cover.jpg

FRAUEN IM SINN

 

img1.jpg

Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

 

 

Nisa Donnelly

 

Die Liebesgesänge der Phoenix Bay

 

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von
Almuth Heuner und Andrea C. Busch

 

 

 

K&S digital

 

»Zum Teufel, ja! Ich stehe,

habe gestanden, werde stehen;

meine Füße bringen mich um!«

 

Judy Grahn

Für Ellen, die immer da war

1

 

»Als ich drei Jahre alt war, wollte ich die Möse meiner Mutter sehen. Schockiert Sie das? Meine Mutter jedenfalls war schockiert, als sie aufwachte und ihr jüngstes Kind ihr den Kopf zwischen die Beine gesteckt hatte und sie betrachtete. Da hat sie mir zum ersten Mal eine runtergehauen. Heute glaube ich, dass ich mich nicht so sehr für ihre Möse interessierte, sondern wieder in sie hineinkriechen wollte. Vielleicht habe ich damals schon geahnt, was mich hier draußen erwartet. Das ist meine erste deutliche Erinnerung an meine Mutter.« Sie lässt die Gardine sinken und dreht sich um, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. Die Psychiaterin sieht ihr in die Augen, ohne zu blinzeln. Katzen. Machen es so. Der Gedanke blitzt auf und verschwindet. Sie wendet sich wieder dem Fenster zu.

»Mama hat mich Phoenix genannt nach der Stadt in Arizona. Das ist in unserer Familie so üblich, die Kinder nach Orten zu taufen, und so merkwürdig ist das eigentlich nicht, wenn Sie bedenken, wie viele Orte nach Menschen benannt worden sind. Unsere Namen stammen von Orten, an denen wir nie gewesen sind und wo wir eigentlich auch nicht hinwollen. Alles hat mit meiner Urgroßmutter TaTa Hassee angefangen – nach der Stadt in Florida. Ihr Vater mochte den Klang. Tallahassee. Meiner Großmutter gab sie dann den Namen Cicero, vermutlich aus demselben Grund. Das einzige, wohin sie jemals geriet, war außer sich. Das muss gewesen sein, kurz nachdem sie meiner Mutter den Namen Villanova gegeben hatte, Sie wissen schon, wegen Pennsylvania. Sie ist nie westlich des Mississippi gewesen, es sei denn, Sie lassen St. Louis gelten. Was ich nicht tue. Meine Schwester Savannah verbringt den Winter immer in Arizona – in Scottsdale, das ist gar nicht so weit weg von Phoenix. Ich dagegen habe für die Wüste nichts übrig, aber ich habe mal einen langen, verregneten Februar in den Armen einer rothaarigen Frau aus Georgia verbracht – aus Atlanta, wenn ich mich richtig erinnere. Wir waren auf dem College. Wir waren nicht ineinander verliebt.«

Unten auf der Straße rumpelt ein Bus auf die Haltestelle zu. Sie könnte zur Tür hinausgehen, die Treppe hinunter, die Straße überqueren und dann verschwinden. Der Bus windet sich durch vornehme und heruntergekommene Viertel. Sie steigt im Tenderloin aus und stolpert über einen kaputten Bordstein. Sie hält sich an einem schiefen, verrosteten Schild fest: Absolutes Halteverbot. Sie steigt eine Treppe mit abgewetztem Läufer und herausstehenden Nägeln hinauf, die wie Samenkörner aussehen. Ein kleiner Mann mit trüben Augen und verschlossenem Blick vermietet ihr wochenweise ein Zimmer. Sie redet mit niemandem, und niemand redet mit ihr. Oben in der Market Street kauft sie in einem Hi-Fi-Laden voller Billigangebote ein blaues Transistorradio. Wenn die Batterien leer sind, holt sie sich neue im Schnapsladen an der Ecke, wo der Ladenbesitzer auf einem Barhocker hinter Gittern sitzt und Flaschenbier und einzelne Zigaretten herausgibt. »’n Dime«, sagt er. »’n Dime pro Stück.« Er ist ein farbloser Mann, sehr dick; niemand wagt, ihn nach seinem Namen zu fragen. Wie alle anderen nähert auch sie sich vorsichtig seinem Thron, hält ihm mit bebender Hand lappige Dollarscheine hin und lauert auf das Wechselgeld. Zwei Dimes und drei Pennies. Sie nimmt einen Job in einem Diner zwei Häuser neben dem Hotel an, trägt eine rosa Polyesterschürze und klemmt sich einen Bleistift hinter das rechte Ohr. Auf ihrem Namensschild steht: Hallo, ich heiße Betsy oder Dolly oder Marge; es stammt von ihrer Vorgängerin. Sie hat es unter der Kasse auf der Theke entdeckt. Sie lässt alle in dem Glauben, es sei Schicksal, dass sie denselben Namen hat. Ihre Welt schrumpft auf eine kurze Häuserzeile zu beiden Seiten der Straße, wo man sich die Haare schneiden, die Zukunft weissagen, sich eine Mahlzeit vorsetzen oder die wildesten Phantasien schüren lassen kann – Preis Verhandlungssache. Die Vergangenheit holt sie dort nicht ein. Irgendwann wird sie ihren richtigen Namen vergessen. Sie wird das Weinen verlernen. Wieder einmal. Dort, wo sie hingeht, wird sie für solche Dinge keine Verwendung haben.

Der Bus unten auf der Straße erbebt und fährt wieder an.

»Phoenix?« Beim Klang ihres Namens konzentriert sie sich wieder auf die Psychiaterin, die von Sonnenlicht umrahmt ist; goldgesäumte Brauntöne. Das sind Teddy Graysons Farben: eine elegante, muskatfarbene Frau mit massiven Goldreifen, die ihren Arm hochmarschieren und niemals klimpern. Versicherte Verrücktheit macht sich bezahlt. »Sie haben mir von den Namen in Ihrer Familie erzählt. Was halten Sie von Ihrem eigenen Namen?«

»Mama hätte etwas Besseres als Arizona einfallen können. Das einzig wirklich Interessante an diesem Ort sind wahrscheinlich die Immortalisten. Zwei Männer und eine Frau. Ich habe Bilder von ihnen gesehen; sie müssen jetzt so um die Fünfzig sein. Sie haben vor, ewig zu leben; dieselben Körper, dieselben Gehirne, die immer weiter rattern, aus Angst, vermute ich, oder weil das ihre persönliche Vorstellung von Hölle ist oder vielleicht sogar von Erlösung. Ich beneide sie nicht. Ich stelle mir nur immer wieder dieselbe Frage: Wenn das wirklich alles ist, wozu strampeln wir uns dann überhaupt ab?«

 

Vor dem Fenster rekelt sich die Stadt kühl und lässig, eine überteuerte Hure, die immer noch von ihrem Aussehen lebt, wenngleich nicht mehr lange; sie hofft, dass die Fremden keinen Makel entdecken und die Stammkunden sich noch gut genug daran erinnern, wie sie einmal war, um ihr zu verzeihen, was sie geworden ist. Die Stadt. The City. Die hiesigen Zeitungen schreiben sie immer so, mit großem Anfangsbuchstaben, als ob San Francisco die einzige Stadt der Welt wäre. Die Leute hier glauben das auch. Stimmt aber nicht.

