Ich weiß nicht mehr, wie der Film weiterging oder wie er endete.

Woran ich mich jedoch erinnere, ist, dass ich an dem Abend in meinem Sessel geweint habe, dass ich sogar zugelassen habe, Geräusche von mir zu geben, sie aus meinem Körper herauszulassen. Dass ich heftiger geweint habe als damals, als Buck, unser erster Hund, unter den Traktor gekommen war und wir ihn am Tag nach Weihnachten einschläfern lassen mussten. Heftiger als an dem Morgen, als Ally auf dem Beifahrersitz von Mitch Sawyers neuem Pick-up die Stadt verließ. Mitch haben sie den Minivan dagelassen, wegen der Kinder. Ich weinte heftiger und länger und lauter als jemals zuvor.

Ich wachte auf mit dem Gefühl, Sand in den Augen zu haben. Ich hing immer noch im Sessel, und das bunte Testbild des Fernsehers leuchtete und summte in der Dunkelheit. Ich öffnete den Deckel des Cellokoffers und betrachtete es, dann verschloss ich ihn wieder und ging schnurstracks ins Bett.

2

 

Ich träumte nichts und wachte auf, bevor der Wecker klingelte. Ich wusch die einsame Kaffeetasse ab, die in der Spüle stand, und mir wurde klar, dass ich am Abend zuvor gar nichts mehr gegessen hatte. Ich rasierte die letzten drei Tage von meinem Gesicht und nahm Buck Buck auf einen extra langen Spaziergang mit, bevor wir in die Werkstatt gingen. Es gelang mir sogar, vor Franco dazusein, was er nicht leiden konnte. Manchmal saß Franco morgens geschlagene anderthalb Stunden im Büro, ohne einen Finger zu rühren und irgendetwas tatsächlich zu erledigen, aber solange er vor mir da war, zeigte er mir auf diese Weise, wie Arbeiten aussah. Mir wäre es egal gewesen, wenn er besseren Kaffee gekocht hätte.

Ich setzte ein starkes Gebräu auf, fegte den Boden und hatte die Zeitung schon fast ausgelesen, als es Zeit war, das »Geöffnet«-Schild einzustöpseln. Franco tauchte um kurz vor halb acht auf, frisch rasiert und nach Eau de Cologne riechend, ein sicheres Zeichen dafür, dass er nach dem Broomball-Spiel am Abend zuvor noch in die Kneipe gegangen war und sich betrunken hatte oder flachgelegt worden war oder vielleicht auch beides.

Er fing schon an, bevor die Glocken an der Eingangstür aufgehört hatten zu bimmeln.

»Du bist früh dran. Hey, du kennst doch die Aushilfslehrerin von der französischen Schule? Die aus Montreal? Vor zehn Minuten saß sie noch bei mir auf dem Schoß und hat mich mit Obst gefüttert. Was für eine Nacht!«

Ich blätterte meine Zeitung um und sagte nichts.

Er starrte mich unter seinen Augenbrauen hinweg an und ging zur Kaffeemaschine hinüber. »Du siehst müde aus. Verkatert? Du liebe Güte, Joey, mit dem Zeug hier könnte ich meine Stiefel putzen. Guck mal, da schwimmt Öl auf dem Kaffee, den du gekocht hast!«

»Der gibt eben einen kleinen Kick.«

»Du siehst aus, als könntest du den gebrauchen.«

»Mir geht’s gut.«

»Ich frag ja nur, Joey.«

»Was, Franco? Was fragst du mich? Was du sagst, ergibt überhaupt keinen Sinn.«

»Lieber Gott, deine Mutter hat recht. Du bist wirklich ein miesepetriger Sack. Dieser Tage kann man seinen Kollegen nicht mal fragen, wie’s ihm geht, ohne dass er gleich paranoid wird.«

»Du hast mit meiner Mom über mich gesprochen? Sie hat mich einen Sack genannt?«

»Siehst du, was ich meine?« Franco trank einen großen Schluck Kaffee. »Also, ich mach mich an die Arbeit. Ich kann nicht den ganzen Tag rumsitzen und Zeitung lesen.«

Ich steckte mir eine Zigarette an, um meine Hände daran zu hindern, das Telefonbuch nach ihm zu werfen. Das Einzige, was mich an Franco noch mehr nervt als sein ewiges Geschwätz, ist, wenn er die Klappe hält. Verrückt, nicht?

Ich stellte zwei Vergaser ein, spannte einen Zahnriemen nach und reparierte eine Hinterradbremse, bevor ich an die Mittagspause auch nur dachte. Mein Kopf kam meinen Gedanken kaum noch hinterher, und ich musste meine Hände beschäftigt halten, damit ich nachdenken konnte.

Ich gehörte doch wohl nicht zu den Typen, die ein Problem damit hatten, wenn ihre Frau noch mal die Schulbank drückte, oder? Warum sollte sie ein Geheimnis daraus machen? Aber sie hatte es tatsächlich hinter meinem Rücken getan, hatte die Post von der Universität abgefangen und lauter so Sachen. Wieso zum Teufel hatte ich das nicht mitbekommen? Dass Ally versäumt hatte, mir zu erzählen, dass sie mit Kathleen schlief, konnte ich nachvollziehen, aber ein Fernstudium?