Phoenix Bay ist schon über ein halbes Jahrzehnt hier – nach kalifornischen Maßstäben eine lange Zeit – und all dem gegenüber blind geworden. Häuser klammern sich wie bunte Muscheln an die Hügel; Menschen in Lumpen lungern auf den Bürgersteigen. Wenn man lange genug hier lebt, sieht man sie nicht mehr, bis jemand auf sie hinweist, auf die Muscheln oder die Menschen. Phoenix ist wegen einer Frau hierher gezogen, was sonst. Jinx. Steckte nicht hinter jeder der dümmsten und klügsten Entscheidungen ihres Lebens eine Frau? Sie ist ein dutzendmal der Liebe wegen umgezogen, in Städte, Häuser, Leben hinein und wieder hinaus. An all ihre Adressen aus den vergangenen siebzehn Jahren kann sie sich nicht erinnern; all die Namen und Gesichter der Frauen, mit denen sie zusammengelebt hat, kann sie nicht vergessen. Und jetzt zieht sie wieder um. Rennie Johnson, der einzige Freund, der ihr überhaupt noch geblieben ist, hatte gesagt: »Wir brauchen einander.« Vielleicht. Was von ihrem früheren Leben noch übrig ist, befindet sich auf der Ladefläche des Jeeps, den sie auf der Busspur auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt hat: drei Kisten; ein Müllsack mit zwei Zwerg-Cannabispflanzen, beide weiblich und von der Sorte, die sich am besten für die Wohnung eignet und die ohne Befruchtung starken Stoff produziert, sowie eine kleine Hydrokulturwanne. Hydrokultur hat die Dopezüchter in der Stadt gerettet. Die Pflanzen sind am Leben, aber nur gerade eben, wie Phoenix selbst. Fast alles andere hat Mr. Rizzo, der Trödler, bekommen. Sie hat ihm erzählt, dass sie nach Mauritius ginge, weil ihr kein anderer Ort einfiel. Er gab ihr sechzehn Fünfzigdollarscheine. Nicht genug für ein ganzes Leben, erklärte sie ihm. Er hatte nur die Schultern gezuckt. Nicht genug.

Phoenix Bays Leben wimmelt von nicht genug. Nicht gut genug. Nicht klug genug. Nicht hübsch genug. Nicht lesbisch genug, was zum Teufel das auch immer hatte heißen sollen. Die zornigen jungen Frauen, mit denen sie damals zusammen gewesen war, nach ihrem Aufbruch ins lesbische Leben, fort aus dem Haus ihrer Mutter und in die Welt hinaus, hatten ihr das dauernd vorgeworfen. Lesbisch genug, um deine Geliebte in mein Bett zu locken, hatte Phoenix dann immer gedacht, sich aber nie zu sagen getraut. Nun, dafür jedenfalls war sie schon immer gut genug gewesen. Selbst Jinx hatte das an jenem letzten Abend zugegeben und den Kopf hängen lassen: »Der Sex war wunderbar, Phoenix, aber das war nicht genug.« Nach Jeopardy! hatte Jinx die Hausschlüssel auf den Küchentisch geworfen und war nach Sonoma County verschwunden, um sich in die Arme einer Frau zu werfen, deren Namen Phoenix sich einfach nicht merken kann. Pansy? Patsy? Irgendwas in der Art. Nicht dass das wichtig wäre. Jetzt verschwindet auch Phoenix. Manche Dinge ändern sich eben nie.

Von der dunkler werdenden Scheibe starrt eine Frau finster zurück, die riesigen Augen umschattet. Versagerin. Sie kann den Blick nicht abwenden, ist fasziniert von ihrem Schlüsselbein, das mager und kantig hervorsticht, von ihrem Hemd, das an ihr schlottert. Sie stellt sich vor, dass sie die Haut verliert. So fängt es an, so ist das also, wenn man verschwindet. Vorige Woche hatte sie gedacht, dass sie sterben würde; an Krebs vielleicht oder einer exotischen Tropenkrankheit, die von Spinnen mit scharfen, infizierten Beißwerkzeugen übertragen wird. Doch in ihr wuchert kein Krebsgeschwür, und sie war auch nicht in den Tropen; hier gibt es solche Spinnen nicht. Die Ärztin, eine hübsche Frau namens Madonna, wie die Mutter Gottes, nicht wie die Popsängerin, hatte Phoenix mitleidig oder vielleicht mitfühlend betrachtet. »Was haben Sie gegessen?« Sauvignon blanc und Oreo-Schokokekse mit Cremefüllung war nicht die richtige Antwort gewesen. Die Ärztin hatte die Stirn gerunzelt. Der Popsängerin wäre das egal gewesen; die Mutter Gottes war den Weg aller toten Engel gegangen.

»Was ist mit dem Baum los? Er sieht tot aus.«

Teddy Grayson seufzt beinahe unhörbar, aber nur beinahe. Phoenix hört, wie sie sich von dem mit gestepptem grünem Leder bezogenen Stuhl erhebt, dessen Knöpfe tadellos, unberührt sind, nicht wie bei dem Sofa für die Klientinnen, an dem die Knöpfe lose sind und die Falten im Leder frei von Staub. Zu viele verzweifelt geschäftige Finger. »Welcher Baum, Phoenix?« Teddy Grayson riecht sogar teuer. Sie tritt neben Phoenix und beugt sich vor, um aus dem schmalen, unterteilten Fenster zu sehen. Unterteilt, damit die Ungebärdigen oder wirklich Verzweifelten nicht davonfliegen, hinaus auf die California Street, auf der die Cable Cars singen und kreischen, an denen Touristen wie grinsende Schnecken kleben. »Ein Götterbaum, und er ist nicht tot. Täuschend, nicht wahr, wie leblos er im Winter wirkt? Nächsten Monat können Sie sehen, wie er austreibt. Im Sommer sind sie nicht wiederzuerkennen. Der Wechsel geht sehr schnell und ist wirklich verblüffend.«

Phoenix dreht sich um und betrachtet die Psychiaterin eingehend. »Soll das eine Metapher sein?«

»So habe ich es nicht gemeint, nein.«

Sie lächelt ein bisschen. »Gut, denn sie war nicht besonders ausgefeilt. Ich war mal Englischlehrerin, wissen Sie. Aber wahrscheinlich war ich auch darin nicht besonders gut.«

»Wollen Sie mir davon erzählen, Phoenix?«

Sie weicht Teddy Graysons forschendem Blick aus und betrachtet die drei afrikanischen Masken, die an der gegenüberliegenden Wand hängen und sich den Platz mit goldgerahmten Urkunden teilen, die Phoenix nicht gelesen hat. Die Masken sind interessanter, die leeren Augenhöhlen folgen jeder Bewegung, der Ausdruck verändert sich je nach Lichteinfall. Sie wirken immer ein bisschen überheblich, als ob die Geheimnisse, die sie hier hören, nichts wären im Vergleich zu dem, was sie in ihren hundert oder mehr Jahren mitbekommen haben. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Am Montag Nachmittag wusste ich auf einmal nicht mehr, welchen Kurs ich da eigentlich unterrichtete. Hamlet trat im Sommernachtstraum auf. Ich glaube, wenn Sue Lin nicht gewesen wäre, hätte es niemand gemerkt. Sie war meine beste Schülerin.« Sue Lin wird ihre Töchter Ophelia oder Desdemona nennen. Oder auch nicht. »Sie holte den Rektor, als ich nicht aufhören konnte zu heulen.« Ob Teddy Grayson wohl annimmt, dass sie lügt? Sie hatte nämlich nicht geheult; sie hatte Tränen vergossen wie Ophelia und Gran Cicero, die Hände gerungen und den Himmel um Erlösung angefleht. Stattdessen war der Rektor gekommen, der panische Angst vor Lesben hatte. Das hatte weniger mit Phoenix zu tun als vielmehr mit seiner Frau, die Schauerromane schrieb und ihre Sekretärin, eine bezaubernde Butch mit schwarzen Augen, erst ins Haus und dann in ihr Bett geholt hatte. Der Rektor besaß offensichtlich weder den Verstand noch den Stolz, sie zu verlassen; stattdessen zog er ins Gästezimmer, dessen Fenster auf die preisgekrönten Rosenstöcke der Schriftstellerin hinausging, an die er jeden Abend vor dem Schlafengehen feierlich pinkelte.

»Lehrerin zu sein ist das einzig Respektable, das ich in meinem Leben geschafft habe, jedenfalls in den Augen meiner Mutter. Was soll ich ihr denn jetzt sagen? Dass ich nicht essen kann? Nicht schlafen kann? Dass ich schreiend aus dem Schlaf hochschrecke?«

Phoenix betrachtet Teddy Grayson, die wieder reglos dasitzt, die Fingerspitzen aneinandergelegt, das Gesicht vollkommen ruhig, ausdrucksloser als die Masken an der Wand. Sie ist eine geduldige Frau (Geduld ist in diesem Beruf sehr wichtig) und von jener sorgfältigen Schönheit, die reifen, erfolgreichen Frauen oftmals eigen ist. Das Gesicht einer Frau, die Listen aufstellt, einer Frau mit Sinn für Prioritäten. Phoenix kann Prioritäten nichts abgewinnen. Sie versteht Frauen nicht, die es können.

»Phoenix, wie oft ist es vorgekommen, dass Sie schreiend erwacht sind?«

Schreiend erwacht? So ausgedrückt klingt es weniger bedrohlich. Wahrscheinlich hat Teddy Grayson das an einer der Universitäten gelernt, die ihr die Urkunden an der Wand ausgestellt haben. Phoenix zuckt die Schultern, erwischt. Sie hatte der psychoanalytischen Falle nicht so nahe kommen wollen. »Diese Woche? Zwei-, dreimal. Und heute morgen wieder. Davor? Weiß ich nicht. Ein paar Mal, glaube ich. In der Nacht, als Daddy wegging. Und Jinx. Es ist ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass man völlig am Boden ist.« Phoenix Bay blickt auf und lächelt, flüchtig, unaufrichtig, und mustert dann ihre Hände: lange Finger, eingerissene Nägel, ein Nagelbett blutig gebissen. Früher ist sie stolz auf ihre Hände gewesen und hat sie jeden Abend dick eingecremt. Jinx mochte ihre Hände sehr. Aber Jinx hatte vieles an Phoenix gemocht, bevor sie strauchelte und abstürzte, nicht nur bis dahin, wo Träume wie Seide reißen – mit diesem hohen, vollkommenen Jaulen –, sondern noch tiefer, wo alles ganz klar wird, weil nichts mehr übrig ist: Stolz, Scham, Freude, Hoffnung, vor allem Hoffnung. Übrig ist nur eine kristallene Vision dessen, was ist und was nie wieder sein kann. Das sollte tröstlich sein, ist es aber nicht.

»Komisch, ich dachte immer, ganz unten zu sein würde anders aussehen … ich weiß auch nicht … jedenfalls irgendwie anders, grotesker, wie die Hölle in einem billigen Horrorfilm. Aber es ist genau wie das übrige Leben, nur sauber abgenagt.« Gebleichte Knochen im Wüstensand. Schwarzweiße Schatten. Große Photographen sehen die Welt auf diese Weise, filtern die verführerischen Farben heraus, bis nur noch reine Formen und Gefühle übrig sind. Photographen und Bluessängerinnen. »Ob Bessie Smith je schreiend erwacht ist? Wahrscheinlich nicht. Passt wohl eher zu Janis Joplin. Vielleicht ist es ein Phänomen der Baby-Boomers. Warum auch nicht, nach all den leeren Versprechen, die sie uns gemacht haben. Disneyland. Scheiß-glücklich-bis-an-ihr-Lebensende. Das süße kleine Schneewittchen und seine sieben Eunuchen. So ’n Quatsch.

In Disneyland hatte ich mal eine religiöse Erfahrung. Damals hab ich natürlich noch getrunken. Das war an dem Wochenende nach Daddys Tod, als ich Jinx in einer Bar in West-Hollywood getroffen habe. Freud hätte wahrscheinlich mehr draus gemacht, als es eigentlich war. Daddy hatte mir immer versprochen, dass er mal mit mir hinfahren würde – nach Disneyland, meine ich. ›Nur wir beide‹, hat er immer gesagt, ›aber du musst brav sein.‹ Ich war wohl nie brav genug. Und niemand liebt dich je genug. So läuft das Spiel nun mal. Daddy hat das auch immer gesagt: ›So läuft das Spiel.‹ Ich hab mich immer gefragt, was er damit meinte. Ich hätte ihn wohl mal fragen sollen. Ich hätte ihn eine Menge fragen sollen, etwa, wie er fortgehen und ein siebenjähriges Mädchen in einem Haus voller verrückter Frauen zurücklassen konnte. Jetzt ist es wohl zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Er ist tot, und ich muss mit meinem Erbe leben.«

Phoenix geht zum Sofa, setzt sich auf die breite Armlehne und streckt die Beine aus. Sie hat kräftige Beine, nicht besonders lang und eher muskulös als wohlgeformt. Sie ist eine leidenschaftliche Frau mit riesigen dunkelblauen Augen und vollen Lippen, die für ihr Gesicht fast zu groß sind. Mit ihren gescheckten Haaren – blonde und graue Strähnen und Schatten in einem braunen Feld, als ob die Sonne sich dort niedergelassen hätte – sieht sie eher schnuckelig als verführerisch aus. Obwohl Geliebte und gelegentlich auch Fremde Phoenix für schön halten, ist ihre Schönheit doch mehr zufällig, von der Art, wie man ihr im tiefsten Hinterland oft begegnet. Nach all den Jahren sieht man es ihr immer noch an, trägt sie seinen Klang noch auf der Zunge, in den Ohren. Nichts von diesem verhassten Ort war je, konnte je schön sein. Sie verschränkt die Hände hinter dem Kopf, lehnt sich zurück und starrt an die Decke. Kleine Muster versuchen sich durch den Gips zu drücken. Sie ist ein Kind und entdeckt Gesichter in den Wolken. Da, ein Hahn. Da, ein Streitwagen. Da, das Auge Gottes.

»Meine Mutter hat heute morgen um sechs angerufen. Sie telefoniert gern, wenn’s billig ist. Und weil ich nirgendwo anders sein kann, erwischt sie nicht den Anrufbeantworter mit dem Text, den Jinx darauf gesprochen hat: ›Wir können gerade nicht ans Telefon gehen. Wir sind auf der Suche nach dem vollkommenen Orgasmus.‹ Sie können sich nicht vorstellen, was für Nachrichten die Leute hinterlassen. Hinterlassen haben, meine ich. Wissen Sie, Jinx und ich haben vieles vielleicht nicht gut hingekriegt, aber vögeln konnten wir verdammt gut. Darin waren wir beide Spitze. Zum Glück bin ich erst darauf gekommen, als sie schon weg war – sie weiß es bestimmt noch nicht: Die Suche nach dem vollkommenen Orgasmus ist wie die Suche nach dem vollkommenen High. Was mache ich damit, wenn ich ihn gefunden habe? Einrahmen? Die Nachbarn einladen, damit sie einen Blick drauf werfen? Man kann ihn ja nicht mal beschreiben. Im Vergleich zu Sex ist Schmerz leicht zu beschreiben: Das Miststück hat mir das Herz gebrochen. Damit kann man was anfangen, es sagt was aus. Aber Leidenschaft? Nein, Leidenschaft ist mitreißend und lässt sich doch nie fassen. Und trotzdem sind wir alle auf der Jagd nach dem vollkommenen, ultimativen, hirnzerfetzenden Kick. Aber was ist, wenn man ihn bereits hatte? Sagt man dann: ›Tut mir leid, Schätzchen, lass uns ’nen Kaffee trinken gehen.‹? Natürlich nicht. Oder was ist, wenn es nur schlechter wird oder immer dasselbe ist? Daran denkt nie jemand. Wir sind alle bloß emotionale Masochistinnen auf der Suche nach dem nächsten Höhepunkt, bestimmt ist der nächste besser als der letzte, selbst wenn er es nicht ist, nicht sein kann. Und jede Frau ist davon überzeugt, der nächste wird es sein oder der übernächste; wir müssen ihn nur finden. Was ich gern wüsste: Was ändert sich denn, wenn wir ihn gefunden haben?«

Sie geht zum Fenster und wieder zurück und wühlt dabei in den Taschen von Jinx’ abgetragener Lederjacke – die mit dem kaputten Reißverschluss, den Jinx immer reparieren wollte, die Jacke, die sie ganz hinten im Garderobenschrank zurückgelassen hat (Phoenix hatte vor Freude geweint, als sie sie eines Abends fand). Sie zieht eine Zigarette hervor, die Letzte aus einem zerknitterten Päckchen, glättet das weiße Papier, steckt sie dann langsam wieder zurück, zieht die Jacke aus und legt sie sich um die Schultern wie einen inzwischen ausgefransten und verblichenen Lone-Star-Quilt ihrer Urgroßmutter. Auch die Jeans gehörten Jinx; einst waren sie zu eng, aber jetzt sind sie so weit, dass Phoenix sie ausziehen kann, ohne die Knöpfe zu öffnen. Früher hatte sie Jinx die Jeans mit den Zähnen aufgeknöpft. Hat keinen Sinn, jetzt daran zu denken. Später ist genug Zeit dafür, wenn der Schlaf nicht kommen will und der Friede so flüchtig ist wie Nebel.

Wer auch immer gesagt hat, dass einer Depression als Erstes das Erinnerungsvermögen zum Opfer fällt, liegt falsch. Das erste Opfer ist der Schlaf. Phoenix wacht jeden Morgen um drei Uhr siebzehn auf, als ob in ihrem Kopf ein Gong ertönt wäre. Drei Uhr siebzehn und vierundzwanzig Sekunden, nach der digitalen Anzeige des Radioweckers, den sie in der Nacht, als Jinx sie verließ, an die Wand geworfen hat. Dort ist jetzt eine große Delle. Die Uhr hat keine Sekunde darüber verloren. Nicht schlecht für vierzehn Dollar fünfundneunzig aus dem K-mart. »Als Mama anrief, machte ich gerade eine Liste für Mr. Rizzo mit all dem Plunder, den Jinx dagelassen hat und den sie meine Werte nennt.« Phoenix unterstreicht das Wort mit einer abrupten Geste. »Aber die Gesamtsumme meiner eigentlichen Werte umfasst meine College-Ausbildung und mein Lehrerdiplom, beides nicht viel wert, nach allem, was passiert ist; einen alten Jeep Cherokee, den mir die dritte Frau meines Vaters am Nachmittag seiner Beerdigung widerwillig überlassen hat – aber das ist schon in Ordnung, wir kannten uns nicht gut genug für ein neues Auto; zwei Ringen aus massivem Gold an meiner Möse, einer für Molly, die erste Frau, die ich wirklich geliebt habe, und der andere für Jinx, die letzte; und meine Hände, die echt phantastisch sind.« Sie zieht die Wörter in die Länge, fast zärtlich, und lächelt, damit Teddy Grayson es nicht missverstehen kann.

»Jinx hätte vielleicht noch die Tigerin dazugezählt, die sie mir auf den Bauch tätowiert hat. Sie hielt mich immer für ihr Meisterwerk. Einige der berühmtesten Lesben der Welt tragen Tattoos von ihr, aber ihre Geliebten – Ex-Geliebten, sollte ich wohl sagen – wir haben die besten. Wir könnten gemeinsam eine Ausstellung machen. Das würde dem Lehrerverband den Rest geben, oder? Aber ich halte die Tigerin eigentlich nicht für einen Wert; meistens ist sie einfach nur da, wie meine siebenundzwanzig grauen Haare und meine elf Falten und meine Hängetitten. Das Leben zeichnet die Überlebenden. Ich weiß das, weil ich überlebt habe; das ist das einzige, was ich wirklich gut kann. Wie auch immer, Jinx hat mir ein Kunstwerk hinterlassen, das ich nicht loswerden kann, und außerdem einen Haufen Sperrmüll. Ich beschwere mich gar nicht, aber so war’s. Sie hat mir das Bett hinterlassen; sie meinte, sie wolle ganz neu anfangen. Vermutlich kann man mit einem alten Sofa neu anfangen, aber nicht mit einem alten Bett.«

Vom Fenster aus beobachtet sie, wie der Irrsinn durch die Straßen stolpert, in Gestalt eines Mannes, Gesicht und Handflächen himmelwärts gerichtet. Er brabbelt in einer Sprache vor sich hin, die nur er versteht. Er ist auf der Suche nach Gott; Gott kann ihn hier nicht finden. In seine Hände fallen Quarter, aber keine Gnade. Niemand sieht ihm in die Augen, fragt, wie er auf dieses graue Feld geraten ist, auf dem nur Glas und Stahl und Beton wachsen. Er sackt in einem Hauseingang an der Ecke zusammen, wo die Blinde Gitarre spielt. Sie flicht sich Rosen, rosa und rot und lavendelfarben, ins Haar. Ihre Kleidung besteht aus luftigen Regenbögen, die sich im Wind bauschen, der ungebärdig über Beton und Asphalt fährt. Sie singt schlichte Liebeslieder in einem sanften Sopran, der eines Chors süßer Engelsstimmen würdig wäre. Ihre Finger sind kräftig, mit Schwielen von den Gitarrensaiten. Sie singt die Lieder, die sie selbst gern hören möchte. Männer in Nadelstreifenanzügen und Frauen mit Aktentaschen – für Babys ist im Innenstadtgedränge am späten Nachmittag kein Platz – gehen vorbei und werfen Quarter und oft auch ganze Dollar in ihren Korb, der mit rosa und roten und lavendelfarbenen und gelben Bändern geschmückt ist. Dem alten Mann gibt niemand Dollar. Er kommt ihnen gefährlich vor – brabbelt und brabbelt und flucht manchmal auf Dämonen, die nur er sieht. Die Männer in Nadelstreifenanzügen und die Frauen mit Aktentaschen sehen keine Dämonen. Die blinde Sängerin sieht überhaupt nichts.

»Mindestens tausendmal am Tag frage ich mich, was schiefgelaufen ist. Wie konnte Jinx nur nach Sonoma County abhauen, zu dieser … Wie heißt sie gleich noch mal? Polly? Patty? So ähnlich jedenfalls. Nein, Perry, das war’s. Was für ein Tattoo Jinx ihr wohl verpasst? Das tun wir doch alle, oder? Unsere Geliebten zeichnen. Manche vielleicht nicht, die Glücklichen. Manche Frauen haben Glück in der Liebe. Ich weiß nicht. Mir ist es nicht gegeben. Mama hatte auch kein Glück damit, auch Gran Cicero und selbst TaTa Hassee nicht. Und die Bilanz meiner Schwester ist noch schlechter als meine, wenn man berücksichtigt, dass ich lesbisch bin, was vermutlich auf drei Geliebte pro Ehemann hinausläuft. Zumindest war das früher so.

Neuerdings ist meine Schwester vollkommen, dank Floyd, ihres neuen Ehemannes. Er hat mehr Geld als Gott, dank der Schweinebäuche – er ist ein genialer Händler –, und sieht aus wie der Nikolaus. Merkwürdige Kombination. Mama findet, dass Savannah eine gute Partie gemacht hat. Sie ist die Erste in unserer Familie, und sie hat nur drei Anläufe gebraucht. Ich bin leider eher wie Gran Cicero. Sie hat auch keine gute Partie gemacht, aber sie war die erste echte Verrückte und erfolglose Selbstmörderin. Die Behörden haben sie eingewiesen, nachdem sie versucht hatte, sich in der Scheune zu erhängen. Zweimal. Schade, dass sie’s nicht geschafft hat. Aber ich denke nicht an Selbstmord, ich hab gar nicht die Energie dazu.«

Phoenix Bay war zehn, als sie zum ersten Mal versuchte, sich umzubringen. Sie wand sich den rosa Seidenschal ihrer Mutter, der nach billigem Parfüm und Regen roch, um den Hals und zog die Enden in entgegengesetzte Richtungen. Zog, bis das Zimmer um sie herum anfing, sich zu drehen, bis das Lampenlicht über ihrem Bett ihr kleine Kristalle durch die Augen schoss und sie zu schweben begann, der Druck auf ihrer Kehle ein dumpfer Schmerz, der zarte Duft ihrer Mutter wiegte sie der Ewigkeit entgegen. Sie wusste nicht, dass sie nicht mehr würde ziehen können, wenn sie das Bewusstsein verloren hatte. Als sie wieder zu sich kam, weinte sie, weil sie noch lebte, weil niemand sie gefunden hatte. Sie hatte nie jemandem davon erzählt. Mit siebzehn las sie in ihrem Biologiebuch, dass Luft, in eine Vene injiziert, tödlich ist. Eine Bekannte, die in einem Pflegeheim arbeitete, beschaffte ihr eine gebrauchte Spritze. Die Nadel glitt leicht in ihren Arm, der Schmerz kam langsam und gleichmäßig, als Phoenix auf die Vene traf. Sie war ganz blau. Dann drückte sie den Kolben hinunter und wartete auf Frieden. Aber Phoenix konnte nicht mit Nadeln umgehen und stieß sie durch die Vene hindurch. Eine Woche lang hatte sie einen faustgroßen blauen Fleck. Niemand fragte, woher. Im College nahm sie Tabletten: rosa und schwarze und winzige weiße, die sie mit billigem Wein hinunterspülte. Daran hätte sie sterben können, erklärte ihr die junge Ärztin, die ihr den Magen auspumpte. Sie stieg auf Southern Comfort um. Mit zweiundzwanzig ließ sie in einer kalten, leeren Nacht das Lenkrad los, während ihr Wagen eine kurvenreiche Strecke zu einer Brücke über den Mississippi hinunterraste. Das Auto prallte an das Brückengeländer und drehte sich einmal, zweimal, dreimal um die eigene Achse. Das erzählte sie dem Streifenpolizisten, der sie auf dem Geländer sitzend fand. Der Wagen war mehrmals dagegengeprallt, während er auf die Brücke schleuderte, aber nicht durchgebrochen, nicht hinuntergestürzt. Danach hatte sie aufgehört zu zählen.

»Meine Mutter ist eine selbsternannte Kapazität für verrückte Frauen. So, wie sie aufgewachsen ist, hält sie alles, was keinen Schaum vorm Mund hat, für normal. Wenn du nicht mit Leuten sprichst, die sonst niemand sieht, oder mittags splitternackt durch die Stadt spazierst oder um Mitternacht aus dem Fenster kletterst und auf dem Dach sitzt, bist du normal. Ich habe mich nie getraut, ihr zu erzählen, dass ich all diese Dinge tue oder getan habe. Das mit dem Nacktsein war für Jinx.«

Sie trug nur einen Trenchcoat für acht Dollar von der Heilsarmee und schwarze Lackpumps mit Pfennigabsätzen und spürte, wie das ausgefranste Mantelfutter langsam wie mit zarten Fingerspitzen die Rückseite ihrer nackten Schenkel kitzelte, als sie eines Nachmittags die Folsom Street entlangging. Jinx wartete im Hinterzimmer einer Schwulenbar auf sie, wo sie Billard spielte und lachte – sie lachte selten. Als Phoenix kam, unterbrach sie das Spiel und winkte sie mit einem breiter werdenden Lächeln heran. Mit der Queuespitze schob sie den Mantel auf und ließ das glatte, polierte Holz an den Innenseiten von Phoenix’ Schenkeln entlanggleiten. Langsam. Phoenix zitterte, wich jedoch nicht zurück, selbst als Jinx den Mantel beiseite schob, um die Tigerin zu entblößen, die durch den geheimen Dschungel von Phoenix’ Bauch streifte. »Mein Meisterwerk«, sagte sie zu dem Mann, der Phoenix am nächsten stand und näher trat, um die Lianen zu betrachten, die sich um ihre Schenkel wanden, die Amaryllis und den Hibiskus und die Orchideen an ihren Flanken, die grünen Augen der Tigerin. »Orchideen sind die erotischsten Blumen überhaupt; sie hat mich extra darum gebeten, weil sie sie an Mösen erinnern.« Jinx’ Stimme war leise und gelassen; sie war ganz die Künstlerin, die ein Werk enthüllte, einen Auftrag einholte. Da wurde Phoenix rot und konnte weder den Mann noch Jinx ansehen. Die anderen lachten, vielleicht über sie, vielleicht auch nicht. Die Musik war so laut, dass der Boden bebte, und es war erst Mittag. Später erzählte Jinx ihr, dass der Mann ein Tattoo wollte, ein großes, dank Phoenix. An diesem Nachmittag hatte sie Jinx nicht enttäuscht; die Enttäuschung kam später.

»Verflucht soll sie sein, weil sie mich verlassen hat! Weil sie ihren Duft und ihre Haut, ihren Geschmack und mein Bedürfnis nach ihr, die Lügen und auch die Leidenschaft mitgenommen und mich nackt zurückgelassen hat … und allein … und so voller Angst. Ich kann … mein wahres Leben … nicht ertragen.« Ihre Stimme ist zu einem Flüstern herabgesunken. Die Psychiaterin nickt; ihre Finger bilden eine kleine Pyramide, wie bei einem Fingerspiel von Kindern. Dies ist das Haus, das ist der Schornstein, die Tür geht auf, und da drin ist die Familie … Das Haus in Phoenix Bays Kindheit war schlicht, mit Schindeln verkleidet und einer breiten Vorderveranda; das einzig architektonisch Bemerkenswerte war ein kleiner Wintergarten am vorderen Schlafzimmer, das Villanova gehörte. In den Sommernächten flimmerten Glühwürmchen wie winzige Sterne im Garten, und Phoenix wirbelte in ihrem weißen Baumwollnachthemd über den Rasen vorm Haus, eine Ballerina auf der Bühne. Peggy Lee sang den Mond vom Himmel, kratzig und ein bisschen verzerrt auf Savannahs altem Plattenspieler. Im Nachbarhaus steckte Tollie Pengrove den Kopf durch die Fliegentür: »Stell das verdammte Ding leiser, sonst hol ich die Bullen!« Villanova wandte dem Haus der Pengroves den Rücken zu und wackelte mit ihrem wohlgerundeten Hintern. »Miststück!« Dann schlug Tollie Pengrove die Tür zu, egal, wie heiß es war, und es war immer heiß. Doch spät abends, wenn Phoenix schon im Bett lag, hörte sie ihre Mutter und Mrs. Pengrove. Bourbon und Eistee in großen Senfgläsern voller Eiswürfel, die durch die Nacht klirrten, Villanova und Tollie lachten, und Peggy Lee wollte immer noch wissen, ob das wirklich alles war, »Is that all there is?«. Tollie Pengrove meinte, sie habe nie einen Tropfen Alkohol getrunken, bis ihr Mann sie verließ. Villanova sagte, das sei Grund genug. Tollie meinte, es sei nicht gerecht, dass ihr Mann sie wegen der Sekretärin des Pfarrers verlassen habe, die fett war und drei Kinder hatte. Mrs. Pengrove war dünn, modisch und kinderlos. Villanova sagte, das Leben sei ungerecht. Peggy Lee riet ihnen, weiterzutanzen.

 

Erst lange nachdem sie das Haus in der Carbon Street verlassen hatte, begriff Phoenix Bay, dass ihre Kindheit selbst für Süd-Illinois sonderbar gewesen war, wo das Einkommen vom launischen Sommerregen abhing und von der Zahl der Monate, die bis zum Ende des Minenarbeitertarifvertrags blieben. Gott war in Seinem Himmel, das Footballteam spielte freitags abends im Stadion der High-School, die Mitglieder des Veteranenvereins führten die Paraden zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli an, und die Sträflinge saßen im Staatsgefängnis im Wald hinter Gittern. Mädchen erblühten wie gepflegte Rosen, warteten auf eine Hochzeit im Juni, warteten auf Babys, warteten darauf, dass die Babys in die Schule kamen, und dann warteten sie darauf, dass alles von vorn anfing. Und wenn dein Mann dafür sorgte, dass du ein paar Worte, ein paar Zähne oder deinen Stolz hinunterschlucken musstest, hast du dir einen anderen gesucht, der nicht so viel trank, dessen Hand nicht so locker saß und der dich in stillen, heißen Sommernächten »Schätzchen« nannte. Es gab immer einen anderen und sogar noch einen danach. Das war die natürliche Ordnung der Dinge, außer für die Bayless-Frauen.

Von TaTa Hassee, Gran Cicero und Villanova redeten die Leute immer nur in verächtlichem Ton. Jede einzelne Bayless-Frau hatte ihren Kerl rausgeschmissen und sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu ersetzen. TaTa Hassees Mann war in der Sattelkammer gestorben, wo er schlafen musste, wenn er betrunken war, und er war oft betrunken gewesen. Manche meinten, es wäre eine unbehandelte Lungenentzündung gewesen, andere sprachen von Unterkühlung; alle waren sich einig, dass es eine verdammt kalte Nacht gewesen war. TaTa Hassee meinte, es wäre nicht ihre Schuld gewesen; sie hatte geglaubt, dass Whiskey bei einem Mann wie Frostschutz in einem Kühler wirkte. Sie scherte sich nicht groß darum, dass sie sich geirrt hatte. Als die junge Cicero am nächsten Morgen melken ging, fand sie ihren Vater tot unter einer Pferdedecke. Weil in ihrem Hirn schon der eine oder andere Kurzschluss passiert war, molk sie erst zu Ende, sammelte die Eier ein und ließ die Pferde auf die Weide, bevor sie Bescheid sagte. Zwölf Jahre später diagnostizierten die Psychiater in der Landesklinik paranoide Schizophrenie. Aber das war lange nachdem Cicero ihren Cousin Amarillo, auch ein Bayless, geheiratet und nicht ganz so lange nachdem sie Nantucket und Villanova geboren hatte. Und nur wenig später brach eines Nachts ein großer Felsbrocken von einem Kohleflöz ab und spaltete Amarillo den Schädel; die Männer, die dabei waren, schworen, dass sie sein Gehirn gesehen hätten. Er brauchte siebzehn Tage zum Sterben. Die letzten Worte von Cicero Bayless, die nicht der Krankheit zuzuschreiben waren, lauteten: »Meine Güte, du hast mein Leben und TaTas Kopfkissenbezug ruiniert.« Dann ging sie hinaus und versuchte sich in der Scheune zu erhängen, was ihr noch verziehen worden wäre, wenn sie es nicht ein Jahr später noch einmal versucht hätte. Der Sheriff brachte die beiden Mädchen bei TaTa Hassee unter und lieferte ihre Mama in der Irrenanstalt ab. Siebenundzwanzig Jahre später holte ihre jüngste Tochter sie über Weihnachten nach Hause und brachte sie nie wieder zurück.

Gran Cicero roch nach kaltem Rauch wegen der Zigarettenstummel, die sie immer in die Taschen stopfte, und nach den kleinen Erdnusstoffees, in denen Villanova immer das Thorazin versteckte. Cicero liebte Süßigkeiten und verabscheute das Thorazin, das sie so oft wie möglich einem der Hunde der Familie gab – große und unter diesen Umständen natürlich gutmütige Tiere, die den größten Teil ihres Hundelebens apathisch vor sich hin starrten. TaTa Hassee roch nach Lysol und Lavendel. Villanova Bayless roch nach billigem, parfümiertem Körperpuder, Bourbon und Regen. Phoenix Bay – von der zweiten Silbe ihres Nachnamens hat sie sich nach dem Collegeabschluss getrennt, weil sie gemeint hatte, das würde sie verändern – riecht nach Schweiß und salziger Luft. Sie bildet sich ein, ihnen ganz und gar nicht ähnlich zu sein.

 

Jetzt muss sie lernen, Zement in die Risse zu gießen, ihre Erinnerungen hinter sich zu lassen und auf ein Wunder zu warten, wie eine schweigende Nonne in der Zelle. Wunder geschehen, wenn man sie am wenigsten erwartet. Etwa wenn man Peggy Lee von einer verkratzten Platte »Is that all there is?« singen hört und sich weigert, sich davon in die Vergangenheit zurückzerren zu lassen. Zum ersten Mal. Oder wenn du schreiend aus dem Schlaf schreckst und weißt, dass das Schlimmste, was passieren kann, bereits passiert ist und es jetzt nur noch aufwärts gehen kann.

2

 

Der Große Highway spannt sich wie ein Gummiband zwischen dem Ozean und San Francisco, und obwohl er in Wirklichkeit nichts Großartiges hat, ja kaum ein richtiger Highway ist, fand Rennie Johnson Zufriedenheit, wenn nicht Glück in dem weißen, stuckverzierten Haus, das fünfzig Jahre zuvor mit Blick auf das Meer gebaut worden war. Damals ging das noch. Heute blickt das Haus, wie seine Nachbarn, auf einen hohen, gelegentlich auch grünen Erdwall. Er soll die Häuser vor der Flut schützen, die aber noch nie so weit hereingekommen ist; dafür haben nur die oberen Stockwerke noch freie Sicht aufs Meer. Die Häuser ducken sich wie viele an der Küste über ihre Garagen, so dass das Erdgeschoss gute dreieinhalb Meter über dem Gehweg liegt. Der Deich, auf den die vorderen Fenster wie mit großen Augen starren, ohne je zu blinzeln, lässt die Häuser fast unterirdisch wirken. Das seltsame Raumgefühl wird verstärkt durch Menschen, die ihre Hunde ausführen, joggen, walken oder Fahrrad fahren – alle sehen entschlossen aus, als ob sie einen wichtigen Termin hätten. Sie scheinen auf der Anhöhe entlangzugleiten, so dass den ganzen Tag über und sogar abends eine Parade körperloser Beine und Füße oben am Wohnzimmerfenster vorbeizieht. Wie Schießbudenfiguren, fand Carson.

Armer Carson, tot seit den Feiertagen. Armer Rennie, jetzt verwitwet. Verwitwert? Egal. Phoenix Bay drückt fest auf den Klingelknopf, der in das schmiedeeiserne Gitter am Fuße der Treppe aus grau-rosa Marmor eingelassen ist, und späht zum Haus hinauf. Kein Wunder, dass Carson das Haus so geliebt hat. Schmiedeeisen und Marmor und Buntglasfenster – einiges davon noch original, der Rest aus seinen Abbruchhäusern gerettet. Architekt zu sein hat Vorteile. Rennie und er hatten sich hier wohlgefühlt, waren vielleicht sogar glücklich gewesen, obwohl sich das schwer sagen lässt. Außenstehenden, die in die Wohnung in der Sanchez Street hineinspähten, waren sogar Jinx und sie glücklich erschienen, bis hin zum bitteren Ende. Alle Freundinnen hatten das geglaubt. Kleine Lügen. Zu der Zeit war das wichtig gewesen.

Durch die offene Tür am oberen Ende der Treppe, aus den Tiefen des Hauses, ertönt ein gleichförmiges, höher werdendes Heulen, als ob die Hölle selbst trauerte. Phoenix schaudert es. Rennies Musikgeschmack ist geradezu eklektisch. Andererseits ist vieles an ihm unvorhersehbar. Sein Gesicht, überwältigend schön, als sie sich im College kennenlernten, hat jene Weichheit und Anmut angenommen, die manchmal mit dem Alter kommt. Gut eins achtzig groß und ausgeprägt schlank, verkörpert er den Typ Mann, den Frauen als elegant und Männer als kultiviert beschreiben. Wahrscheinlich ist er beides, obwohl Phoenix ihn so nicht sieht, jedenfalls nicht sehr oft.

Gerade als sie erneut klingelt, erscheint oben an der Treppe ein hochgewachsener Schatten und verwandelt sich dann in einen finster blickenden Rennie. »Du bist zu früh. Ich habe nicht vor sechs mit dir gerechnet.« Es ist fast sieben Uhr. »Ich habe gearbeitet und die Klingel nicht gehört. Stehst du schon lange da?« Das Tor summt; die Stereoanlage kreischt wieder los. Phoenix steigt langsam die Treppe hinauf, die Schachtel mit ihrer Spitzenwäsche unter dem Arm, und schleift ihren Rucksack hinter sich her. Sie ist müde, und ihr Schlaf, wenn er denn kommt, ist unruhig. Wahrscheinlich ist es ihr mittlerweile anzusehen. Nicht dass sie es beurteilen könnte; Phoenix hat seit Monaten nicht in den Spiegel geblickt, aus Angst vor dem, was sie entdecken könnte.

»Seit einer Ewigkeit. Und ich bin nicht zu früh, sondern zu spät.« Sie schreit fast, um sich über dem Lärm verständlich zu machen.

Verblüfft sieht er auf sein Handgelenk, an dem sich Carsons Uhr befindet. »Ach ja? Tatsächlich. Also, das tut mir leid.« Seine Miene erhellt sich, als er einen trockenen, fast begeisterten Kuss neben ihren Mund platziert. Sie zuckt automatisch vor der Berührung zurück, und Rennie missversteht das und runzelt die Stirn. Wie erklärst du einem Mann, der ständig nach Signalen von Gesunden forscht, dass er nicht zu ihnen gehört, dass jede menschliche Berührung schmerzhaft ist? Vielleicht sind sie schon lange genug befreundet, dass er ihr verzeiht.

»Ich glaube, ich kriege eine Erkältung«, sagt sie. Sie hofft, dass er ihre Lüge glaubt, und schnieft zur Bekräftigung. Irgendetwas als gegeben vorauszusetzen ist gefährlich. Rennie nickt. Der Boden bebt. Eine maßgefertigte Stereoanlage im Wert von dreizehntausend Dollar, die in jeder denkbaren Ritze dieses Hauses installiert ist, entlässt schnatternde Dämonen aus den Ecken, von der Decke herunter, die Fußleisten entlang. »Was läuft denn da eigentlich?«

»Plague Mass.«

»Klingt höllisch.«

»Gefällt es dir nicht?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich meine das wörtlich. Höllisch eben. Wie ich glaube, dass die Hölle sich anhören würde.«

»Ich glaube, das soll es auch. Der Typ im Laden meinte, sie sollte … wütend machen, hat er wohl gesagt. Aber ich brauche eigentlich gar keine CD dafür.« Phoenix folgt ihm ins Wohnzimmer, wo er eine Fernbedienung zur Hand nimmt, und einen Augenblick später seufzt das Haus vor Schweigen. »Wusstest du, dass es in Norwegen tatsächlich eine Stadt gibt, die so heißt … oder war’s in Finnland? Jedenfalls am Polarkreis. Es ist eine echte Touristenattraktion, alle schicken Postkarten mit dem unvermeidlichen Text: Ich wünschte, du wärst hier.« Er grinst.

Phoenix lächelt. »Mir fallen da ein paar Leute ein, die das verdient hätten – besonders eine Person. Ich könnte ihr auch eine Fahrkarte schicken, einfach, ohne Rückfahrt. Was mag eine Fahrt zur Hölle kosten?«

»Wahrscheinlich mehr, als die Frau wert ist. Ich vermute, du kommst direkt von der Happy Hour mit der guten Frau Doktor Grayson. Hast du dich wieder einmal über die Unzulänglichkeiten von Jinx Sloan ausgelassen?«

»Nein«, sagt Phoenix, und die Heiterkeit verschwindet so schnell aus ihrem Gesicht, wie sie einen Augenblick zuvor gekommen ist. »Über meine eigenen.«

Ein schwaches Stirnrunzeln zeigt sich auf seinem Gesicht und verfliegt sofort wieder. »Schade. Du solltest endlich darüber hinwegkommen, Phoenix. Sie ist der Bösewicht in diesem kleinen Melodram. Begreif das doch endlich. Oder wie mein Vater immer gesagt hat: ›Das Pferd ist tot, Mädchen, steig ab!‹ Natürlich hätte er nicht ›Mädchen‹ gesagt. Na ja, vielleicht doch. Manny konnte ganz schön gemein sein.« Er neckt sie, will sie wieder zum Lächeln bringen. »Möchtest du was anderes hören? Was Aufmunterndes?«

»Können wir die Musik nicht einfach aus lassen? Ich meine, im Moment.« Ihre Stimme fleht, den Tränen nahe, und als er das hört, sieht Rennie sie forschend an. »Sie macht mich nervös … Weckt Erinnerungen. Unwillkommene. Manchmal. Verstehst du?« Er nickt. Die Krankheit hat auch ihn vorsichtig gemacht.

»Klingt so, als ob Teddys Glückspillen es nicht mehr bringen.«

Phoenix lehnt in der Tür, die Hände fest an den Rahmen gestemmt, als wappne sie sich für ein Erdbeben. Sie erwidert seinen Blick nicht. »Manchmal scheinen sie überhaupt nicht zu wirken.«

»Meine auch nicht.« Er meint das AZT. »Aber ich denke mir, was soll’s, wie schlimm kann’s schon noch werden? Die Gefahr besteht natürlich, dass das Schicksal, wenn es gerade zuhört, es dir dann zeigen will.« Ihr wird klar, dass er an Carson denkt.

»Sieht so aus, als würdest du gerade rechtzeitig nach Mexiko fahren«, sagt sie, wechselt das Thema. »Du bist blass wie ein Geist.« Unglückliche Wortwahl, wo Carson doch gerade erst zum Geist geworden ist, aber Rennie lässt es kommentarlos durchgehen. Er schiebt eine Strähne schwarzer Locken zurück, die an den Schläfen langsam grau werden, steigt über drei Koffer, die wie Wachtposten neben der Tür aufgereiht stehen, und nimmt Phoenix die Schachtel mit der Spitzenunterwäsche und Jinx’ alten Liebesbriefen ab. Die Briefe zu behalten erschien ihr heute Nachmittag sinnvoll. Jetzt ist sie nicht mehr so sicher.

Rennie schwingt sich den Rucksack über die Schulter und geht in Richtung Flur, hält inne, dreht sich um und scheint überrascht, dass sie ihm folgt. »Warum holst du nicht dein restliches Zeug? Das hier schaffe ich schon.«

»Das ist alles«, gesteht sie und hat plötzlich ein schlechtes Gewissen. »Außer den Pflanzen. Lohnt nicht, die hochzutragen. Ich lade sie aus, wenn ich den Jeep in die Garage stelle.«

»Aber, Phoenix … Wo sind denn all deine Sachen? Deine Kleidung? Oder sollte ich lieber nicht fragen?« Er mustert sie eingehend, sucht nach Anzeichen von Verrücktheit, vermutet sie. Wie viele Taschen und Kisten sind erforderlich, um den Beweis geistiger Gesundheit zu erbringen? Sie weiß es nicht.

Phoenix zuckt die Schultern. Lügen ist sinnlos. »Du kannst ruhig fragen. Ich hab sie verkauft.«

»Alles?« Er hebt erstaunt die Augenbrauen.

Sie nickt eifrig. »Weg. Verkauft. Kleidung aus dem Schrank, Bilder von der Wand. Mr. Rizzo hat mir achthundert Dollar dafür gegeben. Willst du sie sehen?«

Er schüttelt traurig den Kopf und geht die Wendeltreppe zum ersten Stock hinauf. Auf halber Höhe hält er inne und blickt auf sie hinunter. »Möchtest du mir erzählen, warum du das gemacht hast? Sogar die Kleidung?«

»Ist das wichtig?« Sie sieht in seine braunen Augen, die vergrößert sind durch die dicke Brille, die er auf Reisen trägt. Sie verleiht ihm einen Ausdruck ständigen Erstaunens. Wie kann Phoenix ihm erklären, dass die Kleider wie lose Haut waren, dass die Möbel einer Frau gehörten, die sie inzwischen bedauert oder sogar hasst, dass die Bilder an den Wänden, das Geschirr in den Schränken, alles, alles einer Fremden gehörte, und diese Fremde ist sie selbst. »Du bist überrascht.«

»Nein.« Sein Ton ist trocken, nicht entnervt, nicht gleichgültig, nur müde. »Nichts von dem, was du in letzter Zeit getan hast, überrascht mich. Ich wünsche mir nur um deinetwillen, dass du darüber hinwegkommst und sich die Dinge wieder normalisieren.«

Außenstehende vermuten, dass das ein Dauerzustand ist, wenn du kurz vorm Durchdrehen bist, wie Blindheit oder Taubheit oder irgendeine andere nicht tödliche, aber ungemein hinderliche Heimsuchung. Nur die Eingeweihten wissen, dass es kommt und geht, sich als vollkommene Gesundheit tarnt, je nach Situation. Jetzt zum Beispiel, und dafür zumindest ist sie dankbar. In besseren Zeiten wäre Haushüten ein Abenteuer, getarnt als Gefallen für einen alten Freund. Aber in besseren Zeiten hätte Phoenix ein Zuhause gehabt, in das sie hätte zurückkehren können, und Rennie würde nicht allein nach Mexiko fahren.

»Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht, allein hier zu sein, solange ich weg bin?« Rennie lässt den Rucksack und die Schachtel auf das Doppelbett fallen. Wie kann sie ihm erklären, dass sie nicht ausrasten und dieses wunderbare Zimmer anzünden wird, das so großzügig und offen ist, ausgestattet mit poliertem Holz und antikem Messing aus einer ausgeschlachteten Jacht? Dass sie seine Erinnerungen an Carson nicht zerstören wird? Carson Coles Spuren sind überall im Haus, aber am stärksten in diesem Raum, der das ganze Obergeschoss einnimmt. In so einem Haus könnte man leicht glücklich sein. Kein Wunder, dass Rennie es liebt. Sie öffnet die Tür zum vorderen Balkon und lässt den Abendwind hereinfegen. Kopfschüttelnd, als wolle sie diese Gedanken vertreiben, tritt sie hinaus und atmet tief ein. So nahe am Meer schmeckt man das Salz. Wenige hundert Meter entfernt grollt der Ozean. Tagsüber hat man fast ununterbrochenes Blau vor sich, vom Verkehr auf dem Highway und den Joggern auf dem Deich einmal abgesehen. Hier am Meer kann sie vielleicht endlich nachdenken.